Aktuelle Rezensionen
Elke Schumann/Elisabeth Gülich/Gabriele Lucius-Hoene/Stefan Pfänder (Hg.)
Wiedererzählen. Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis
(Edition Kulturwissenschaft 50), Bielefeld 2015, transcript, 380 Seiten mit Abbildungen, TabellenRezensiert von Ingo Schneider
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 06.05.2019
Nahezu alles, was Menschen sich erzählen, erzählen sie mehrmals, also wieder und wieder. Obwohl Wiedererzählen so gesehen schlicht den Normalfall des Erzählens darstellt, fand das Phänomen aus der Perspektive der Erzählforschung überraschenderweise bisher wenig Beachtung. So gibt es etwa in der Enzyklopädie des Märchens kein einschlägiges Stichwort. Aber auch in einem erst kürzlich erschienenen, breit angelegten Handbuch des Erzählens sucht man vergeblich nach einem entsprechenden Artikel [1].
Der zur Besprechung vorliegende Sammelband stellt – zumindest in der deutschsprachigen Forschungslandschaft – einen ersten, wichtigen Schritt zur Schließung einer seit langem bestehenden Lücke dar. Er geht zurück auf ein Projekt mit dem Titel „Formen des Wiedererzählens. Konstanz und Variation aus sprachwissenschaftlicher und psychologischer Perspektive“. Die versammelten Beiträge erörtern eine ganze Reihe unterschiedlicher Facetten beziehungsweise Perspektiven der Thematik. Bei der zweifellos fundamentalen Bedeutung der kulturellen und sozialen Praxis des Wiedererzählens ist es allerdings schade, dass die AutorInnen fast ausschließlich – wie bereits der Projekttitel verrät – aus den beiden Disziplinen Sprachwissenschaft und Psychologie stammen. Beide Fächer haben ihr spezifisches Interesse am Thema (Wieder-)Erzählen und tragen wertvolle Erkenntnisse zu diesem bei. Während das erstgenannte das Phänomen vordringlich aus der Perspektive der Gesprächsanalyse betrachtet, interessiert sich das zweite vor allem für (Wieder-)Erzählungen als Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien traumatischer Erfahrungen. Eine breitere, interdisziplinäre Zusammenarbeit wäre aus der Sicht des Rezensenten wünschenswert gewesen, zumal sich auf dem hochkonjunkturellen Feld der Erzählforschung VertreterInnen zahlreicher Disziplinen tummeln, die zur Thematik mit Sicherheit Unterschiedliches beitragen könnten. Die internationale Erzählforschung in der Tradition der Volkskunde/Empirischen Kulturwissenschaft, nur für diese kann der Rezensent sprechen, muss sich allerdings selbst bei der Nase nehmen beziehungsweise die Frage gefallen lassen, weshalb sie das Format des Wiederzählens bislang nicht theoretisch erfasst hat. Der mögliche Einwand, dass ja beinahe alles Erzählen ein Wiedererzählen sei und Prozesse der Veränderung von Erzählstoffen in Studien zum lebendigen Erzählen immer wieder berücksichtigt worden wären, greift auf alle Fälle zu kurz, wie der vorliegende Band eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Wiedererzählen kann, das ist nicht verwunderlich, in sehr diversen Formen und Funktionen begegnen. In verschiedenen Kontexten kann es sehr unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen. Während es den ErzählerInnen in zwanglosen Alltagssituationen in gewissem Maße freisteht, was sie wann und wie wiedererzählen, gibt es auch Kontexte, in denen der Modus und die Detailtreue wiederholten Erzählens schicksalhafte Bedeutung erlangen kann, etwa in Asylverfahren oder vor Gericht. Sogenannte „shared stories“, innerhalb einer Gruppe bekannte Erzählungen, können zum einen bei wiederholtem Erzählen die Gruppenidentität stärken. Andererseits kann eine immer wieder erzählte individuelle Geschichte der persönlichen Identitätskonstruktion oder der narrativen Bewältigung eigener Erfahrungen dienen.
In der Einleitung formulieren die HerausgeberInnen ihre mit dem Projekt beziehungsweise dem daraus entstandenen Band verbundenen Absichten. Da es bislang wenig Daten und Studien zum Thema gibt, möchten sie vor allem einmal die Datenbasis erweitern und methodische Anregungen geben. Ein weiteres Anliegen ist das Aufzeigen von Querverbindungen zu Konzepten wie denen der Vorgeformtheit oder des Leitmotivs. Zudem soll die Rolle von Kontexteinflüssen untersucht werden: Inwieweit sind Änderungen in der Erzählweise direkt Folge von Kontexteinflüssen, übertragen sich dann aber gleichsam automatisch auf spätere Wiedererzählungen? Aber auch: Welche praktische Relevanz, welche realen Konsequenzen haben Wiedererzählungen?
