Aktuelle Rezensionen
Regina Dauser/Peter Fassl/Lothar Schilling (Hgg.)
Wissenszirkulation auf dem Land vor der Industrialisierung
(Documenta Augustana 26), Augsburg 2016, Wißner, 260 SeitenRezensiert von Claudia Schemmer
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 21.05.2019
Der hier anzuzeigende Sammelband zeigt eindrücklich, welch anregende Erkenntnisse durch eine Disziplinen übergreifende Zusammenarbeit gewonnen werden können. In diesem Fall bündeln die Herausgeber, Regina Dauser, Peter Fassl und Lothar Schilling, Aufsätze von Historikern, Ethnologen, Sprachwissenschaftlern und Biologen, die im deutschsprachigen Raum an Universitäten, in Archiven, Museen oder der Ortsheimatpflege tätig sind. Sie alle bewegt die Frage nach Entstehung und Verbreitung von Wissensbeständen in ländlichen Räumen in der Frühen Neuzeit, für die vor einigen Jahren unter anderem Katharina Masel mit einer Studie über "Volksaufklärung und Kalender" wichtige Grundlagen geschaffen hat. Dieser Frage ist dann eine Tagung der Schwabenakademie Irsee im September 2013, als deren Veranstalter der Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Augsburg und der Bezirk Schwaben verantwortlich zeichneten, gewidmet. 16 der 23 Beiträge dieser Tagung finden sich in diesem Band wieder, eingerahmt von einer überaus hilfreichen Einleitung des Herausgeber-Trios sowie einem Schlusskommentar. Gerne hätte der interessierte Leser dabei auch Tagungsbeiträge der weiteren Referenten im Sammelband gefunden, wie die Überlegungen von Annerose Menninger zu „Konsuminnovationen auf dem Land“ oder von Eva Brugger zur „Wissensgeschichte der Wallfahrtspraxis im 18. Jahrhundert“. (Siehe hierzu den Tagungsbericht: Wissenszirkulation auf dem Land vor der Industrialisierung, 26.09.2013 – 28.09.2013 Irsee, in: H-Soz-Kult, 11.01.2014, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5180, zuletzt aufgerufen im Mai 2019).
Mit dem vorliegenden Band ergänzen die Herausgeber der Reihe Documenta Augustana die Forschungen in einer recht dynamischen geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin, der historischen Wissensgeschichte. Bereichernd ist dabei neben dem erwähnten interdisziplinären Ansatz auch der Fokus auf die nicht-urbanen Räume – die Autoren vermeiden dabei durchgängig den doch eher unscharfen Begriff des „ländlichen Raums“ und ersetzen ihn durch die Formulierung „auf dem Land“. Zeitlich geht es um die Entwicklung vor der Industrialisierung, konkret um die „Sattelzeit“ (S. 10) von 1750 bis 1850. Ohne in der Einleitung die Verwendung des auf Michel Foucault zurückgehenden Begriffs der „Wissenszirkulation“ eigens zu reflektieren, klären die Augsburger Historiker ihr Verständnis von Wissen, gerade im Unterschied zur Information, und machen deutlich, dass für sie die beteiligten Akteure ein wesentlicher Schlüssel zur Erschließung ihrer Forschungsfragen sind, insbesondere „wer zu welchem Zeitpunkt über welches Wissen verfügte, wie Wissen weitergegeben wurde, ob dabei ein Austausch oder aber einseitiger Transfer erfolgte und inwiefern Letzteres den Erfolg von Neuerungsbestrebungen beeinflusste.“ (S. 10) Generell soll untersucht werden, welche Faktoren auf Prozesse des Austauschs und der Weitergabe von Wissen retardierend oder katalysatorisch wirkten. Im Unterschied zur Tagungsstruktur wurden die 16 Beiträge lediglich danach kategorisiert, ob sie „explorative Zugänge zu Bayerisch-Schwaben“ bieten oder über diesen Raum hinausgehend andere regionale Bezugspunkte aus dem deutschen Sprachraum aufgreifen, die mit der Formulierung „Regionale Studien zu Akteuren und Feldern der Wissenszirkulation“ zusammengefasst werden.
