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Dirk van Laak

Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur

Frankfurt am Main 2018, S. Fischer, 366 Seiten mit 13 Abbildungen
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.05.2019

Dirk van Laak, Professor für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig, hat sich die Bearbeitung eines großräumigen Projekts vorgenommen, wobei er gleich zu Beginn klarstellt: „In diesem Buch wird es aber nicht um eine systematische, zusammenfassende Darstellung der wirtschaftlichen, der politischen, der rechtlichen oder gar der technischen Dimensionen der Infrastruktur gehen, obgleich das alles natürlich eine Rolle spielt. Vielmehr soll dargelegt werden, dass das scheinbar so unaufhörliche Wachstum der Infrastrukturnetze und Versorgungseinrichtungen je nach Umfeldern, in denen sie entstanden, starken und zeitbedingten Schwankungen unterlag. Die Infrastrukturen sollen also historisch verortet werden” (9), dies geographisch-politisch auf verschiedenen, nämlich urbanen, nationalen, europäischen sowie globalen Ebenen. Unter Infrastruktur versteht der Autor ein Konglomerat aus dem, was in den Einrichtungen der Kommunikation und des Verkehrs, der Versorgung und der Entsorgung geschieht, entwickelt und angewandt wird. Zudem, und das Vokabular kennen wir aus unserer eigenen Kulturwissenschaft, geht es zentral darum, Infrastruktur als „Ergebnis von Prozessen der Aushandlung und der kollektiven Kompromisse” (21) zu verstehen, wobei die einschlägigen Netze, so die Hypothese, „keineswegs das Ergebnis einer kohärenten Planung waren, sondern vielmehr in einem Geflecht sehr unterschiedlicher und sehr widersprüchlicher Interessen entstanden sind“ (13).

Der Band ist so aufgebaut, dass es eine „Ein-Leitung” gibt und eine „Aus-Leitung”; dazwischen umfasst ein Teil, „Die klassische Ära der Infrastrukturen”, drei Kapitel über die Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert und ein weiterer Teil, „Knotenpunkte der Debatten um die Infrastruktur”, fünf Kapitel über unterschiedliche Problembereiche, wobei sogleich darauf hingewiesen werden muss, und das stellt eine respektable Leistung dar, dass der Autor weitgehend transdisziplinär argumentiert und, was die zeitliche Ausrichtung betrifft, dafür plädiert, von „Infrastruktur“ erst dann zu sprechen, wenn „tendenziell eine Mehrzahl an Menschen im Alltag auf entsprechende Einrichtungen tatsächlich zugreift“ (18), was unter anderem auch zur Folge hat, dass etwa die zivilisatorischen Fortschritte in Antike und Mittelalter nicht in die Darstellung einbezogen werden.

Dirk van Laak konzentriert seine Ausführungen zum 19. Jahrhundert zunächst auf den Ausbau der Wasserstraßen sowie auf die Ausbreitung des Eisenbahnwesens, der Telegraphie und der Einführung planmäßiger Stadttechnik, dies unter deutlichem Einbezug der Begleiterscheinungen ökonomischer, finanzieller, technischer, politischer und sozialer Provenienz. Notwendige Vereinheitlichungstendenzen gelangen ebenso in den Blick wie Ordnungs- und Sicherheitsvorstellungen, Stadt-Land-Beziehungen, Fürsorge-, Gesundheits- und Bildungskonzepte einschließlich prominenter Akteure, dies insgesamt im Zusammenhang mit der Industrieentwicklung. Für das frühe 20. Jahrhundert steht die zweite Phase der Industrialisierung, das elektrotechnische Zeitalter, einschließlich Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Auswirkungen auf die privaten Haushalte, Beleuchtung jeglicher Art und Telefonwesen sowie frühe Automobilisierung. Ziviler und militärischer Umgang mit den verschiedenen Innovationen werden gleichermaßen behandelt; dieses ausgewogene Darstellungsprinzip gilt auch für die Gegenüberstellung von Luxusinteressen und Massenmobilisierung und nicht minder für die Bereiche Arbeit und Freizeit. Für die Zeit ab den 1920er Jahren ist dann immer wieder die Rede von Standardisierungs- und Gewöhnungsprozessen, trotz nicht aus der Welt zu schaffender Doppelbotschaften, welche bestimmte infrastrukturelle Objektivationen wie etwa die Reichs-Autobahn aussandten, und nicht minder trotz fortbestehender sozialer Differenzen und Distinktionen.

