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Elmar Kerner
Der „weiße Rabe“ Johannes Grandinger (1869–1941). Leben und Wirken eines liberalkatholischen Pfarrers und bayerischen Landtagsabgeordneten
(Studien zur Bamberger Bistumsgeschichte 8), Petersberg 2018, Michael Imhof, 383 Seiten, zahlr. Abb.Rezensiert von Johann Kirchinger
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 14.05.2019
In der Endphase der Prinzregentenzeit erschütterte der Fall des klerikalen Landtagsabgeordneten Johannes Grandinger den politischen Katholizismus in Bayern, da dieser sich nicht wie es zu erwarten gewesen wäre zum Zentrum bekannte, sondern als Kandidat der Liberalen in den Landtag eingezogen war. Die Biographie Grandingers liegt nun als geschichtswissenschaftliche Dissertation, gefertigt an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, vor. Dabei stützt sich der Autor Elmar Kerner auf eine ausgesprochen breite Basis archivalischer und publizistischer Quellen. Berücksichtigt wurden etwa die einschlägigen Akten des Hauptstaatsarchivs München (Außen-, Innen-, Arbeits- und Kultusministerium), der oberfränkischen Archive (Staatsarchiv Bamberg, Stadtarchiv Bamberg, Archiv des Erzbistums Bamberg) und das Archiv der Münchner Nuntiatur im Vatikanischen Geheimarchiv in Rom. Darüber hinaus wurden die Stenographischen Berichte über die Verhandlungen der beiden Kammern des bayerischen Landtages, die geringe Zahl von Grandingers Veröffentlichungen und eine äußerst große Zahl an Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen ausgewertet.
Die Biographie ist chronologisch angelegt. Zunächst wird Grandingers Kindheit als Sohn eines Eisenbahnbeamten in der Arbeiterstadt Nürnberg dargestellt, dann sein Weg ins Priestertum und seine ersten seelsorglichen und publizistischen Erfahrungen als Bamberger Kaplan und Gründer des „St. Heinrichsblattes“. Es schließt sich die Schilderung des seelsorglichen Wirkens auf seiner ersten selbstständigen Stelle als Pfarrer in Nordhalben im Frankenwald an. Breiten Raum nimmt hierbei Grandingers sozialpolitisches Wirken als führende Figur des „Arbeiter-Beschäftigungs-Komitees“ und als Gründer der Spitzenklöppelschule ein. Den Schwerpunkt der Studie bildet die anschließende Schilderung von Grandingers umstrittener Tätigkeit als Landtagsabgeordneter zwischen 1907 und 1911. Insbesondere geht Kerner auf die heftigen publizistischen Auseinandersetzungen, die sich an seiner Person zwischen liberalen und katholischen Blättern entzündeten, ein. Zum Schluss beschäftigt sich Kerner noch knapp mit dem restlichen Leben Grandingers als Pfarrer im oberfränkischen Buttenheim, wo er zusätzlich als Heimatforscher tätig war und mit den Nationalsozialisten aneinandergeriet, und als Ruhestandsgeistlicher („Kommorant“) in Bamberg. Der Band, der durch ein Orts- und Personenregister erschlossen wird, weist eine hohe haptische Qualität auf. Die zahlreichen Abbildungen, unter denen vor allem die vielen Karikaturen, die Grandinger zum Gegenstand haben, hervorstechen, sind von hoher Qualität und bereichern den Band wesentlich.
Für Kerner steht außer Frage, dass es sich bei Grandinger um einen „liberalkatholischen Pfarrer“ (S. 296) handelte. Immerhin wurde Grandingers Landtagskandidatur von den liberalen Honoratioren seines nordoberfränkischen Wahlkreises unterstützt und er schloss sich der liberalen Landtagsfraktion nur auf Druck des erzbischöflichen Ordinariates nicht förmlich an. Außerdem vertrat er die liberale Kernforderung der Trennung von Politik und Kirche. Grandingers wirtschafts- und sozialpolitische Ansichten waren indes nicht liberal, sondern fügten sich in den Rahmen des damaligen Sozialkatholizismus. Spuren von theologischem Liberalismus finden sich ebenfalls nicht, da sich Grandinger wohl nicht zuletzt aus politischer Klugheit weder im Landtag noch in der Presse an kirchenpolitischen oder theologischen Debatten beteiligte. Kerner selbst zeigt schließlich Unbehagen an seinen Bemühungen um Grandingers Verortung im weltanschaulichen Liberalismus, wenn er schreibt, dass er „kein doktrinärer Liberaler“ gewesen sei (S. 360).
Wenn auch die Gründe für Grandingers Auftreten als Kandidat der Liberalen angesichts eines fehlenden Nachlasses letztlich nicht geklärt werden können, so darf doch Grandingers politisches Wirken nicht von weltanschaulicher Zuneigung zum Liberalismus her verstanden werden, sondern von pragmatischer Distanzierung vom Zentrum, möglicherweise biographisch, durch persönliche Verletzungen, bedingt (S. 66 bis 92). Die Selbstcharakterisierung Grandingers als „Heimatkandidat“, worunter er einen im Wahlkreis wohnenden und sich für die Interessen des Wahlkreises einsetzenden Abgeordneten verstand (S. 158 bis 163), ist der bessere Schlüssel zum Verständnis des Politikers Grandinger. Politik sollte sich für Grandinger nicht an abstrakten (katholischen, liberalen, sozialistischen) Weltanschauungen orientieren, sondern an konkreten Problemen. Grandingers „deutliche öffentliche Distanzierung vom politischen Katholizismus“ (S. 357) wurzelt offenbar eher in seiner Selbstsicht als „Heimatkandidat“ als in weltanschaulichem Liberalismus. Dadurch machte sich Grandinger selbst zum Teil einer um Geltung kämpfenden kommunalistischen Tradition, die sich über die weltanschaulichen Lager erstreckt und vom städtischen Gemeindeliberalismus Südwestdeutschlands bis hin zum rustikal-konservativen Bayerischen Bauernbund reichte und in den freien Wählervereinigungen bis in die Gegenwart weiterlebt.
Als „Heimatkandidat“ entsprach Grandinger einem Abgeordnetentyp, der sich erst durchsetzen musste, um im 21. Jahrhundert die Regel zu sein. Eine Analyse dieser Selbstbezeichnung hätte es verhindert, Grandinger als liberalen Einzelgänger darzustellen. Es hätte aber Kerner auch vor der biographischen Falle bewahrt, die in der Überbewertung heroischer Taten von Einzelmenschen besteht. Die Biographie hätte dadurch eine über die heimatkundlich interessante Darstellung eines Einzelschicksals hinausgehende strukturelle Bedeutung bekommen. Die Konzentration Kerners auf den vermeintlichen Liberalismus Grandingers und die darauf gründende recht erfolglose Suche nach liberalen Mitstreitern im engeren Sinne aber verhindert jede alternative strukturelle Einordnung Grandingers. Eine solche hätte auch in der erstmals von Karl Möckl ausformulierten Beobachtung bestanden, dass der Kulturkampf durch eine Koalition aus höherem Klerus und staatlicher Bürokratie und eine dadurch bedingte größere Distanz zwischen niederem und hohem Klerus beendet wurde. Denn Grandingers politische Devianz lässt sich auch vor diesem Hintergrund verstehen.