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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Sönke Friedreich

Der Weg zur Großstadt. Stadtentwicklung, bürgerliche Öffentlichkeit und symbolische Repräsentation in Plauen (1880–1933)

(Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 57), Leipzig 2017, Universitätsverlag, 356 Seiten mit 34 Abbildungen, zum Teil farbig, 1 ausklappbarer farbiger Stadtplan
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.06.2019

Zusammen besprochen mit:

Susanna Brogi/Ellen Strittmatter (Hg.), Die Erfindung von Paris. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, vom 13. Juni 2018 bis 31. März 2019 (marbacherkatalog 71), Marbach am Neckar 2018, Deutsche Schillergesellschaft, 351 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig

Eine Rezension zweier so unterschiedlicher Publikationen, hier Monographie, dort Begleitband zu einer Ausstellung, bietet sich nicht etwa deshalb an, weil die beiden zur Debatte stehenden Städte den identischen Anfangsbuchstaben tragen, was ein arg formales Kriterium darstellen würde, sondern dies geschieht aus inhaltlich-thematischen Gründen: In beiden Fällen geht es um Prozessuales. Plauen entwickelt sich und befindet sich auf dem Weg, eine Großstadt mit über 100000 Einwohnern zu werden; man könnte auch formulieren: Plauen erfindet sich neu. Nichts anderes bewerkstelligt Paris, wenn es im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Rollen herausbildet: das Luxus-Paris, das Kunst-Paris, das Mode-Paris, das Geschäfts-Paris, aber auch das eigensinnige Paris, das traditionelle Paris, das revolutionäre Paris, das politisch-oppositionelle Paris, das intellektuelle Paris, das literarische Paris, das musische Paris, das urbanistische Paris, das französische Paris, das migrantische Paris, das weltweite Paris, das sportliche Paris, schließlich das touristische Paris, um nur einige wenige der möglichen, sich zum Teil überlappenden Differenzierungen zu benennen.

Sönke Friedreich geht davon aus, dass ein, wie er das nennt, „Heranwachsen“ kleinerer Städte zu größeren Städten die einheimische Bevölkerung dazu bringen könne, „die eigene städtische Identität“ neu zu überdenken und damit einer gewandelten Interpretation zu unterwerfen, was insofern begünstigt werde, als sich die dazugehörige Kommunikation und die Anzahl der daran beteiligten Akteure in (noch) überschaubarem Rahmen abspiele. Zu erwarten sei dann ein veränderter Umgang mit dem städtischen öffentlichen Raum, veränderten „Strategien symbolischer Repräsentation“, wie sie etwa durch Bilder, Bauwerke, Straßen, Denkmäler und Grünanlagen zum Ausdruck kommen. Was ansteht, ist also eine Erhellung der Zusammenhänge zwischen der konkreten Stadtentwicklung Plauens und den ebenso konkreten Repräsentationsformen. Anders gewendet: Was der Autor erarbeitet hat, ist eine Diskursanalyse, basierend auf der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl und Vielfalt an Quellen, als da sind: Unterlagen der Stadtverwaltung, Auszüge aus Sitzungsprotokollen unterschiedlicher Gremien, Vereinsunterlagen, Festschriften, Texte von Gedenkreden, Artikel aus der lokalen Presse (13 f., 23 f.).