Das späte 20. Jahrhundert sorgt nicht nur dafür, dass der Begriff „Infrastruktur“ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführt wird, sondern auch dafür, dass im Zentrum der einschlägigen Aktivitäten die zunehmende Realisierung des Wohlfahrtsstaates steht, begleitet von öffentlicher Wirtschaftsförderung sowie privater Konsumorientierung. Mehr und mehr geht es aber auch darum, den Ausgleich zwischen städtischen und ländlichen Lebensbedingungen zu schaffen, was ebenso für die Beziehungen zwischen der westlichen Welt und den ehemaligen Kolonien gilt. Anhand von unterschiedlichen infrastrukturellen Handlungsfeldern führt der Autor vor, wie vorsichtige Internationalisierungstendenzen zu regelrechten Globalisierungsformen führen.

Der zweite Teil der van Laak’schen Studie nimmt sich eine Auswahl von infrastrukturellen Problembereichen vor und unterwirft sie einem quasi mikroskopischen Blick, als da sind: die öffentliche oder private oder kombinierte öffentlich-private Organisation der Infrastruktur, das Verhältnis von staatlichen Eingriffen und marktwirtschaftlicher Orientierung, Fragen der infrastrukturellen Ästhetik und der Modernität, die Internationalität von Zeichensystemen im Verkehrswesen, die Rolle von einschlägigen Großprojekten im Infrastrukturwesen, Netze und ihre Langlebigkeit, der Umgang mit ausgedienten infrastrukturellen Einrichtungen, die allgemeinen Risiken und Nebenwirkungen, der Umbau des Lebensraums Straße zu einer Art Leitungsweg, das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, das innerstädtische Verkehrswesen und die innere Urbanisierung sowie anderes mehr. Es liegt auf der Hand, den Band abzuschließen mit einer Thematisierung und Problematisierung dessen, was wir heutzutage unter dem Begriff der Digitalisierung fassen, im konkreten Fall unter besonderer Beachtung des Verkehrs- und Kommunikationswesens sowie der Bereiche der Ver- und Entsorgung. Seine Erwartung in Richtung Zukunft formuliert der Autor so: „Trotz aller Gegenbewegungen scheint der Großtrend der Infrastrukturentwicklung nach wie vor auf eine weitere Globalisierung hinzudeuten. Alles soll in Fluss gehalten und durch eine noch bessere, smartere Organisation jederzeit vom Individuum selbst gesteuert werden können“ (273), wobei es offen bleibt, ob diese Entwicklung automatisch mit der „industriellen Wachstumsmoderne“ zusammenhängen wird – oder mit nachhaltigeren Lebens-Konzepten (287).

Infrastruktur – welch ein herausforderndes, übergreifendes, gewissermaßen ubiquitäres Thema, das es gerade wegen seiner Vielseitigkeit und Vielfältigkeit verdient hätte, in einem großformatigen Band mit Hunderten von Abbildungen auf dem Buchmarkt zu erscheinen. Aber die Usancen in diesem Metier sind offensichtlich andere. Seien sie akzeptiert, deutlich zähneknirschend, denn wenige Tage bevor der Rezensent das Buch in den Händen halten konnte, gab es einen zum Thema passenden Vorfall, ja, geradezu eine Katastrophe, mitten in der italienischen Hafenstadt Genua: Eine Autostrada-Brücke bröckelte nicht nur (siehe Kapitel II. 6), sondern sie stürzte ein. Dutzende von Toten waren zu beklagen, Wohnblocks mussten abgerissen werden, es gab die üblichen Schuldzuweisungen und die großartigsten Versprechungen in Richtung schnellen Wiederaufbaus. Dirk van Laak hat also ein in die Historie ausgreifendes, die Gegenwart analysierendes, hochaktuelles Werk vorgelegt. Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank!