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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Nicole Eller-Wildfeuer/Paul Rössler/Alfred Wildfeuer (Hg.)

Alpindeutsch. Einfluss und Verwendung des Deutschen im alpinen Raum

(Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 2017), Regensburg 2018, edition vulpes, 265 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig, Tabellen
Rezensiert von Hubert Klausmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 06.05.2019

Thema des vorliegenden Sammelbandes ist das Alpindeutsch, worunter die Herausgeber „eine Gruppe regionaler, situativer und funktionaler Varietäten“ (8) der deutschen Sprache im Alpenraum verstehen. Zu den bekanntesten regionalen Varietäten gehören die außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums gelegenen alemannischen (Beispiel: Gressoney, Alagna, Issime) und bairischen (Beispiel: Lusern, 13 Gemeinden) Sprachinseln in Norditalien.

Zu den ersten Forschern der bairischen Sprachinseln gehört Johann Andreas Schmeller, dessen Arbeiten Christian Ferstl würdigt. 1833 und 1844 führte Schmeller eine Reise zu den Zimbern durch und er erkannte, dass es sich bei den zimbrischen Sprachinseln um ein südbairisches Idiom handelte, das wegen seiner Lautstruktur die Sprachstufe um etwa 1200 wiedergab. Als Bibliothekar hatte er auch eine Erklärung für die Aussiedlung der bairischsprechenden Bevölkerung nach Norditalien gefunden, denn in einer Handschrift aus dem Kloster Benediktbeuren war zu lesen, dass in Bayern ab 1053 eine solche Hungersnot herrschte, dass viele leibeigene Familien des Klosters nach Verona auswanderten, wo sie vom dortigen Bischof auf den Bergen oberhalb der Stadt angesiedelt wurden. Dort bildeten sie die Sprachinseln der Dreizehn Gemeinden. Schließlich erstellte Schmeller in seiner Abhandlung „Über die sogenannten Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache“ eine erste Grammatik mit einer historisch-vergleichenden Methode, so dass man ihn mit Recht als „Pionier der Sprachinselforschung“ (33) bezeichnen kann. Im Übrigen hat Schmeller schon beobachtet, dass das Deutsche in der von ihm untersuchten Sprachinsel im Schwinden begriffen war. Dass er hierfür den Klerus mitschuldig machte, ist aus seinem Tagebuch ersichtlich: „An dieser Entdeutschung haben hauptsächlich die Seelenhirten gearbeitet. Wie Paolo Stengheli mir sagte, habe der Arciprete von Terragnuolo gar nicht mehr absolvieren wollen, wenn Einer nicht wälsch gebeichtet“ (zitiert nach Ferstl, 22).

In Schmellers Tradition steht Anthony Rowley, und zwar sowohl als Direktor des Bayerischen Wörterbuches als auch als Erforscher der bairischen Sprachinseln. Der Titel seines Beitrags „Fersentalerisch – der ‚verwitterte deutsche Stein‘“ bezieht sich auf einen Satz in Robert Musils Novelle „Grigia“, mit dem dort die Bewohner des Fersentals beschrieben werden, die „heute noch wie ein verwitterter deutscher Stein zwischen den Italienern“ (zitiert nach Rowley, 81) sitzen. Rowley gibt einen Überblick über die Landes- und Sprachgeschichte des Fersentals und er hält nach einigen Beobachtungen bezüglich Lautung, Wortform und Wortschatz fest, dass „im Fersental eine Sprachform mit allen Merkmalen des Tiroler Typus [entstanden ist], die aber trotzdem ganz etwas Eigenes, in dieser Form im Binnenland nicht Vorhandenes darstellt“ (87). Zu diesem besonderen Charakter haben nach Rowley auch die vielen Anleihen aus der romanischen Nachbarschaft beigetragen, die dazu führten, dass ein Südtiroler das Fersentalerische nur schwer versteht. Hinzu kommen weitere Besonderheiten wie etwa die Namen der drei letzten Monate im Jahr, die die Namen von kirchlichen Festtagen zu Beginn des Monats oder am Ende des Vormonats tragen: Sankt Michael „Oktober“, Allerheiligen „November“, Sankt Andreas „Dezember“. Rowley weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Andreastag und der Michaelstag wichtige Termine im Jahresablauf des bäuerlichen Lebens waren.

