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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Wolfgang E. J. Weber

Luthers bleiche Erben. Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts

Berlin/Boston 2017, De Gruyter Oldenbourg, VII, 234 Seiten mit 16 Abbildungen
Rezensiert von Andrea K. Thurnwald
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.04.2019

Im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 richtete sich der Blick der kirchengeschichtlich interessierten Öffentlichkeit fast ausschließlich auf die Person und die Zeit Martin Luthers, und dieses Interesse wurde mit einer Fülle von Publikationen bedient. Die Frage, wie es mit dem Protestantismus weiterging, wurde dabei eher selten gestellt und nur in summarischen Vergleichen zwischen damals und heute beantwortet. Umso dankenswerter ist es daher, dass der renommierte Augsburger Kulturhistoriker Wolfgang E. J. Weber sich in einer gründlichen Quellenanalyse der unmittelbar auf die Reformation folgenden Epoche widmet, die man stichwortartig als Konfessionalisierung, dann als Orthodoxie bezeichnet und mit den gegenläufigen Tendenzen von Pietismus und Frühaufklärung auslaufen lässt. Im Fokus des Werkes steht die lutherische Geistlichkeit, die sich als Prädikantenstand in Abgrenzung zum herkömmlichen Priestertum noch im Laufe des 16. Jahrhunderts bildet und die weitere Entwicklung des Luthertums in geistlicher und administrativer Beziehung bestimmt, selbst wesentlich geprägt durch die theologischen Fakultäten, an denen sie ausgebildet wird. Weber verkennt auch nicht den familiären Faktor, das heißt die Rolle des evangelischen Pfarrhauses (2) mit seinen Generationenketten von Geistlichen. Seine Darstellung des Pastorentums im 17. Jahrhundert stützt sich jedoch ausschließlich auf zeitgenössische Fachpublikationen programmatischen Charakters, in denen sich diese soziologischen Faktoren allenfalls spiegeln. Den etwas überraschenden Titel seines Buches ließ sich der Autor offensichtlich bei der Begegnung mit den in Öl gemalten Pastoren in alten kirchlichen Gebäuden einfallen: „Regelmäßig blickt ein blasses oder bleiches Männergesicht [...] mehr oder weniger streng, oft geradezu inquisitorisch, düster-melancholisch auf den Besucher herab.“ (6)

Ermöglicht wurde Webers Monographie durch ein Forschungsstipendium der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, das er nutzte, um eine staunenswerte Fülle von gedruckten Quellen zu erschließen, überwiegend für den Pastorenstand verfasste Schriften von Fachkollegen oder Professoren, gelegentlich auch kritische Darstellungen von Seiten der konfessionellen Gegner. Der Zeitrahmen der erfassten Quellen geht dabei deutlich über das 17. Jahrhundert hinaus und reicht von Luthers Tod 1546 bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Insgesamt handelt es sich um akademische Publikationen als Lehr- und Beratungsschriften für den Pfarrerstand, auch konfessionelle Polemik, daneben volkserzieherische Schriften, (Leichen-)Predigten und Gebete, kurz „berufsnahe, praxisbezogene Pastorenpublizistik“ (106). Sie werden – nach Themenkreisen zusammengefasst – in chronologischer Ordnung referiert, verglichen und eingeordnet. Die zahlreichen Anmerkungen ergänzen die barocken Titel, vervollständigen Zitate und führen weiter zur aktuellen Sekundärliteratur.

Fruchtbar und instruktiv wird die Quellensammlung durch die Anordnung in thematische Kapitel, die auch der historischen Entwicklung des Luthertums folgen, aber besonders die daraus resultierende Berufsproblematik des Pastorenstandes beleuchtet. Unter dem Stichwort „Aufbruch und Ernüchterung“ wird die Konsolidierung des Pfarrerberufs noch im 16. Jahrhundert beschrieben, jedenfalls die Theorie dazu. Diese findet sich in Pastorenspiegeln, wie dem „Hirtenbuch“ des Erasmus Sarcerius, dem „Pastor“ des Niels Hemmingsen und dem „Pastorale Lutheri“ des Conrad Porta, die zwischen 1559 und 1582 erstmals erschienen und teilweise bis ins 19. Jahrhundert immer wieder nachgedruckt wurden. Doch auch die kritischen Stimmen aus katholischen, calvinistischen und täuferischen Kreisen lässt Weber zu Wort kommen. Der latente Gegensatz zwischen dem Priestertum aller Gläubigen und der besonderen Berufung und Legitimierung eines Dieners am Wort und Verwalters der Sakramente bildet den Hintergrund.

