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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Urs Latus

Erzgebirgische Miniaturen fürs Kinderzimmer. Eine Erfindung aus Dresden

(Reihe Weiß-Grün 49), Dresden 2018, Verlag der Kunst Dresden/Sächsische Landesstelle für Museumswesen an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, 263 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Nina Gockerell
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.05.2019

Im Jahr 2017 wurde am Volkskundelehrstuhl in Bamberg Urs Latus‘ Arbeit „Sächsische Miniaturspielwaren zwischen Volkskunst und Kunstgewerbe – eine kultur- und wirtschaftshistorische Untersuchung“ als Dissertation angenommen. Schon 2018 liegt nun der daraus entstandene umfangreiche, schön gestaltete und reich bebilderte Band unter einem wohl der Verkaufsförderung wegen gewählten abweichenden, vermeintlich weniger wissenschaftlich klingenden Titel vor.

Für die acht Kapitel und den umfangreichen Anhang hat der Autor mit größter Sorgfalt viele bisher nicht bekannte Text- und Bildquellen herangezogen und ausgewertet und dadurch sowohl einen fundierten Überblick über die deutsche Spielwarenindustrie im frühen 20. Jahrhundert, als auch eine detailreiche Geschichte der höchst interessanten Entwicklung handgearbeiteter Spielsachen aus Sachsen zwischen künstlerischem Anspruch und Massenfertigung vorgelegt. Dabei spielten Bestrebungen der Gewerbeförderung und Verkaufsstrategien eine ebenso große Rolle wie die Heimat- und Volkskunstbewegungen mit ihren pädagogischen Ansätzen im Sinne einer bereits frühkindlichen ästhetischen Erziehung. Der Autor konfrontiert diese Ansätze mit dem allgemeinen Aufbruch ins Industriezeitalter und im Speziellen mit den daraus resultierenden Folgen für das hausindustrielle Spielzeuggewerbe in Sachsen. Fragen der Gestaltung werden anhand der Entwicklung der sächsischen Fachgewerbeschulen und ihrer Ausstellungen diskutiert und die Weltausstellungen 1904 und 1910 in ihrer Bedeutung für sächsische Spielwaren geschildert. Mit den ersten Publikationen zu Spielzeug in Frankreich, England und Deutschland hatte sich die Spielzeugforschung als Teilaspekt der volkskundlichen Realienforschung etabliert, erst später, in den 1920er und 1930er Jahren, gab es die ersten Sammlungs- und Museumsgründungen.

Dresden nimmt in dieser allgemeinen Tendenz als Zentrum der Avantgarde eine Sonderstellung ein, ist es doch wichtiger Schauplatz der bürgerlichen Lebensreformbewegung. Künstlerisches Holzspielzeug wurde hier von Architekten, Pädagogen, Bildhauern und Malern entworfen und danach erstmals seriell hergestellt. Das großstädtische Bürgertum begann, Land und Natur zu romantisieren, die Sommerfrische wurde erfunden, Kinder sollten von Anfang an mit Spielsachen hantieren, die wir heute als gutes Design bezeichnen würden und die sie – in der Stadt lebend – mit dem Landleben vertraut machen sollten.

Im Rahmen der Heimatbewegung, getragen vom Sächsischen Verein für Heimatschutz, entstanden als erste Miniaturspielsachen umfangreiche Landschaften mit Dörfern und Burgen zum Aufstellen. Sie dürfen als das früheste Systemspielzeug bezeichnet werden, denn sie können beliebig zusammengestellt, erweitert und umgebaut werden. Hergestellt wurden sie in Grünhainichen und in kleinen Schachteln (Füll- und Schachtelware) oder aufgenäht auf Pappe angeboten, von winzigen Reifenfiguren (Menschen und Tiere) bevölkert sowie mit Fahrzeugen und Geräten historischer wie moderner Art ausgestattet, und gerne, um verstärkte Akzeptanz in einem wertkonservativen, elitären Kundenkreis zu erreichen, als „Heimatkunst“ bezeichnet. Das kleinteilige Zubehör stammte meist aus Seiffen und wurde von den Verlegern mit den Architekturteilen zusammengefügt. Urs Latus ist es durch die Auswertung umfangreicher Aktenbestände gelungen, anhand von Eingaben von Herstellern, aber auch von Gewerbelehrern, die oftmals prekäre Lebens- und Arbeitssituation, die Arbeitsverteilung in den Familien, die Problematik der Kinderarbeit sowie die Rolle der Verleger anschaulich darzustellen. Es ergibt sich für die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts eine durchaus ambivalente Situation: die der Architekten und anderen Entwerfer künstlerisch wertvoller Spielsachen und ihrer begüterten und gebildeten Kundschaft in Dresden und bald auch weltweit und andererseits die der Herstellerfamilien im Erzgebirge, die ums Überleben kämpfen mussten. Anhand unterschiedlicher geschäftlicher wie privater Quellen kann der Autor ein lebendiges wirtschafts- und sozialgeschichtliches Bild der Miniaturspielwarenherstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnen, das den Leser mit zahlreichen Hersteller- und Lehrerpersönlichkeiten bekannt macht.