Die 10 Beiträge unterscheiden sich in Ansatz und Umfang erheblich, was auch damit zusammenhängt, dass einige erste Einblicke in laufende Forschungsprojekte bieten, während andere ein Fazit mehrjähriger Untersuchungen darstellen. Den Anfang macht mit Gunter Mahlerwein ein ausgewiesener Experte für Agrargeschichte; er beschäftigt sich mit Agrarintensivierung und Wissenszirkulation, indem er vergleichende Beobachtungen an rheinhessischen, nordbadischen und schwäbischen Beispielen anstellt, und benennt Akteure und Medien des „agrarischen Modernisierungsprogramms“ (S. 17) – spannend ist besonders sein Hinweis auf die hohe Innovationskraft, die Zuwanderungsprozesse auslöste, etwa die Einführung von Tabak in der badischen Rheinpfalz durch Religionsflüchtlinge aus Frankreich und den Niederlanden. Niels Grüne untersucht im Anschluss „Wissenstransfer und politische Teilhabe: Agrarische Wissensbezüge als Partizipationsressource im 18. und 19. Jahrhundert“. Sein theoretisch fundiert eingebetteter Beitrag zeichnet für den unteren Neckarraum bzw. die badische Pfalz Kommunikationsprozesse in ihrem Wandel über etwa ein Jahrhundert nach, stets darauf bedacht, lokale und regionale Wissensprozesse mit der jeweiligen politischen Entwicklung auf überregionaler Ebene zu kontextualisieren. Ihm geht es, ebenso wie Mitherausgeberin Regina Dauser im folgenden Beitrag „‘Experten-Kulturen‘. Wissenszirkulation und Tabakanbau am Beispiel der Kurpfalz“ um die Frage, welche Kommunikationswege nachvollzogen werden können; beide betonen, dass das „top-down-Modell“ der Informationsweitergabe nicht genügt, um „komplexe Kommunikations- bzw. Implementationsprozesse“ (S. 37) zu erklären. Dauser scheut sich dabei nicht, auch die Herausforderungen bei der Erforschung dieser Transformationsprozesse zu benennen, die sich im Besonderen durch die Quellenlage ergeben. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Lesen des Aufsatzes von Sylvia Butenschön „Strategien, Akteure und Effekte staatlicher Obstbauförderung im Königreich Hannover“. Als Maßnahme zur Landesentwicklung investierte die Regierung des Kurfürstentums bzw. des späteren Königreichs Hannover in Baumschulen, um Wissensbestände über den Obstbau in der Breite zu vermitteln. Nachvollziehen lässt sich im Spiegel der Quellen dabei jedoch in erster Linie ein Wissenstransfer „in eine Richtung, vom Zentrum in die Peripherie“ (S. 49). Die Autorin, die mit dieser Abhandlung Zwischenergebnisse des an der TU Berlin beheimateten Forschungsprojekts „Obst auf dem Land“ vorstellt, äußert die Hoffnung, dass bis zum Abschluss des Projekts im Jahr 2015 „eine umfassendere Einschätzung möglich“ würde – ob dies der Fall war, erfährt der Leser leider nicht; hier wäre eine Aktualisierung von Seiten der Herausgeber hilfreich gewesen. Anschaulich und eine beeindruckend heterogene Quellenbasis nutzend stellt der Leiter des Gärtner- und Häckermuseums Bamberg, Hubertus Habel, in seinem Beitrag die dortige Entwicklung des Gemüsebaus vor; schon der Titel des Aufsatzes „‘Schdadsinäri‘, Knoblauch, ‚Mussäron‘. Handel, Migration und Innovationen der Bamberger Gemüsekultur“ macht neugierig, was sich hinter diesen historischen Gemüsesorten wohl verbergen könnte. Darüber hinaus erfährt der Leser etwas über die Einbindung Bambergs in überregionale Netzwerke und die beteiligten Akteure, über die Zirkulation des Gärtnerwissens und spezifische Blockaden sowie wiederum über die Problematik der erhaltenen Quellen. Ein aktuelles Thema behandelt Stefan Dornheim in seiner Abhandlung „Wissenschaft versus Tradition? Die Physikalisch-oeconomische Bienengesellschaft der Oberlausitz und die Anfänge agrarischer Volksaufklärung in Sachsen“, nämlich das Bienenwesen und die Förderung von Imkereiwissen auf