Die Beiträge des Bandes sind unter drei Gesichtspunkten angeordnet. Ich möchte aus jedem davon einen Text etwas näher vorstellen. Das erste Kapitel „Formen, Strategien und Konzepte wiederholten Erzählens“ beginnt mit einem Text von Heike Knerich über „Konzepte der Vorgeformtheit und Wiedererzählen“. Am Beispiel von Gesprächen zwischen einem Arzt und einer an Panikattacken leidenden Patientin geht die Autorin der Frage nach, wie sehr sich ErzählerInnen beim Wiedererzählen an vorgeformten Mustern, Formen und Strukturen orientieren. Knerichs Interesse richtet sich vor allem auf das wechselseitige Verhältnis der Konzepte der Vorgeformtheit und des Wiedererzählens aus einer theoretisch-methodischen Perspektive. Die Autorin gelangt zu dem Ergebnis, dass beide zur begrifflichen Schärfung des jeweils anderen beitragen können. Die Patientin erscheint in erster Linie als Datenquelle. Als Mensch mit spezifischen Problemen wird sie dagegen kaum spürbar. Auch hätte man die konkrete Erzählsituation, das hierarchische Gefälle zwischen Arzt und Patientin und deren mögliche Auswirkungen auf die Erzählungen thematisieren können.
Das zweite Hauptkapitel steht unter der Überschrift „Bearbeitung biographischer Erfahrungen als Funktion des Wiederzählens“. In einem gemeinsam verfassten Beitrag loten Elisabeth Gülich und Gabriele Lucius-Hoene unter dem allgemeinen Titel „Veränderungen von Geschichten beim Erzählen“ das Potential interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen linguistischer Gesprächsanalyse und Psychologie beziehungsweise Psychotherapiewissenschaft am Beispiel narrativer Rekonstruktionen traumatischer Erfahrungen aus. Auch dieser Beitrag ist in erster Linie methodisch angelegt und arbeitet mit Erzählungen einer Patientin. In diesem Fall handelt es sich um eine unter einer ungeklärten Schmerzsymptomatik leidende siebzigjährige Frau, die sich zum Zeitpunkt der wiederholten Befragung in einer psychosomatischen Klinik aufhielt. Die Autorinnen gehen davon aus, dass sich weder zufällig noch beliebig ergebe, „was beim Wiedererzählen gleich bleibt und was sich verändert“ (136). Im Mittelpunkt der dreimal, jeweils unterschiedlichen Interviewerinnen erzählten Geschichte steht ein frühkindliches Schlüsselerlebnis der Frau: Wie sie als Kleinkind die Reaktion der Mutter auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges erlebte beziehungsweise sich heute daran erinnert. Wenig überraschend zeigen sich gewisse Abweichungen respektive Unterschiede im erzählenden Erinnern des Geschehens und vor allem in dessen nachträglicher Bewertung. Worauf diese zurückzuführen sind, vermag der Beitrag nicht eindeutig zu beantworten. So wird zwar erst in der zweiten und dritten Version die nachträgliche Deutung des traumatischen Erlebnisses als erstes Herausreißen aus der Welt des Kleinkinddaseins formuliert. Weshalb das so ist, bleibt unklar. Die Frau könnte bei der ersten Erzählung einfach nicht an eine Bewertung gedacht haben und erst durch die wiederholte Erzählaufforderung zu einer Einordnung ihrer Erinnerung animiert worden sein. Auch hier würde ich sagen: Kontext und das Subjekt der Erzählerin hätten mehr Aufmerksamkeit verdient.