Ermenegildo Bidese, Andrea Padovan und Claudia Turolla konzentrieren sich in ihrem Aufsatz „Mehrsprachigkeit in den zimbrischen Sprachinseln“ auf die Syntax. Nach intensiver Untersuchung von drei Bereichen „wurden Hinweise auf innovative Strukturen gefunden, die womöglich von dem in diesen Gemeinschaften herrschenden Multilingualismus bedingt sind“ (158). Dabei liegt interessanterweise die Vermutung nahe, „dass es – anders als im Bereich des Lexikons – im Syntaktischen keine bloße Übertragung von Strukturen von einer Sprache in die andere gibt, sondern vielmehr, dass die bestehende Syntax so innoviert wird, dass sich das Neue mit dem Alten vertragen kann“ (158). So ist dieser Aufsatz gleichzeitig auch ein Beitrag zur Theorie des Sprachwandels.

Ähnlich wie in den VII und XIII Gemeinden und dem Fersental ist die Sprach- und Siedlungsgeschichte in den drei bairischen Sprachinseln Sappada/Pladen, Sauris/Zahre, Timau/Tischelwang in Oberitalien verlaufen, die Ingeborg Geyer präsentiert. Diese drei Sprachinseln sind im Mittelalter vorwiegend von Osttirol, Westtirol und Oberkärnten, dem Herrschaftsgebiet der Grafen von Görz, besiedelt worden. Geyer gibt einen kurzen Überblick über die Kolonisierung, die politische, administrative und religiöse Zugehörigkeit und die wirtschaftliche Situation. Nachdem sie dargelegt hat, wie italienische „Überdachung“ und romanische „Nachbarschaftsdialekte“ die Sprache selbst, aber auch ihre Anwendung verändert haben, stellt sie die Maßnahmen für Förderung und Sprachpflege in den einzelnen Sprachinseldialekten vor. Schon um 1900 habe die Italianisierung in Sappada begonnen, da hier mit dem aufblühenden Fremdenverkehr die Landwirtschaft früh aufgegeben und der Dienstleistungssektor dominierend wurde. Trotz der Bemühungen, Kinder in der Schule mit der alten Minderheitensprache vertraut zu machen, sieht es mit deren Zukunft nicht rosig aus, denn dies führt letztendlich lediglich zu einer passiven Kenntnis des Dialekts. Hingegen wird nach Ansicht der Verfasserin der Dialekt in Sauris „zum Teil als Familien- und Dorfsprache noch gepflegt“ (105) und auch in Timau scheinen verschiedene Bestrebungen im kulturell-schulischen Bereich Früchte zu tragen, so dass letztendlich der seit dem 19. Jahrhundert prognostizierte Sprachenwechsel noch nicht eingetreten ist, was Ingeborg Geyer wie folgt erklärt: „Dieser Verzögerungsprozess hält nun schon Jahrzehnte an und wird von einem ausgeprägten deutschen Kulturgefühl, das aber keinem nationalen entspricht, begleitet. Es ist durch die wissenschaftliche Befassung und die Sprachpflege begründet und durch die institutionelle Förderung gestärkt worden.“ (108)

Auch Sebastian Franz widmet sich in „Identität und Mehrsprachigkeit bei deutschbasierten Minderheitensprachen am Beispiel einer alpindeutschen Sprachsiedlung in den Karnischen Alpen“ den Verhältnissen in Sappada/Pladen, die zurzeit in einem Forschungsprojekt an der Universität Augsburg untersucht werden. Er weist darauf hin, dass in Pladen die Deutschsprachigen prinzipiell zweisprachig sind und die Sprachenwahl am Kommunikationspartner ausgerichtet wird: Italienisch mit Italienischsprechenden, Plodarisch mit Einheimischen, von denen man weiß, dass sie es sprechen. Interessant ist, dass sich von Generation zu Generation nicht nur die Kenntnisse des Plodarischen verschlechtern, sondern dass sich auch die Auffassung, wer Plodarer oder Plodarerin ist, verändert hat. Während nämlich für die ältere Generation die Minderheitensprache noch ein wesentliches Element des Plodarseins bildete, spielt dies für die jüngere Generation keine große Rolle mehr. Wie Geyer stellt auch Franz aber immerhin positiv fest, dass das Plodarische seit zwei Jahrzehnten „wieder größeren Zuspruch – nicht zuletzt aufgrund von lokalen sprachlichen und kulturellen ‚Wiederbelebungs- und Stärkungsmaßnahmen‘“ (230) erfährt.

