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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Sabrina Rutner

„Die deutsche Frau trägt ein deutsches Korsett!“ Werbeanzeigen im Hanauer Anzeiger während des Ersten Weltkriegs

(Erster Weltkrieg im Fokus 3), Münster 2018, LIT, 124 Seiten mit 67 Abbildungen
Rezensiert von Martin Beutelspacher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 06.05.2019

Der oft als erster totaler Krieg bezeichnete Erste Weltkrieg hat, und soweit stimmt diese Zuschreibung, alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Daher sind es auch scheinbar randständige Themen wie die Inserate im Hanauer Anzeiger wert, dass sie daraufhin betrachtet werden, wie sie sich in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Umständen verändert haben.

Der dynamisch wachsende Zeitungsmarkt hatte bis zum Ersten Weltkrieg für eine rasante Zunahme der Zeitungsanzeigen gesorgt. Sabrina Rutner hat die Veränderungen zwischen Dezember 1913 und März 1919 untersucht. „Diese betrafen sowohl das Anzeigenaufkommen, die beworbenen Produkte, die Werbestrategien und die Gestaltung der Inserate“ (12), beschreibt sie die vier von ihr bearbeiteten Untersuchungsfelder, wobei sie sich auf die wichtigsten Konsumgüter konzentriert, nämlich Textilien, Lebens- und Genussmittel sowie, als Sonderfall, Reklame für Saatgut.

Das Anzeigenvolumen nahm im Kriegsverlauf drastisch ab. Einerseits verringerte sich die Auflage der Zeitung, andererseits reduzierte sich die Seitenzahl unmittelbar nach Kriegsbeginn von 15 auf acht bis zehn Seiten und 1917 sogar noch weiter. Das Anzeigenvolumen halbierte sich, auch die Größe der einzelnen Anzeige ging stark zurück, ebenso die Anzahl der illustrierten Anzeigen.

Nach einem kurzen Überblick über die nicht vorgeplante Kriegswirtschaft, in der immer mehr Kriegs- und immer weniger Konsumgüter produziert wurden, die außerdem ab 1915 zunehmend nur noch auf Karten erhältlich waren, wendet sich Rutner dem Produktangebot im Hanauer Anzeiger zu.

Im ersten Kriegshalbjahr taucht eine neue Anzeigenart auf, nämlich die für Feldpostsendungen mit so genannten „Liebesgaben“ an die Soldaten an der Front. Die Annoncen für haltbare Lebensmittel sowie Wärme und Schutz vor Nässe spendende Kleidung gab es aber nur bis Anfang 1915. Ab Sommer 1915 verschwanden viele kriegswichtige Materialien aus der Werbung, ein Jahr später waren selbst Textilien nur noch gegen Bezugsscheine erhältlich, sodass in der zweiten Kriegshälfte „kaum noch Anzeigen“ (32) zu diesen veröffentlicht wurden, dafür aber zunehmend solche für Schnittmusterbogen, schwarze (Trauer-)Kleidung und Ersatzprodukte, die im Lebensmittelbereich bereits ab Ende 1914 aufgekommen waren. Man ersetzte Brot durch Zwieback, Fleisch durch Fisch oder Pferdefleisch, Kartoffeln durch Kohlrüben. Als Ersatzprodukte kamen auch Mehl-, Milch- oder Fettpulver auf den Markt.

Die Werbestrategien änderten sich in den Zeiten des Krieges. Das nationale Wir-Gefühl wurde anfänglich bemüht, wenn man Produkte für „unsere“ Soldaten bewarb (vgl. 36–39); den sachlichen Notwendigkeiten wurde Rechnung getragen, wenn man auf Qualitäten wie Haltbarkeit und Feldposttauglichkeit verwies. Bei den Textilien stand die gegen Kälte und Nässe isolierende Wirkung im Vordergrund sowie der Hinweis, dass sie „vorschriftsmäßig“ und fürs „Feld“ (43), also den Fronteinsatz, tauglich seien. „Heroisierende Begriffe“ (44) betteten diese Eignungsbehauptung ein, ebenso die Hinweise auf die deutsche Herkunft und damit implizit oder explizit auf hohe Qualität. Dabei war auch die Verfügbarkeit oder die Differenzierung „gegen Marken“ bzw. „ohne Marken“ (62) ein Argument, während die behauptete Langlebigkeit eher auf Produktknappheit und -verteuerung im Hintergrund verweist.