Der dritte Abschnitt widmet sich dem „Wiedererzählen als alltagsweltliche[r] und instutionalisierte[r] Praxis“. Letztere finden wir vor allem in rechtlichen Kontexten, etwa in Gerichts- oder Asylverfahren. Dort hat sie mitunter einschneidende Konsequenzen für den Erzähler. Ein nicht nur in dieser Hinsicht lesenswerter Beitrag gilt unter dem Übertitel „...auf Basis welcher Ungereimtheiten und Widersprüche dem Vorbringen die Glaubwürdigkeit zu versagen war“ dem „Erzählen und Wiedererzählen im Asylverfahren“, so der Untertitel. Brigitta Busch behandelt darin die Geschichte eines tschetschenischen Asylbewerbers in Österreich, der aufgrund seiner voneinander abweichenden Aussagen im Rahmen seines Verfahrens nach Russland abgeschoben wurde, wo er sofort verhaftet und eingesperrt wurde. Obwohl wir nahezu täglich medial mit Meldungen zur Migrations- und Asylfrage konfrontiert sind, ist uns im Allgemeinen nicht bewusst, dass die Art und Weise, aber auch die Form des Wiedererzählens der jeweiligen individuellen Fluchtgeschichte ein, wenn nicht das entscheidende Kriterium in Asylverfahren darstellt. Die Autorin unterscheidet vier Gründe für die Ablehnung im Prozess der Befragungen beziehungsweise des Erzählens: den Vorwurf des gesteigerten, des abgeschwächten, des widersprüchlichen Vorbringens und schließlich auch einer zu weitgehenden Gleichheit der Erzählung. Somit kann es die/der AsylbewerberIn beinahe nur falsch machen. Die besten Aussichten haben Brigitta Busch zufolge Erzählungen, die inhaltlich gleich, aber formal variiert erzählt werden (320). Im Falle der Ablehnung des Antrags des tschetschenischen Asylbewerbers wurde der Vorwurf des gesteigerten Vorbringens zum Kriterium der Ablehnung. Der Betroffene hatte nicht bei der ersten, sondern erst bei späteren Befragungen angegeben, selbst Kämpfer gewesen zu sein. Auf die Frage, weshalb er dies nicht bereits bei der ersten Einvernahme angegeben habe, antwortete der Mann, er sei nicht so genau befragt worden. Es liegt auf der Hand, dass eine ganze Reihe von Faktoren die wiederholten Befragungen beziehungsweise das Wiedererzählen der Fluchtgeschichten sehr problematisch, also sehr schwer einschätzbar machen. Zum einen handelt es sich grundsätzlich um eine Machtsituation, in der die Befragten einem mehrfachen Stress ausgesetzt sind. Zum anderen liegen die Befragungen oft lange, mitunter Jahre auseinander. Dann werden die Erzählungen weitgehend dekontextualisiert und ohne die Fragen der Asylbehörde aufgezeichnet. Dabei hängt es natürlich entscheidend von den Fragen der Beamtin/des Beamten ab, was geantwortet wird. Dazu kommt, dass es sich immer um eine Situation der Mehrsprachigkeit handelt, also Dolmetscher mit unterschiedlichem Vorwissen beteiligt sind. Hier gab es auch schon Fälle, in denen russische Dolmetscher ganz bewusst die Erzählungen der AsylbewerberInnen falsch und zum Nachteil der/des Betroffenen übersetzten. Die Bewertungen der Behörde erfolgen dann grundsätzlich auf der Basis von Niederschriften, teilweise gar nur von Zusammenfassungen von RichterInnen. Dazu kommt noch, dass Beamte und AsylbewerberInnen aufgrund unterschiedlicher Kommunikationstraditionen oder ‑konventionen und Formen des Sprechens mitunter aneinander vorbeireden (328 f.). Kurz gesagt: Aus der Sicht der Erzählforschung stehen gravierende Bedenken hinter der Beurteilung der Migrationsgeschichten als Entscheidungskriterium im Rahmen von Asylverfahren. Damit verbunden ist eine Reihe von unhaltbaren Annahmen, etwa dass sich eine wahre von einer erfundenen Geschichte eindeutig unterscheiden ließe und dass eine wahre Geschichte in etwa immer gleich erzählt würde. Die Erzählforschung hätte hier zweifellos die Expertise, an einer Verbesserung der Verfahren mitzuwirken.
Gerade der letzte Beitrag zeigt, wie wichtig eine theoretische, methodische und praktische Beschäftigung mit der Kulturtechnik des Wiedererzählens ist. Den HerausgeberInnen und AutorInnen sei daher für ihre Initiative gedankt. Wünschenswert wäre auf der einen Seite – das wurde bereits gesagt – eine Forschung, die die ErzählerInnen nicht in erster Linie als Datenquellen, sondern als Menschen mit oft schweren traumatischen Erfahrungen betrachtet, also mit viel Respekt und Empathie. Wünschenswert und wichtig wäre aber auch, dass die Thematik disziplinär noch weiter ausgreift, das heißt auch von anderen mit der Erzählforschung befassten Disziplinen beforscht wird.
[1] Matías Martínez (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017.