Die Studie ist so aufgebaut, dass einer Einleitung (Fragestellung, Stadtforschung, eigene disziplinäre Forschungsperspektiven) sechs weitere, umfangreiche und reich untergliederte Kapitel folgen, bevor ein Ausblick für Abrundung sorgt. In den einzelnen thematischen Kapiteln geht es dem Autor zunächst darum, die Stadtgeschichte zwischen 1880 und 1933 in zwei Phasen darzustellen und die zentralen Charakteristika zu benennen, welche es legitimieren, von den Jahren des Aufstiegs der Industrie- und Handelsstadt Plauen zu sprechen – und von den Jahren der Krise des Zentrums der Stickereiindustrie und Spitzenherstellung. Die Aufstiegszeit einschließlich der Großstadtwerdung im Jahr 1904 drückt sich aus in der Ausstattung der Stadt mit bestimmten Denkmälern, die den Kriegstoten und verschiedenen Herrschenden gewidmet sind, aber auch mit einem Theater, einem neuen Rathaus und weiteren Bauwerken, kurz gesagt: mit dem Ausbau der vorhandenen Infrastruktur. Die Krise, hervorgerufen durch politische, militärische wie auch ökonomische Negativentwicklungen, stellte dann eine Art Prüfstein für die Herausbildung des gewandelten städtisch-bürgerlichen Selbstbewusstseins dar. Und dem Autor, der zu Beginn seiner Studie eine ausgesprochen solide Sozial- und Wirtschaftsgeschichte präsentiert hat, gelingt es, schrittweise die diversen Wandlungsprozesse nachzuzeichnen und sie vor allem kontextuell höchst bewusst einer Analyse zu unterziehen.

Ein Wort der Kritik sei dennoch angefügt: Vom Vorwort und den Seiten 9 bis 12 der Einleitung wünscht man sich ein erhöhtes Maß an Klarheit hinsichtlich der benutzten Begrifflichkeit. Da ist die Rede von „volkskulturellen Überlieferungen“, von „Volkskunst“, von „volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Perspektiven“ (7) sowie von „ethnologischer Stadtforschung“, „kulturanthropologisch akzentuierter Stadtforschung“, nicht zuletzt von der „Anthropologie der Stadt“ (11), ohne dass auch nur ansatzweise geklärt werden würde, was diese verschiedenen Termini ganz genau bedeuten, in welchem Verhältnis sie zu einander stehen und aus welchen wissenschaftstheoretischen wie wissenschaftshistorischen Zusammenhängen sie stammen. Der Rezensent befürchtet, dass sogenannte fachfremde Rezipient/inn/en des Friedreich’schen Textes, vorsichtig formuliert, mindestens irritiert sein könnten.

In einem Aufsatzband von Helge Gerndt findet man die überarbeitete Version seines Eröffnungsvortrags beim 24. Deutschen Volkskunde-Kongress 1983 in Berlin. Dort heißt es unter anderem: „Kulturwissenschaftler setzen voraus, daß die gesamte menschliche Umwelt mit Werten besetzt ist. Mit dieser These ist aber ein erkenntnistheoretisches Problem verbunden, nämlich: analysieren wir im konkreten Fall eigentlich empirische Realität oder eine durch Bewerten, durch Vorurteile geschaffene Realität? Jene Touristen, die nach München kommen, um hier das Isar-Athen zu sehen, erfahren die Großstadt anders als jene, die die weiß-blaue Metropole oder die Weltstadt mit Herz suchen, und wieder anders als solche, für die sie die Stadt der Lebensfreude darstellt oder (früher) die heimliche Hauptstadt Deutschlands.“ Und Gerndt fährt fort: „Wie baut sich das Bild von einer Stadt auf?“[1]

Nun, Sönke Friedreich hat sowohl die empirische Realität Plauens als auch den einschlägigen Diskurs untersucht und damit den Prozess vorgeführt, wie sich zu einer bestimmten Zeit das Bild des vogtländischen Zentralorts aufgebaut hat.

Dies lässt sich für den von Susanna Brogi und Ellen Strittmatter herausgegebenen Marbacher Ausstellungs-Begleitband nicht behaupten; allein bezogen auf den Arbeitsaufwand wäre ein derartiges Mammut-Projekt noch nicht einmal vorstellbar. Doch worum geht es genau? „Paris hat Hunderte von Erfindern. Nicht wenige davon sind deutsche Autoren. Über Jahrhunderte hinweg wird die französische Hauptstadt gelesen, erdacht und erschrieben. In der Dichte ihrer Wirklichkeit und in der Schwindel erregenden Allgegenwärtigkeit ihrer Zeichen verkörpert sie beides: ein offenes Buch und eines mit sieben Siegeln. Auf seinen Seiten lesen die Wissbegierigen und die Träumenden, die Avantgarden und Archäologen, die Enzyklopädisten und Strukturalisten. Die Maler und Fotografen, Touristen und Sammler nicht zu vergessen. Die einen finden die Stadt der Liebe, die anderen die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts.“ Vom „Sehnsuchtsort Paris“ ist gar die Rede (9).