Als neue Werbestrategie kann Latus die Vermarktung der Miniaturen, einem allgemeinen Trend der Zeit zum kleinformatigen Schaustück folgend, als Sammel- und Vitrinenstücke für Erwachsene ausmachen, die gerne als „hervorragendes Erzeugnis heimatlicher Volkskunst“ angepriesen wurden. Mit dem Anwachsen des Tourismus nicht nur im Sächsischen konnte eine neue Kundengruppe angesprochen werden: Es waren wiederum die gut situierten, bildungsbürgerlichen Kur- und Urlaubsgäste, die als Reiseandenken zu erzgebirgischen Miniaturen griffen, die nun auch Tiroler Dörfer, Spreewälder Ammen und Schwarzwaldhöfe darstellten. Ein ausführliches Kapitel widmet der Autor im Folgenden dem Dresdner Spielwarengeschäft Richard Zeumer und dessen konsequenter Vermarktung des „erzgebirgischen Dörfchens“ sowie Zeumers Mitbewerbern.

Verständlicherweise können hier nur die wichtigsten Erkenntnisse der umfangreichen Arbeit in ganz wenigen Sätzen angedeutet werden, die im Buch in detailreichen, auf sorgfältigen Archivstudien aufbauenden Darstellungen entwickelt und prägnant formuliert worden sind.

Im letzten Kapitel diskutiert Latus schließlich den „Reiz der kleinen Dinge oder die Lesbarkeit der Welt“. Miniaturen machen die Welt „begreifbar“, mit dem Globus kann man die ganze Welt in Händen halten. Mit den erzgebirgischen Miniaturen wurden aus Spielsachen mit künstlerischem Anspruch solche, die bewusst gelenkt bürgerliche Erziehungsideale transportierten. Dabei führte ihr Weg von idealisierten Motiven, die aus der Heimatbewegung kamen, zu durchaus zeitgemäßen Themen und zu modernen technischen Entwicklungen; um 1915 kamen Militärthemen hinzu.

Wenn die erzgebirgischen Miniaturen in DDR-Zeiten rückblickend gerne als „Volkskunst“ bezeichnet wurden, hatte man ihre Entstehung und Förderung durch das Bildungsbürgertum Dresdens und die sie tragende Heimatbewegung verkannt beziehungsweise in der von Urs Latus nun erarbeiteten Bedeutung tatsächlich noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Dass sich anhand der kleinen, vielfältig kombinierbaren, von Kindern wie Erwachsenen mit Begeisterung gesammelten Spielsachen die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Dresdens und des Erzgebirges zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die kleinsten Verästelungen und Vernetzungen aufdröseln lässt, hat Urs Latus mit seiner akribisch recherchierten Arbeit gezeigt.

Für Sammler und Museumsleute wurde dem umfangreichen Band ein etwa 40-seitiger Katalog mit farbigen Abbildungen und genauen Beschreibungen ausgewählter Miniaturen – Architektur, Fahrzeuge, Menschen und Tiere – angefügt. Dazu kommen historische Fotos und Werbematerial, Musterblätter und Ausschnitte aus Fachorganen. Angefügt sind Listen von Anzeigenwerbung und Messeberichterstattung von 1905 bis 1914, eine Dokumentation der Holzspielwaren- und Holzwaren-Ausstellung Seiffen (1914) sowie Transkriptionen von 83 beispielhaften Dokumenten von 1904 bis 1911.

Urs Latus hat mit diesem umfangreichen Band eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung von hoher Bedeutung für die kulturgeschichtliche Sachforschung, für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte und für die sächsische Landesgeschichte vorgelegt. Dass sie nun in einer so ansprechenden Form als reich bebildertes, sensibel gestaltetes Buch vorliegt, ist auch dem Verlag der Kunst zu verdanken.