Teilweise vergleichbar mit den bairischen Sprachinseln, teilweise unterschiedlich ist die Situation der Walser. In ihrem Beitrag „Das Walserdeutsche im deutschen und italienischen Sprachgebiet“ geben Rembert Eufe und Anna Mader zunächst einen sehr schönen Überblick über die sprachlichen Besonderheiten der Walser auf allen Ebenen, bevor sie die Walserdialekte aus der Perspektive der Soziolinguistik vergleichen. Hier zeigen sich große Unterschiede. So befinden sich die Walser nach Oscar Eckhardt, den Eufe/Mader zitieren, zum Beispiel im Raum Chur heute nicht mehr in einer isolierten Lage, sodass es zu einem Sprachausgleich mit den benachbarten alemannischen Mundarten kommt. Ganz anders und damit den bairischen Sprachinseln ähnlich ist die Situation der Walser auf der Alpensüdseite. Erlernte dort vor 100 Jahren nur ein kleiner Teil der Walser das Italienische, so haben die Sprachpolitik des Faschismus, Emigration, wirtschaftlicher Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg und Öffnung für den Tourismus dazu geführt, dass das Walserdeutsche in Norditalien heute „nur noch von einer Minderheit im Alltag zusammen mit anderen, weiter verbreiteten und teilweise statushöheren Sprachformen verwendet [wird], nämlich dem Italienischen und piemontesischen oder lombardischen Dialekten, im Aostatal auch mit frankoprovenzalischen Dialekten und dem Französischen“ (131). Extrem sei die Situation in Pomatt, wo es offenbar nur noch eine Person unter 20 Jahren gibt, die das Walserdeutsche noch beherrscht. Im Gegensatz zu dieser Entwicklung zum Sprachtod habe das Walserdeutsche aber in letzter Zeit eine positive Bewertung erfahren. Nach Eufe/Mader, die sich hier auch auf die bekannten Walserforscher Silvia Dal Negro und Peter Zürrer beziehen, kommen der Minderheitensprache „eher symbolische Funktionen zu, sie dient vor allem der Bewahrung von Traditionen und der Bekräftigung und Verteidigung der eigenen Identität als der Deckung eines kommunikativen Bedarfs“ (134).

Neben der Beschreibung des Sprachzustands in den einzelnen Sprachinseln gibt es in diesem Sammelband auch Aufsätze, die bestimmten, für das Alpindeutsch typischen Textsorten nachgehen. So haben Noah Bubenhofer und Klaus Rothenhäusler typische Erzählelemente bei Bergtourenberichten wie das Höhenprofil (Startpunkt, Zwischenziel, Gipfel usw.), Motivierung („ist wohl einer der schönsten“; 45), Momente der Rechtfertigung („problemlos, so dass wir“; 47), Weglosigkeit („ist recht steil und rutschig“; 48), Gipfelglück („fantastische Sicht auf die majestätischen“; 50), verzögerte Rückkehr („bevor wir uns auf den“; 50) und Evaluation („alles in allem eine schöne“; 52) herausgearbeitet. Die Textbasis für ihren Beitrag „Die Aussicht ist grandios! – Korpuslinguistische Analyse narrativer Muster in Bergtourenberichten“ bildeten einerseits Tourenberichte der Online-Plattform Hikr.org, andererseits Bergsteigerberichte der Monatszeitschrift „Alpen“ des Schweizer Alpenclubs SAC von 1846 bis 2015. Die Berichte zeigen, wie sehr für die Schreibenden der Aufenthalt in den Bergen im Kontrast zum Alltag steht, was besonders bei der verzögerten Rückkehr zum Ausdruck kommt: „Auf der zeitlich zweiten Hälfte der Tour wurde ich dann durchgehend mit Sonnenschein verwöhnt, den ich am Ende der Tour auf der Selamatt mit Most und Blick in den Alpstein ausgiebig genoss, bevor ich mich auf die Weltreise zurück nach Zürich machte.“ (51) Von der Gesamtstruktur der Erzählungen her gesehen spielen allerdings die Toponyme die entscheidende Rolle: „Sie sind gleichsam das Gerüst, an dem sich die Erzählung entlanghangelt und ihre Struktur erzählt.“ (57) Es ist hierbei für die Verfasser erstaunlich, „dass die Berichte (im großen Ganzen) nicht freiere Erzählformen nutzen“ (57), wo es doch gar keine redaktionellen Zwänge auf der FAQ-Seite von Hikr.org gibt. Etwas mehr Freiheit haben Bubenhofer/Rothenhäusler bei den Tourenberichten der SAC-Jahrbücher festgestellt.

Die Textsorte Gipfelbuch nimmt Paul Rössler in seinem Beitrag „Sprache von oben – Zur Dimension der Höhe in der Varietätenlinguistik“ unter die Lupe und vergleicht sie mit dem Grußverhalten. Hierbei kommt er zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Dialektalität beim Gruß mit der Gebirgshöhe zunimmt, während sie beim Gipfelbuch abnimmt. Dort sind schriftliche Einträge nur in geringeren, leicht erreichbaren Höhen im Dialekt. In den Gipfelbüchern schwerer Gipfel herrscht hingegen der klare, standardsprachliche Stil vor.