Der Band ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil, „Denkwege“ überschrieben, sind fünf Aufsätze versammelt, in denen unter anderem von Wolfgang Matz Umgangsweisen mit dem Sujet „Paris“ im Bereich der deutschsprachigen Literatur (einschließlich Essayistik) des 19. und 20. Jahrhunderts diskutiert werden, bevor Freddy Langer Paris als „Hauptstadt der Fotografie“ (Cartier-Bresson, Nègre, Moholy-Nagy, Brassaï, Krull, Doisneau, Ronis, Troller, Czechowski u. a.) sowie Christine Pries die Stadt als intellektuelles Zentrum vorstellen (Sartre, de Beauvoir, Gréco, Vian, Foucault, Derrida, Lévi-Strauss, Lacan, Althusser, Barthes, Deleuze, Lyotard, Baudrillard, Virilio, Bourdieu u. a.).

Der zweite Teil des Bandes präsentiert 17 verschiedene „Gangarten“ der Stadterkundung und Stadtaneignung, von „Entdecken“ über „Spazieren“ und „Verirren“ bis hin zu „Mäandern“, „Panoramieren“ und „Taumeln“, die jeweils anhand von zweidimensionalen Objekten aus dem Leben eines der Autoren oder einer der Autorinnen aus dem Überblickstext von Wolfgang Matz veranschaulicht werden, dies einschließlich ausführlicher Betextung (Heine, Hessel, Tucholsky, Hartlaub, Rilke, Goll, Jünger, Nizon, Kracauer, Benjamin, Roth, Celan, Handke u. a.). Der abschließende Teil, „Bildergänge“ betitelt, vertieft die Ausführungen von Freddy Langer zu Paris als „Hauptstadt der Fotografie“ anhand von verschiedenen, adäquat kommentierten Abbildungen zu acht repräsentativen Themen, als da sind: Reklame, Asphalt, Fassaden, Plätze, Fenster, Stufen, Passagen sowie Mauern. Das Erstaunliche bei diesem Aufeinandertreffen von deutschsprachigen Menschen und der Pariser Stadtlandschaft wie auch verschiedenen Teilen der Pariser Bevölkerung ist, dass sich die krisenhafte politische Realität im Gastland der 1920er und 1930er Jahre eher nicht in ihren Texten niederschlägt, dabei lässt sich der Wahlsieg der Volksfront unter der Leitung von Léon Blum im Jahr 1936 durchaus als „Ereignis von historischer Dimension“ betrachten: „Gerade in den Jahren der äußersten politischen Bedrängnis gerät den Emigranten das reale politische Paris aus dem Blick.“ (55)

Insgesamt lädt das Projekt „Die Erfindung von Paris“, welches als fertiges Ausstellungs-Produkt bis zum 31. März 2019 im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar besichtigt werden konnte, implizit dazu ein, weitere Vergleichsaktivitäten in den Blick zu nehmen, ungeachtet dessen, ob es sich um einseitige Kulturtransfers handelt oder richtiggehenden gegenseitigen Kulturaustausch, also etwa zwischen der französischen Hauptstadt und Akteuren aus England, den USA, Russland, Polen, Algerien und vielen anderen Ländern, denn Paris hat immer wieder von Neuem eine immense Anziehungskraft auf Menschen ausgeübt, die von jenseits der Landesgrenzen gekommen sind und angeklopft haben, dies aus einer breiten Vielfalt von Gründen.

[1] Helge Gerndt: Großstadtbilder. In: ders.: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen (Münchner Beiträge zur Volkskunde 31). Münster u. a. 2002, S. 64–78, hier S. 71 f.