Die vielen Ersatzprodukte wurden ab 1917 mit sachlichen Qualitätsbehauptungen wie „preisgünstig“, „billig“, „dauerhaft“ oder „haltbar“ beworben. Mit Wortergänzungen wie „Krieg-“, „Kunst-“ oder „Ersatz-“ wurden Gleichwertigkeit und die vollwertige Substituierung des Originals behauptet, Reinheitsgrade wurden angegeben und eine Sprache der Superlative verwendet. Wie weit diese protzenden Behauptungen von der Wirklichkeit entfernt waren, bleibt unklar.

Grafisch hatten die Inserate vor dem Krieg viele Gestaltungselemente der Plakate übernommen. Im Lebensmittelbereich reduzierten sich im Krieg die Abbildungen auf Wurst, Fleisch und Fisch, die jedoch immer schlichter und kleiner wurden. Dazu kamen ab 1916 Saatgutanzeigen für Gemüse, das nun überall, auch in den Städten, angebaut wurde (vgl. 80 f.) und für das in märchenhafter Sprache ein Maximum an Ernte versprochen wurde. Irgendwelche Kriegs- und Militärmotivik beschränkte sich ausschließlich auf Feldpostsendungs- und Militärartikelinserate.

Bei der Tabakwerbung stand vor dem Krieg eine „verklärte Darstellung“ (84) höherer Gesellschaftsschichten als Konsumenten im Vordergrund, nun wurde für die Soldaten utilitaristisch Zufriedenheit und Entspannung mit dem Tabakgenuss verbunden, eine „friedliche Idylle“ (88) oder zumindest eine massive Verharmlosung des Geschehens als Hintergrund dargestellt.

Im Textilbereich der Herren-, Damen- und Kinderkonfektion wurde der Krieg ausgeblendet. Nach wie vor arbeitete man bei Gelegenheit der großen jahreszeitlichen oder persönlichen Feiern (Weihnachten, Ostern, Konfirmation, Kommunion etc.) mit entsprechenden Signets (Tannenzweige, Osterhasen etc.), ansonsten wurden „Sorglosigkeit, Wohlstand, Jugend, Schönheit und Gesundheit in der grafischen Gestaltung der Anzeigenwerbung gezielt eingesetzt“ (109). Nach 1917 kam das Argument der Einfachheit und Bequemlichkeit auf, möglicherweise aufgrund der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen und als Anpassung an das damit „sich verändernde Frauenbild“ (112).

Am Ende fasst Rutner die Ergebnisse noch einmal zusammen, belegt aber auch hier leider weder den Rückgang der Anzeigen noch der Illustrationen noch die schmalere Produktpalette mit handfesten Zahlen. Dass die Werbung „als Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft“ (117) gesehen werden kann, ist sicher nicht strittig, aber wo der Spiegel verzerrt, an welchen Stellen er blind und wo er gar zerbrochen ist, das fehlt als Hinweis. So bleibt unklar, was uns die Anzeigen sagen, wenn der Markt zunehmend zum Schwarzmarkt wird. Oder wieweit ein zunehmend regulierter und angebotsarmer Markt überhaupt noch Werbung benötigt.

Ebenso wenig wird diskutiert, ob die für die Illustrationen verwendeten teuren Klischees über längere Zeiträume eingesetzt worden sind und damit in ihrer Aussagekraft natürlich schwächeln. Und was bedeuten konstante Inseratgebühren (18) angesichts der starken Kriegsinflation? Und fehlte am Kriegsende wirklich wegen Papierknappheit der Platz für die ja oft ohnehin äußerst kleinen Illustrationen?

Insgesamt handelt es sich trotz dieser Einschränkungen um eine gut lesbare Arbeit mit kleineren Ungenauigkeiten im Militärbereich: Soldaten trugen keinen Rucksack, sondern einen Tornister (98) und hatten auf dem Kopf auch kein Barett, sondern die schirmlose Feldmütze, genannt „Krätzchen“ (100).

Am „Hanauer Anzeiger“ als Beispiel wird hier konkret mit einer überschaubaren Zahl von Anzeigen nachvollziehbar vorgeführt, wie sich die Konsumwerbung von 1914 bis 1918 in der deutschen Presse in ihren Charakteristika qualitativ verändert hat.