Ein dritter Teil der Beiträge befasst sich mit einzelnen sprachlichen Phänomenen im Alpenraum. So weisen Wilhelm Oppenrieder und Maria Thurmair in „Der Kaufmann geht nimmer Bayreuth. Präpositionslose Direktionale im Tirolerischen“ nach, dass Sätze wie „Natürlich fahren wir Innsbruck“ im Tirolerischen mit bestimmten Regeln verbreitet und keinesfalls eine singuläre Erfindung des Kiezdeutschen („Heute muss isch wieder Solarium gehen“; 178) sind. Heinz-Dieter Pohl teilt in seinem Beitrag „Zum österreichischen Bergnamengut – Oronyme und typische Appelativa (unter besonderer Berücksichtigung des Südens)“ in Anlehnung an Eberhard Kranzmayer die Bergnamen in verschiedene Benennungsgruppen ein, die er jeweils mit zahlreichen Beispielen illustriert. So gehören zum Beispiel zur Gruppe „Lagenamen nach der Form“ so bekannte Bergnamen wie Bichel „Hügel“, Kofel „felsiger Gipfel“, Kogel „rundlicher Gipfel“, Kar „Gebirgskessel“ oder Gupf „Bergkuppe“. Besonders häufig in der Bergnamengebung vorkommende Appellativa werden auf 15 Seiten zusammengestellt. Dort erfahren wir, dass Balfen oder Balm einen Felszacken benennt, Gehren ein spitz zulaufendes Stück Land, der Kaser – das Wort kommt aus dem Romanischen – eine Sennhütte, Klapf eine Felsstufe im Gelände, Lahn eine Stein- oder Schneelawine, Maiß einen Holzschlag und Schachen ein allein stehendes Waldstück. Pohl weist in diesem Zusammenhang auf besondere Schwierigkeiten im romanisch-slawischen Übergangsgebiet hin, wo die Namen oft nicht eindeutig der einen oder anderen Sprachschicht zuzuordnen sind.

Ebenfalls mit Namen, in diesem Fall mit Kuhnamen an der Sprachgrenze des Deutschen zum Slowenischen, beschäftigt sich Michael Reichmayr in „Rinder ohne Grenzen. Ein kommentiertes Kuhnamenranking“. Als Grundlage hierfür dient ihm die Datenbank der Zentralen Arbeitsgemeinschaft österreichischer Rinderzüchter, die „insgesamt 16425 unterschiedliche Namenformen aus einem Zeitraum von 15 Jahren (1978–1992)“ (208) enthält. Angeführt wird die Liste der häufigsten Kuhnamen von Namen mit den Bestandteilen Alm- (Beispiel: Alma, Almrausch, Almrose), gefolgt von Bel(l)- (Beispiel: Bella, slowenisch Bélha), Sus- wie in Susi, Gams-, Sent- wie in Senta usw. Eine interessante, knappe Zusammenfassung gibt am Ende des Beitrags die Geschichte der Rinderzucht wieder, die nach Reichmayr in drei Entwicklungsphasen zu unterteilen ist, wobei die dritte Phase, in der wir uns heute befinden, erst vor circa 250 Jahren mit einer gezielten Züchtung eingesetzt hat und damit relativ jung ist.

Im letzten Beitrag des Sammelbandes „Was ist Wahrheit? Alpenländische Passionsspiele als Quelle des Alpindeutschen?“ macht sich Klaus Wolf für die Berücksichtigung von Passionsspielen wie dem Oberammergauer Passionsspiel als Quelle für Sprachwandeluntersuchungen stark. Die Passionsspiele könnten auf eine mehrhundertjährige Geschichte zurückblicken und zeigten verschiedenste Varietäten des Alpindeutschen, wobei sich „vor allem in der Neuzeit eine Abkehr von dialektnaher Schriftlichkeit hin zu einer an der Standardsprache orientierten Bühnendiktion nachweisen“ (263) lässt.

Der vorliegende Sammelband „Alpindeutsch“ versucht, Besonderheiten der deutschen Sprache im Alpenraum auf den verschiedenen Ebenen zu beschreiben. Gleichzeitig gibt er einen umfangreichen, vielfältigen und erfreulicherweise ganz aktuellen Überblick über die verschiedenen deutschsprachigen Minderheiten in Norditalien. Somit macht er aber auch darauf aufmerksam, dass das so wichtige „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“, herausgegeben von Robert Hinderling und Ludwig M. Eichinger (Tübingen 1996), dringend neu aufgelegt werden müsste.