Aktuelle Rezensionen
Carolin Ruther
Alltag mit Prothese. Zum Leben mit moderner Medizintechnologie nach einer Beinamputation
(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2018, transcript, 306 SeitenRezensiert von Elsbeth Bösl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 13.05.2019
Carolin Ruther wirft in ihrer Augsburger Dissertation einen spezifisch volkskundlichen Blick auf die gelebte Alltagsrealität von Menschen nach einer Unter- oder Oberschenkelamputation. Im Mittelpunkt steht das Alltagsleben mit einer oder mehreren Prothesen – und zwar jenseits von Cyborg-Phantasien, Human-Enhancement-Debatten und der Nutzeravantgarde des Spitzensports.
Circa 40000–60000 Unter- oder Oberschenkelamputationen werden jährlich in Deutschland durchgeführt und zwar, dies gleich vorweg, überwiegend an Personen, die das 60. Lebensjahr überschritten haben und an Gefäßkrankheiten oder Diabetes leiden. Ein großer Teil von ihnen wird mit Prothesen versorgt. Zu Ruthers Untersuchungsgruppe gehören freilich auch Personen jüngeren Alters, die Beinprothesen infolge von Unfällen nutzen.
Ruthers Zugang ist ethnografisch. Sie betont, dass sie nicht theoriegeleitet, sondern offen an ihren Gegenstand herantrat und sich einer Vielfalt an Methoden bediente. Ihr Fokus liegt auf den Usern, die Ruther durchgängig als Subjekte zum Sprechen kommen lässt.
Äußerst überzeugend integriert Ruther Impulse und Begriffe aus der Soziologie der Gesundheit/Körpersoziologie, der Medizinanthropologie, den Science and Technology Studies und der Geschichtswissenschaft. Ebenso breit aufgestellt ist ihre Quellenbasis: leitfadengestützte themenzentrierte Interviews mit den AnwenderInnen, fokussierte Interviews mit Orthopädietechnikern sowie Feldforschungen, die die Autorin in Selbsthilfegruppen von ProthesennutzerInnen, in einem Orthopädietechnikzentrum und in einer Rehabilitationsklinik durchgeführt hat. Dokumentiert hat sie diese in Feldnotizen, Protokollen und einem Forschungstagebuch. Hinzukamen einzelne gedruckte Quellen, Websites sowie insbesondere graue Literatur von Herstellerseite. Ausführlich, wie dies in einer publizierten Qualifikationsarbeit zu erwarten ist, geht Ruther eingangs auf ihre Interviewmethodik und auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung ein und legt ihren Feldzugang insgesamt und die Entstehungskontexte ihrer Daten dar. Sie stellt ihre eigene Rolle und ihr Auftreten als Forscherin vor und begründet die Auswahlentscheidungen, die sie mit dem Ziel einer möglichst großen Kontrastierung für die Einzelfalldarstellungen getroffen hat.
Die Kernperspektive des Buchs ist der Alltag, hier verstanden im phänomenologischen Sinne nach Hermann Bausinger als Netz der Selbstverständlichkeiten, des Eingeübten und des nicht mehr Hinterfragten, oft sogar Unbewussten, und der Routinen, die das Leben von Komplexität entlasten. Ruther geht es explizit nicht um die Alltagskultur der untersuchten bundesdeutschen Gegenwartsgesellschaft, sondern um die individuellen Alltage von Einzelpersonen. Sie blickt nicht, wie in den Disability Studies üblich, durch das Individuum auf die Gesellschaft oder benutzt Disability um etwas über die Verfasstheit der Gesellschaft an sich zu erfahren. Insofern ist ihre Untersuchung der Rehabilitationswissenschaft und der Medizinanthropologie näher als den Disability Studies, wenngleich sie keinen Interventionsanspruch verfolgt.