Im folgenden Kapitel geht es um den Weg in den Pfarrerberuf in der nunmehr dritten Generation nach Luther. Die „legitima vocatio“, also die Berufung des Pastors, im Rahmen einer Dreiständelehre von Nährstand, (weltlichem) Wehrstand und (geistlichem) Lehrstand zu wirken, steht im Mittelpunkt des Denkens von Johann Gerhard (1582–1637), eines Jenenser Professors und führenden Theologen der lutherischen Orthodoxie. Diese Berufung kann nach seinem Verständnis unmittelbar durch Gott oder mittelbar durch die kirchliche (und weltliche) Obrigkeit ergehen. Der heftigste Widerstand gegen dieses legitimistische Denken kommt im Lauf des 17. Jahrhunderts aus dem Pietismus, doch auch der Missbrauch in der Praxis mit der Beschreitung „korruptive[r] Wege“ (40) ins Amt löst eine Fülle kritischer Publikationen aus.

Im dritten Teil gibt Weber einen Überblick über die Vielfalt der Pastorentätigkeit aus der Perspektive des 17. Jahrhunderts, wobei er dem schriftstellerisch außerordentlich fruchtbaren Rothenburger Pastor und Superintendenten Johann Ludwig Hartmann (1640–1680) als „Leitautor“ (56) folgt. Doch auch das pietistisch beeinflusste monumentale Handbuch „Museum Ministri Ecclesiae“ des Greifswalder Professors Johann Friedrich Mayer (1650–1712) kommt zu seinem Recht. (60)

Die folgenden Kapitel widmen sich Spezialproblemen, die jedoch die lutherischen Pastoren des 17. Jahrhunderts intensiv beschäftigten. Es beginnt mit dem „Kampf gegen Unzucht, Tanz und Eigennutz“, von Weber schon in der Überschrift als „Vergebliche Mühen“ klassifiziert (74). Zwar gilt den Lutheranern weiterhin der Zölibat beim konfessionellen Gegner als eine Hauptquelle der Unzucht, doch muss auch die gottgefällige Ehe des evangelischen Pfarrers durch strikte Reglementierungen gezähmt werden, wie unter anderem Johann Samuel Adami in seinem Traktat über die „Gott Wohlgefällige Priester-Frau“ (1699) lehrt. Eine Fülle von Schriften, beginnend mit Andreas Hoppenrods Abhandlung „Wider den Huren Teuffel“ (1565), schärft den Geistlichen darüber hinaus ein, gegen den als alarmierend dargestellten Sittenverfall in ihren Gemeinden zu kämpfen. Eine Zuspitzung erfährt der Kampf gegen die fleischliche Lust mit dem sakralisierten Eheverständnis des Pietismus. Als eine Quelle der Unzucht wird in den Traktaten besonders der Tanz gegeißelt, jedoch zählen lutherische Autoren – im Gegensatz zum Calvinismus – den Tanz letztlich doch zu den „Adiaphora“, unterscheiden also zwischen gottgefälligen und schändlichen Formen des Tanzes, ernten dafür aber wiederum Widerspruch von pietistischen Autoren. Weitere Laster, gegen die sich die Pastoren wenden sollen, sind Geiz und Wucher und das Streben nach Aufstieg mit unlauteren Mitteln. Dieses Anliegen führt zu komplexen Fragen, die um das Statusdenken und das wirtschaftliche Eigeninteresse der verschiedenen Stände kreisen und ganz unterschiedliche Antworten finden.

Mit dem Kapitel „Das Verstummen der Wachhunde“ berührt Weber das für das Luthertum zentrale Verhältnis zur Obrigkeit. Erstreckt sich das „Wächteramt“ und „Strafamt“ der Pastoren, also ihre Pflicht, Verfehlungen zu brandmarken, auch auf das Verhältnis zu den Herrschenden? Die Beratungsschriften des 16. und 17. Jahrhunderts beharren weitgehend auf dieser Pflicht, raten zwar zur Mäßigung, räumen aber auch ein Widerstandsrecht gegen ungerechtfertigte Absetzung ein. Im 18. Jahrhundert jedoch wendet sich unter anderem Christian Thomasius entschieden gegen das Strafamt der Geistlichkeit, gefolgt von Theologen und Juristen, die den Pastoren jede Einmischung in Staatsangelegenheiten untersagen. Schließlich entwickelt sich ein Wettstreit von Lutheranern und Calvinisten um die Frage, wer die treueren Untertanen erzieht.