dem Land; konkret stellt der Mitarbeiter des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden den Pfarrer Adam Gottlob Schirach dar, der in seinen Publikationen seine Aktivitäten der Wissensverbreitung dokumentiert und reflektiert. Über das Fallbeispiel hinaus bieten sich hier allgemeinere Einblicke in Träger und Medien der Volksaufklärungsbewegung. Umfassend und auf breiter theoretischer Grundlage aufbauend nimmt Johann Kirchinger Franziskus Töpsl in den Blick, der als Propst des Stifts der Augustiner-Chorherren im oberbayerischen Polling dazu beitrug, dass sich dieser Ort zu einem der Zentren der katholischen Aufklärung im deutschen Sprachraum entwickelte. Im Besonderen interessiert sich der Wirtschaftshistoriker Kirchinger dafür, wie sich die Diskrepanz erklären lässt, dass trotz der dynamischen theoretischen Wissensentwicklung der Gutsbetrieb des Stifts in der Praxis die „Vorstellung eines statischen Wissensbestandes“ (S. 125) folgte. Besonders wichtig erscheint im Rahmen dieser Auseinandersetzung die Bedeutung der religiös begründeten Wissensbestände, etwa die Deutung der klimatischen Verhältnisse oder die Anbindung des landwirtschaftlichen Arbeitskalenders an den Ablauf des Kirchenjahres. Einen vielversprechenden Fokus auf die Quellen wählt Jana Sprenger, indem sie untersucht, welches Wissen über Bedrohungen landwirtschaftlicher Belange zirkulierte, konkret wie mit tierischen und pflanzlichen Schädlingen umgegangen wurde. Die Quellen gewähren für Sprengers Untersuchungsgebiet und -zeitraum, das vorindustrielle Brandenburg, Einblick in die Produzenten dieser Schädlingsdiskurse, zu denen die preußische Regierung ebenso zählte wie von Schädlingsbefall betroffene Bauern. Dass im Bereich der Schädlingsbekämpfung eine Zirkulation von Wissen stattfand, belegen etwa staatliche Erlasse, die auf Erfahrungen von Landwirten zurückgreifend, entsprechende Hinweise veröffentlichten. Mit der „Vermittlung herrschaftlicher Weisungen zum Schutz und zur Bewirtschaftung des Waldes in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg“ beschäftigt sich Daniel Burger. Er wertet als Hauptquellenbestand etwa 100 Waldmandate, also öffentlich verkündete Anordnungen oder Verbote, aus, die die Stadt als einer der größten Waldbesitzer im Reich zwischen 1530 und 1800 für ihre beiden Waldämter Lorenzi und Sebaldi erließ. Nicht nur in diesem Beitrag scheint die essentielle Rolle der Pfarrer bei der Verbreitung der Inhalte dieser Erlasse auf; ohne die Kleriker sind Kommunikationsprozesse und Wissenszirkulation auf dem Land schlicht nicht vorstellbar, auch wenn Burger den Wissensbegriff in seinen Ausführungen nicht explizit nutzt. Lothar Schilling beschließt mit seiner Analyse des Churbaierischen (Münchner) Intelligenzblatts diesen ersten Teil des Sammelbands und geht der Frage nach, ob es sich bei diesem Periodikum tatsächlich um ein „Medium der Wissenszirkulation auf dem Land“ handelt. Nicht nur der Herkunft – Schilling nimmt den in Traunstein geborenen Franz Seraph Kohlbrenner in den Blick, der das Blatt von 1766 bis 1783 herausgab und maßgeblich prägte - und dem Forschungsschwerpunkt der Rezensentin (überregionale und internationale Verflechtungen) geschuldet konnte dieser Beitrag in besonderer Weise überzeugen. Der Inhaber des Augsburger Lehrstuhls für Neuere Geschichte legt das in der Einleitung des Sammelbands angelegte Fragenmuster sorgfältig über die Auswertung dieses publizistischen Mediums der ökonomischen Aufklärung. Kritisch hinterfragt er die Rezeptionsgeschichte sowie die beteiligten Akteure, anschaulich verdeutlicht er Inhalte dieser Publikation und zurückhaltend, aber doch anregend zeigt er Ansätze des Vergleichs und Transfers mit anderen Regionen des Reiches und Europas auf.