Ruther reizen der individuelle Alltag und die Arbeit daran. Dieser individuelle Alltag, so Ruthers Prämisse – und dies bestätigt sich auch in ihrer Empirie –, wird von einer Amputation destabilisiert, ja oft sogar nachhaltig zerrüttet. Er muss in der Folge neu geordnet, ja regelrecht hergestellt werden. Dazu kann – unter anderem – die Nutzung einer Prothese gehören. Erlernt werden neue Umgangsweisen mit dem Körper, etwa hygienischer oder medizinischer Art. So müssen ProthesennutzerInnen auf ihr Gewicht und ihre körperliche Fitness achten, um die Passgenauigkeit des Prothesenschafts nicht zu gefährden. Sie müssen aber auch Haushaltstätigkeiten wie etwa Einkaufen und Bettenbeziehen und ihre Mobilität neu organisieren und einüben. Findigkeit ist nötig, um bisher selbstverständliche, auch berufliche Tätigkeiten wieder aufzunehmen oder sich an neue zu gewöhnen – oder aber auch darauf einzulassen, dass eine Erwerbstätigkeit oder eine geliebte Freizeitbeschäftigung nicht mehr möglich sind. Selbst kleinste, zuvor kaum bemerkte tägliche Verrichtungen müssen eventuell völlig neu gestaltet oder auch ersetzt werden. Zu diesen alltagspraktischen Notwendigkeiten kommt die Herausforderung, die neue Situation, den neuen Zustand in Selbstbild, Lebensplan, Selbsterzählung, Biografie usw. zu integrieren. All das bezeichnet Ruther als Arbeit – hier stützt sie sich auf entsprechende ethnografische Beobachtungen bei TransplantationspatientInnen. Allein die obige Aufzählung signalisiert schon, wie viel Arbeit, Anstrengung und Energie die Herstellung solcher neuen individuellen Alltage kostet. Die Autorin hat geschickt jene Passagen der Interviews für die Veröffentlichung ausgewählt, die genau diese Anstrengung bildhaft werden lassen. Die Empirie, die in solchen Passagen zum Ausdruck kommt, steht bei Ruther ohnehin im Vordergrund.
Die zweite wesentliche Perspektive der Studie ist der Körper. Carolin Ruther benutzt einen KörperLeib-Begriff nach Helmuth Plessner, Maurice Merleau-Ponty und Thomas J. Csordas, denen zufolge Menschen einen sozial sichtbaren Körper in der Welt haben, zugleich aber einen Leib individuell erleben und erspüren. Wichtig ist ihr die Erweiterung dieser Denkweise durch den Begriff des Embodiment, der hier die Verschränkung von Körper und Leib meint. Sie geht von einem KörperLeib aus, mit dem Menschen in ihrem Alltag in der Welt sind und an dem sich Tun, Spüren, Materialität, Wahrnehmung und Fühlen gegenseitig beeinflussen.
Interessant ist der Vorschlag der Autorin, im Hinblick auf ProthesennutzerInnen von technogenem Embodiment zu sprechen. Damit meint sie, dass durch spezifische Herstellungspraktiken eine Technik – hier nicht nur die Prothese, sondern das ganze Set an Techniken und an Können, das mit dieser zusammenhängt – in den KörperLeib integriert wird.
Ruther geht dem Miteinander und oft auch Gegeneinander von Mensch und Maschine nach, zeigt dabei zum Beispiel auf, wie Technik widerständig sein kann, wie die Eigenarten der Prothese erspürt werden (müssen), wie das Artefakt schleift, blockiert oder ein bestimmtes Können, Wissen und Tun verlangt und ein anderes unmöglich macht.
Die Autorin unterscheidet in ihrer Empirie eine Phase der körperlichen Aneignung, die meist in einer Klinik stattfindet, von einer darauf aufbauenden Phase im Alltag zuhause, in der das Prothesennutzen zu einem Leibkönnen (161) verinnerlicht wird und eine emotionale Beziehung zur Technik gebildet wird. Diese emotionale Beziehung kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie die divergierenden und teils auch situationsabhängigen Bewertungen der NutzerInnen zeigen. Manche empfinden die Prothese primär als ein notwendiges Mittel der Ermöglichung, ein Tool, auf das sie nicht verzichten können. Das Hilfsmittel, das Beeinträchtigung reduziert, kann zugleich aber auch eine Beeinträchtigung darstellen. Andere erleben die Prothese aber auch als etwas, das direkt zum Körper gehört – als Kleidungsstück beispielsweise, oder auch als etwas, das leiblicher Teil des Körpers ist (201). Einfluss auf solche Deutungen haben offenbar so unterschiedliche Faktoren wie die Dauer der Prothesennutzung im Verhältnis zum Lebensalter, vor allem aber auch der Tragekomfort, die Umweltreaktionen und die ambivalenten Erlebnisse mit Mobilität und Ästhetik im Alltag.