Schon die Beratungsschriften des 16. Jahrhunderts verordnen den Pastoren eine systematische Selbstdisziplinierung in ihrem Berufs- und Privatleben. Zu den „psychischen Kosten“ dieses Zwanges zählt Weber die Gefahr der Depression, früher meist als Melancholie bezeichnet (126). Ratschläge zur Prävention und Therapie dieser „Pastorenkrankheit“ durchziehen die Handbücher und sind das Thema einschlägiger Publikationen. Sie können oft auch als Selbstzeugnisse gelesen werden. Einige Lehrbücher wollen daneben auch zur Therapie angefochtener Gemeindeglieder im Sinne einer „theologia paracletica“ befähigen (135). Das Kapitel schließt mit Schriften zum Umgang mit deviantem Verhalten von Geistlichen.

In einem weiteren Abschnitt werden die Quellen zur materiellen Absicherung der Geistlichkeit befragt. Sie unterstreichen das Anrecht der Pfarrer auf eine standesgemäße Besoldung anhand biblischer Zeugnisse und historischer Belege und warnen die Obrigkeit vor einer Vernachlässigung dieser Pflicht. Im Zeichen der Aufklärung, als die deutschen Fürsten den Pastorenstand fest in das politische System integrierten, wird die Besoldung ein Anliegen der Staatsräson, wie es besonders Christian Thomasius in seiner Dissertation von 1707 mit Nachdruck vertritt (159 ff.).

Das abschließende Kapitel „(Selbst-)Kritik und Krise“ zieht Literatur über die Missbräuche im Predigtamt heran. Hier ist von Pharisäern und Heuchlern, Eigennutz und Hoffart die Rede. Fundamentalkritik steht neben wohlmeinenden Besserungsversuchen. Eine kurze Bilanz fasst den Inhalt der einzelnen Kapitel zusammen.

Mit der vorliegenden Monographie hat Weber der Forschung einen hochzuschätzenden Dienst erwiesen. Durch die Vielzahl der erschlossenen Quellen, die nicht so leicht zugänglich sind und zu einem großen Teil nur in lateinischer Sprache vorliegen, bietet sie eine breite Grundlage, auf der die kirchengeschichtliche und praktisch-theologische Forschung weiter aufbauen kann.

Eine Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit, wie es der Untertitel verspricht, darf man freilich nur nach Maßgabe des Quellenmaterials erwarten, also der akademischen Publikationen, die Weber untersucht. Weitere kulturgeschichtlich-soziologische Zeugnisse, vor allem ungedruckte Materialien, wie Briefe, Tagebücher, Inventare von Pfarrhäusern, Kirchen- und Prozessakten, könnten den Blick weiten und die Realität hinter den normativen Vorstellungen und der gängigen Kritik sichtbar machen. Dies ist jedoch eine Herkulesaufgabe, die nur regional begrenzt zu bewältigen wäre. Das Studium individueller Biographien könnte darüber hinaus zeigen, was Geistliche im Rahmen ihres Berufes oder als Nebenbeschäftigung an Beiträgen zur Kultur ihrer Zeit geleistet haben, etwa in der Musik, der Dichtung und der Wissenschaft. Als Beispiel sei hier nur der Pfarrer und bis heute populäre Liederdichter Paul Gerhardt (1607–1676) genannt. Solche Forschungen würden das Bild der nur himmelwärts orientierten „bleichen“ Geistlichkeit sicher korrigieren und näher an Luther rücken, der die Erde bekanntlich auch nicht nur als „Jammertal“ gesehen hat.

Mit diesen Anmerkungen soll das Verdienst Webers aber keinesfalls geschmälert werden, das nicht nur in der Quellenerschließung, sondern auch in den souverän ausgezogenen Linien der historischen Entwicklung liegt. Das sorgfältig redigierte und oft auch dank der ausgewählten Zitate unterhaltend zu lesende Buch ist mit 16 Abbildungen von Titelblättern der benutzten Werke illustriert.