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Marc Augé
Lob des Fahrrads
Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Mit zwölf Zeichnungen von Philip Waechter, 3. Aufl. München 2016, C. H. Beck, 104 Seiten mit 12 AbbildungenRezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.06.2019
Der Ethnologe Marc Augé, langjähriger Leiter der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, hat sich seit mehr als drei Jahrzehnten mehr und mehr von der Erkundung außereuropäischer Kulturen abgewandt und stattdessen eine wahre Fülle von Studien zu unterschiedlichen Themen aus der modernen „Nahwelt“ erstellt und vorgelegt. Zu erinnern ist etwa an „Ein Ethnologe in der Métro“ (Original 1986, dt. 1988) oder an „Nicht-Orte“ (Original 1992, dt. 1994 bzw. – erweitert – 2010). Insbesondere die neueren Studien, so zum Beispiel jene über „Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung“ (Original 2015, dt. 2016), zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie stilistisch ausgesprochen locker und geradezu improvisiert erscheinend, im positiven Sinn essayistisch daherkommen. Im Original trägt die zuletzt genannte Arbeit den Titel „Éloge du bistro parisien“; die hier anzuzeigende Studie heißt demgemäß: „Éloge de la bicyclette“.
Weit davon entfernt, eine „Kulturgeschichte des Radfahrens“[1] oder eine systematische „Ethnologie des Radfahrens“[2] zu erstellen, beginnt der Autor so, wie er dies in etlichen seiner Bücher praktiziert, mit eigenen themenaffinen Erinnerungen, an Spielfilme wie „Fahrraddiebe“ (Vittorio de Sica, 1948) und „Schützenfest“ (Jacques Tati, 1949), an zeitgenössische Chansons, vor allem aber an frühe Begegnungen mit der Tour de France und deren Helden, gefolgt von Bemerkungen zum veränderten alltäglichen Verkehrsverhalten der französischen Bevölkerung nach Einführung des bezahlten Urlaubs. Von „Mythos und Geschichte“ ist zunächst die Rede, sodann von zunehmender Kommerzialisierung und Globalisierung. Es geht dabei durchgängig darum, konkretes menschliches Handeln näher zu erkunden, und nicht darum, das gesamte französische oder europäische oder gar weltweite Verkehrssystem zu analysieren. Anders gesagt: Im Zentrum steht eine genuine Anthropologie des Radfahrens, welche thematisiert und problematisiert, was das spezifische Handeln für die Menschen selbst bedeutet, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten, welche sie ergreifen, welchen Einflüssen sie ausgesetzt sind und welche Entwicklungen sie selbst beeinflussen.
Den Mythos des Fahrradfahrens betrachtet Augé als weitgehend zerstört, belässt es aber nicht bei dieser Negativ-Bilanz, sondern er geht aus von den nicht nur in Paris, sondern in zahlreichen größeren Städten nicht nur in Europa öffentlich angebotenen Leihfahrrädern, dies als Möglichkeit, Städte, gleich ob als Einheimische oder Touristen, selbstständig und unabhängig von starren ÖPNV-Systemen wahrnehmen zu können. Von neuer Freiheit ist die Rede, von neuen Erfahrungen, neuen Aneignungsweisen städtischen Raums, von spielerischem Umgang mit der Umwelt wie auch mit dem Vehikel selbst, wobei der Autor auch die Gefahren sieht, dass Radfahren sich hauptsächlich zum Eldorado des sommerlichen Tourismus entwickle und dass die Konkurrenz mit anderen, vor allem automobilen, Verkehrsmitteln und deren Lenkern zunächst bestehen bleibe, was in Verkehrsunfällen zum Ausdruck käme.
Der letzte Abschnitt trägt den Obertitel „Utopie“ und bezieht sich darauf, dass auf nicht weniger als 40 Seiten ein Entwurf mit Vorstellungen künftiger Verkehrspolitik und sich herausbildender Verhaltensweisen einschließlich massiver Veränderungen der materiellen Kultur (Straßen, Gehwege, Bahnhöfe, Fahrradtypen, dazugehörige Kleidung), der menschlichen Tätigkeiten (Arbeit, Freizeit, Kindererziehung) sowie der Nebenwirkungen (auf bisherige Klassenschranken, auf ökologische Bedingungen, auf wissenschaftliche Entdeckungen) präsentiert wird: „Kein Zweifel, durch den Gebrauch des Fahrrads erfüllen die Menschen sich etwas von jenem Wunsch nach Beweglichkeit, Leichtigkeit, ich möchte fast sagen: Flüssigkeit.“ (98) Das allerletzte Unterkapitel heißt „Zurück zur Erde“ und erinnert sehr stark an die neueste Publikation des französischen Soziologen Bruno Latour, „Das terrestrische Manifest“ (Original 2017, dt. 2018), welche engagiert Ideen zur Wiederherstellung der menschlichen Erdung oder Bodenhaftung bei gleichzeitiger Welthaftigkeit präsentiert. Bei Augé heißt es dazu: „Sobald wir im Sattel sitzen, verändert sich alles und wir finden uns wieder, wir nehmen uns wieder selbst in die Hand.“ (101) Kein Wunder, dass er das Radfahren als eine Aktivität im Sinne des Humanismus betrachtet.
[1] Vgl. Andreas Hochmuth: „Kommt Zeit, kommt Rad“. Eine Kulturgeschichte des Radfahrens. Wien 1991.
[2] Vgl. Hans Peter Hahn: Die Aneignung des Fahrrads. In: Kurt Beck, Till Förster u. ders. (Hgg.): Blick nach vorn. Festgabe für Gerd Spittler. Köln 2004.