In drei großen empirischen Kapiteln präsentiert Carolin Ruther Menschen in den Lebensstationen der Amputation, der Erstversorgung mit der (Interims-)Prothese in der Rehabilitationsklinik, der ambulanten Nachsorge und im Alltag zuhause. Die Interviewpassagen sind fesselnd, die Beobachtungen im Feld dicht beschrieben.
Zuerst zeigt sie auf, wie Amputation und die erstmalige Ausstattung mit Interimsprothesen erlebt werden. Sie stellt dar, dass dies als eine Phase der Zerrüttung des Gewohnten, der Verunsicherung, der Sorgen und der Infragestellung der Zukunft empfunden wird. Die Erstversorgung zeigt sich in den Interviews vor allem als schmerzhaftes Erlebnis. Im folgenden Kapitel geht es darum, im ‚Sonderraum‘ der Rehabilitationsklinik den Umgang mit Amputationstumpf und Prothese zu üben, Körpertechniken zu entwickeln, um sich die Technik anzueignen und letztlich, wenn möglich, zu integrieren. Hier werden Alltagstätigkeiten ausprobiert und erste Stücke des neuen Körperwissens gesammelt. Bewegungen, die vorher selbstverständlich waren, sind nun nicht mehr oder nur anders möglich oder müssen neu internalisiert werden. Der eigene, jetzt veränderte Körper muss ebenso angeeignet werden wie die Prothese, während die Re-Organisation des ganzen praktischen Alltags ansteht.
Im nächsten Kapitel geht es um die Arbeit am eigentlichen Alltag – zuhause. Um das Wohnen und Leben, um Familienverhältnisse und (Geschlechter-)Rollen, um Erwerbsarbeit und Freizeitgestaltung und die Beobachtung, dass Artefakte an der Produktion des neuen Alltags ebenso wie an der sozialen Ordnung mit-wirken und mit-handeln.
Ein Schwerpunkt liegt in diesem besonders eindrucksvollen Kapitel auf der, das Leben fortan begleitenden, Betreuung durch OrthopädietechnikerInnen. NutzerInnen und TechnikerInnen arbeiten, wie Ruther zeigt, gemeinsam am neuen Alltag, indem sie Prothesen zusammen anpassen, instand halten oder reparieren. Was hier passiert, bezeichnet sie mit dem Begriff Empirical Tinkering: Mensch, Mensch und Artefakt wirken auf komplexe Weise zusammen, um die neue Mensch-Technik-Verbindung zu schaffen, aufrechtzuerhalten oder zu verändern. Festzuhalten ist hier zweierlei: Die einerseits besondere, auch emotionale und psychologische Bedeutung der OrthopädietechnikerInnen für die NutzerInnen, anderseits die komplexe, oft nonverbale Kommunikation, die die beiden menschlichen Partner miteinander und über das Artefakt führen. Als wichtig für die gemeinsame Arbeit – Doing Body – am Körper und am Artefakt erweisen sich das Tacit Knowing der OrthopädietechnikerInnen und deren eigene KörperLeiblichkeit, denn sie erspüren oftmals die Gegebenheiten von Amputationsstümpfen, statt sich allein auf Messtechnik zu verlassen. Ruthers Interviewpartner beschreiben technisches Können, ohne aussprechen zu können, was oder wie sie das können. Ähnliches erzählen die NutzerInnen. Das lässt sich meiner Ansicht nach als Tacit Knowing verstehen. TechnikerInnen und NutzerInnen können kaum mit Worten beschreiben oder in Messdaten ausdrücken, wie sie die Schnittstelle Stumpf-Schaft leiblich spüren, das Verhalten der Prothese erfühlen, das Funktionieren oder Nichtfunktionieren ‚wissen‘.
Aus den Quellen geht zudem eindrucksvoll hervor, dass eine vertrauensvolle Mensch-Mensch-Beziehung ganz wesentlich zur körperlich-leiblichen Integration der Prothesen beiträgt. Dies äußert sich auch darin, dass manche NutzerInnen Jahre lang nach den ‚richtigen‘ OrthopädietechnikerInnen suchen, diesen besonders verbunden sind und Angst haben, diese zu verlieren.
Zuletzt stellt Ruther unter dem Stichwort Becoming Public die unterschiedlichen Umgangsweisen der Interviewten mit der jeweiligen Gliedmaßenkosmetik ihrer Prothesen vor. Einige verzichten bewusst auf die hautfarbene Kosmetik, andere würden sich nie ohne diese oder sogar ohne lange Beinkleidung darüber in der Öffentlichkeit zeigen. Sich selbst als ProthesennutzerIn erkennen zu geben oder das eben nicht zu tun, ist Teil der Arbeit an der Biografie. Ruther meint zudem, dass der Verzicht auf Kosmetiken als bewusstes Auflehnen gegen die existierende soziokulturelle Ordnung zu verstehen ist, nach der Prothesen funktional und ästhetisch an das angleichen sollen, was als normal gilt: der vollständige biologische Körper. Dem wäre weiter nachzugehen. Die Binaritäten, um die es hier geht, vollständig/unvollständig, normal/abweichend, behindert/nicht-behindert usw., löst der Verzicht auf Kosmetiken jedenfalls nicht auf, sondern reproduziert sie sogar eher.
Stichwort Behinderung: Welche Rolle spielt die Kategorie Behinderung in der Arbeit? Ist die Studie den Disability Studies zuzuordnen beziehungsweise trägt sie zu deren Kenntnisstand bei? Wenngleich sich die Autorin mit den theoretischen Grundlagen und der Empirie vor allem der deutschsprachigen Disability Studies auseinandergesetzt hat, ist die soziokulturelle Strukturkategorie Behinderung kein Kern oder Ausgangspunkt von Ruthers Forschungsinteresse.
Vielmehr, und das ist so interessant an ihrer Studie, zeigt sie auf, wie ihre Gewährspersonen nach der Amputation mit der Zuschreibung behindert konfrontiert werden, welche Konzepte und Vorstellungen von Behinderung sie selbst haben, welche sie in der Umwelt beobachten oder befürchten und wie sie sich selbst beschreiben. Um ein Ergebnis vorweg zu nehmen: Ein Teil ihrer Befragten nimmt sich selbst ausdrücklich nicht als Mensch mit Behinderung wahr, schon gar nicht als ‚Behinderter‘. Der Autorin geht es auch gar nicht darum, ob sich jemand als behindert bezeichnet oder ob jemand gar ‚behindert wird‘, sondern sie nimmt ihre InterviewpartnerInnen in ihrer Rolle als User von Technik wahr, die sich einen konkreten Alltag mit einer Prothese organisieren – dieser kann, aber muss nicht Beeinträchtigungen und die Zuschreibung von Behinderung beinhalten. Für die Disability Studies sind die Ergebnisse der Studie gleichwohl hochinteressant.
Technik erweist sich als ambivalent. Im Zusammenhang mit Behinderung wird dies allgemein nicht nur an der Prothetik, sondern an vielen Beispielen deutlich. So kann eine Bordsteinkante für RollstuhlnutzerInnen ein Hindernis sein, blinden oder sehbehinderten Menschen, die sich mit einem Langstock orientieren, bietet sie aber eine wichtige Orientierungshilfe. Entsprechend stellt die Bordsteinabsenkung nach DIN-Vorgaben für RollstuhlnutzerInnen eine Ermöglichungstechnologie dar (Enabling Technology – auch eine Bordsteinkante zählt zur technischen Welt), während sie LangstocknutzerInnen be-hindert (Disabling Technology). Besonders aufschlussreich sind in Ruthers Studie in diesem Zusammenhang die Schilderungen einer Prothesennutzerin, die in bestimmten Alltagssituationen lieber auf Krücken zurückgreift, weil sie die Prothese als beeinträchtigend und hinderlich empfindet und sich mit Krücken, sofern sie die Hände nicht zum Tragen benötigt, mobiler und schneller fühlt (260).
Die der Prothetik eingeschriebene Normalisierungsstrategie, die die als unvollständig und dysfunktional wahrgenommenen Körper in ästhetischer und/oder funktionaler Hinsicht komplettieren und die Personen normalisieren soll, erreicht nur, dass Embodied Difference – und eventuell auch Behinderung – bei ProthesennutzerInnen modifiziert wird, aber letztlich bestehen bleibt.