Reinhold Lenskis gestaltet den Auftakt des zweiten Teils des Sammelbands, der „explorative Zugänge zu Bayerisch-Schwaben“ sucht, indem er „die landwirtschaftlichen Modernisierungsversuche im hochstiftischen Pflegamt Bobingen am Ende des 18. Jahrhunderts“ analysiert. Überwiegend auf Basis von Quellenbeständen aus der Überlieferung des Hochstifts Augsburg im Staatsarchiv Augsburg geht er dem Aushandlungsprozess nach, den agrarreformatorische Ansätze der Aufklärungszeit wie die Aufteilung der Allmende oder die Einführung der Stallfütterung auf lokaler Ebene bei den Landwirten in den untersuchten Gemeinden auslösten. Nicht nur in diesem Beitrag scheint als Resümee auf, dass sich Veränderungen stets als „Ergebnis eines Zusammenspiels des neuen Wissens mit althergebrachten Erfahrungen, praktischen Verfahren und traditionellen Werten“ (S. 192) erklären lassen. Corinna Malek begibt sich in ihrem Beitrag auf die mühsame Suche nach Spuren der „Moorkultur vor 1800“ und gibt Einblicke in „Wissen und Praxis an altbayerischen und schwäbischen Beispielen“ – mühsam vor allem deswegen, weil in Bayern und Schwaben zwar bereits seit Beginn des 18. Jahrhunderts praktische Maßnahmen ergriffen wurden, um aus Mooren durch Melioration landwirtschaftlich nutzbare Flächen zu gewinnen, jedoch erst in der 2. Hälfte des Jahrhunderts allmählich eine begleitende theoretische Diskussion in den Quellen greifbar wird. Mit dem katholischen Priester Christoph von Zwerger stellt Wolfgang Ott einen der „Pfarrer im Dienste der Bauernaufklärung“ vor, wie sie bereits in mehreren der vorangegangenen Beiträge erwähnt wurden. Der promovierte Theologe wirkte von 1779 bis 1830 in dem nahe Ulm gelegenen Dorf Illerberg; dank seines breiten wissenschaftlichen Interesses – er trug im Laufe der Jahrzehnte eine umfassende Bibliothek zusammen – verfügte er über ein umfassendes aufklärerisches Wissen, das er in der eigenen Pfarrökonomie dem Praxistest unterzog, das ihn aber auch zum Bau einer neuen Schule bewegte: Erfolge und Misserfolge seiner Mittlerrolle hielt er zwischen 1796 und 1828 schriftlich in Notizen bzw. Tagebüchern fest. Ebenfalls als Reformer wirkte Fürst Kraft Ernst zu OettingenWallerstein, dessen „landwirtschaftliche Modernisierungsmaßnahmen im Fürstentum Oettingen-Wallerstein im ausgehenden 18. Jahrhundert“ Hartmut Steger am Beispiel des Kleeanbaus knapp anreißt – als Experten hatte der katholische Fürst übrigens wiederum einen Kleriker, den evangelischen Pfarrer Johann Friedrich Mayer, zu Rate gezogen, der ein umfassendes schriftliches Gutachten erstellte, das wiederum Steger als Hauptquelle diente. Im vorletzten Beitrag stellen die Sprachwissenschaftler Simon Pickl und Simon Pröll in Kurzform ihre beiden abgeschlossenen Dissertationsprojekte vor, in denen beide mit Hilfe geostatistischer Methoden sprachliche Daten des 14-bändigen Sprachatlasses von Bayerisch-Schwaben auswerteten. Sie erkennen „die Dialekte Bayerisch-Schwabens als Spiegel historischer Kommunikationsräume“, veranschaulichen dialektale Gemeinsamkeiten, Übergänge und Grenzen mit einer Vielzahl von Karten und Statistiken und deuten abschließend die Relevanz ihrer Forschungen für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Wissenszirkulation im bayerisch-schwäbischen Raum an. Den Abschluss des Hauptteils bildet die Auseinandersetzung des Mitherausgebers Peter Fassl mit den „bayerischen Physikatsberichten (1858/1861) als Quelle der Agrargeschichte am Beispiel von Bayerisch-Schwaben“. Der schwäbische Bezirksheimatpfleger erkennt diesen medizinischen Topographien – erhalten sind für das Untersuchungsgebiet 42 – eine hohe Bedeutung als historische Quelle zu, da sie einem festen Schema folgend vielfältige topgraphische und ethnographische Daten umfassen, beispielsweise Beschreibungen der klimatischen Bedingungen, der Wohn- und Esskultur, aber auch der landwirtschaftlichen Verhältnisse. In kommentierender Form halten diese Physikatsberichte den beobachtbaren Wandel des agrarischen Wissens fest und versuchen ihn zu erklären, sodass eine Wissensgeschichte des ländlichen Raums nicht auf diese wertvolle Überlieferung verzichten sollte. Ein strukturierender und analytischer Schlusskommentar von Marcus Popplow zur „Wissenszirkulation auf dem Land vor der Industrialisierung“, der sich eng an der Tagung von 2013 orientiert, rundet den Sammelband ab. Es wird deutlich, dass dieses dynamische Forschungsfeld viele Perspektiven für zukünftige Forschungen bietet, zumal intensiver nach den Motiven der Akteure bzw. nach den „Impulsen von Modernisierungsprozessen“ (S. 259) gefragt und auch die aktuelle Dimension der Thematik angesichts der Diskussionen zur Zukunft ländlicher Räume nicht außer Acht gelassen werden sollte.
Zusammenfassend ist dem Band eine breite Leserschaft zu wünschen, denn durch die Interdisziplinarität der Beiträger sowie der heterogenen Quellenbestände, die sie nutzten, gibt er Anstoß zu vielfältigen Anschlussforschungen und stellt eine gute Grundlage dar für Transfer- und Vergleichsstudien für andere Akteure und Räume.