Aussagekräftig im Hinblick auf die Symbolik und öffentliche Wahrnehmung von Behinderung ist hier eine Erfahrung, die einige der InterviewpartnerInnen mitteilten: Prothesen werden oft als funktionales und zu einem gewissen Grad auch als ästhetisches Normalisierungsmittel wahrgenommen. Dennoch lassen sie die Amputation nicht unsichtbar werden, machen sie nicht ungeschehen. Prothesen halten verkörperte Differenz grundsätzlich aufrecht. Die NutzerInnen beschreiben aber, dass sie in bestimmten Situationen die verkörperte Andersheit dann doch zu sehr verdecken: Sie haben erlebt, dass sie bei Behördengängen und im Benehmen mit Ämtern offenbar nicht als ‚beeinträchtigt‘ oder ‚behindert‘ genug wahrgenommen werden. In diesem Setting scheinen Rollstühle mehr ‚Behinderung‘ und Bedürftigkeit zu signalisieren. Wer seine Anträge bewilligt bekommen möchte, tue, so die Interviewten, gut daran, im Rollstuhl das Amt aufzusuchen, nicht mit Prothese. Wer eine öffentliche Hilfeleistung will – Menschen mit Gliedmaßenamputationen haben in der Regel mindestens einen Grad der Behinderung von 60 % –, muss sich also in dieser Situation in gewisser Hinsicht ‚behindert‘ präsentieren, auch wenn ‚behindert‘ eigentlich der Selbstwahrnehmung im Alltag widerspricht (262). Paradox daran ist, dass der Rollstuhl kulturell als Ermöglichungstechnologie schlechthin wahrgenommen wird, ja zur Ikone geworden ist, und Rollstuhlnutzung zur Leitkategorie des barrierefreien Planens und Bauens wurde, hinter der die Bedürfnisse von Menschen mit anderen Beeinträchtigungen und Hilfsmitteln oft geradezu verschwinden. Der Rollstuhl steht aus historischen Gründen symbolisch für Beeinträchtigung und Behinderung und zugleich aber auch für Unabhängigkeit und Mobilität, für das Überwinden der Behinderungen im Alltag. Normalerweise würde sie, so eine Nutzerin, den Rollstuhl, den sie in seltenen Situationen gebrauchen muss, nicht freiwillig wählen, denn er ist ihr hinderlich, er macht sie immobil im Vergleich zu ihrer Prothese. Sie empfindet ihn als Disabling Technology, die sie abhängig macht, während ihre Prothese ihr Freiheit verleiht (259).
Solcherlei Ambivalenzen und Paradoxien aufgezeigt zu haben, ist ein Verdienst dieser Untersuchung von Carolin Ruther. Ein anderes liegt im überzeugenden Fokus auf den Alltagen der interviewten Personen und ihren beeindruckenden Selbsterzählungen. Das Buch erhöht, auch wenn das nicht sein Ziel ist, die Präsenz der Kategorie Behinderung in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie. Es könnte sich zudem eignen, um eine wichtige sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive in die einschlägigen medizinischen und technischen Studiengänge im Bereich der Medizintechnik und Rehabilitationsforschung zu bringen. Es erweitert die Alltagsforschung um eine spezielle Perspektive und macht darüber hinaus ein Angebot an alle, die sich mit Alltagen in der Krise auseinandersetzen.
Der Zugang zum Buch fällt leicht, es ist verständlich geschrieben, die ausgewählten Interviewpassagen sind mitreißend und vermitteln die je sehr persönliche Sicht auf Prothetik äußerst gut. Bedauerlich ist das nicht zufriedenstellende Korrektorat. Während man von Zeichensetzungsmankos absehen kann, sind sinnverändernde Fehler wie „soziales Pasing“ statt „Passing“ oder „Kurvieren“ statt „Kuvrieren“ sehr irritierend (250 und 251, 252). Alles in allem handelt es sich jedoch um eine solide, informative Studie, die eine Lücke in der volkskundlichen Forschungslandschaft markiert und einen Schritt macht, um sie zu schließen.