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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Magdalena Pernold

Traumstrasse oder Transithölle? Eine Diskursgeschichte der Brennerautobahn in Tirol und Südtirol (1950-1980)

 (Histoire 92), Bielefeld 2016, Transcript Verlag, 369 Seiten
Rezensiert von Rudolf Himpsl
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 21.05.2019

Große Infrastrukturprojekte erhalten nicht selten eine symbolische Aufladung. In Bayern war dies etwa während der 1960er- bzw. 1970er-Jahre der Fall, als der Rhein-Main-Donau-Kanal rhetorisch zum „Europa-Kanal“ erhöht wurde. Dies sollte dessen völkerverbindenden Charakter über den Eisernen Vorhang hinweg betonen und somit seine Fertigstellung forcieren. Geradezu beispielhaft lässt sich eine solche symbolische Aufladung anhand der Brennerautobahn beobachten. Am stärksten verdeutlicht dies die Benennung des Streckenteils zwischen Patsch und Schönberg als „Europabrücke“, wie er seit dem Spatenstich am 25. April 1959 bezeichnet wurde. Dies sollte den Beitrag zur Verbindung der Völker beiderseits der Alpen betonen. Mit Blick auf die gesamte Brennerautobahn erfolgte eine „Umcodierung des negativ besetzten Topos ,Brenner‘ von der politischen Konfliktzone und symbolisch aufgeladenen Demarkationslinie hin zu einem Sinnbild der Versöhnung“, zu einem „Friedens- und Fortschrittssymbol“ (167), wie Magdalena Pernold in ihrer Diskursgeschichte zu dieser wichtigen Verkehrsverbindung für den Zeitraum von 1950 bis 1980 anführt. Der Publikation liegt ihre am Institut für Bayerische Geschichte der LMU begonnene und an der Universität Innsbruck abgeschlossene Dissertation zugrunde.

Bei ihrer diskursanalytischen Untersuchung nimmt Pernold eine dezidiert landes- und regionalgeschichtliche Perspektive ein. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht die Entscheidungsträger auf der für Verkehrsfragen dieser Größenordnung eigentlich maßgeblichen nationalstaatlichen Ebene, sondern die Akteure in Tirol und Südtirol. Auf diese Weise kann die Autorin eindrücklich zeigen, wie unter anderem die Trienter und Bozener Handelskammer gegen Ende der 1950er Jahre die Debatte über den Ausbau der Brennerroute vorantrieben, als die italienische Regierung andere Projekte, vor allem im Süden Italiens, bevorzugte.

Bereits der Titel des Buches verweist auf den erheblichen Wandel, dem die Debatten während des Untersuchungszeitraums unterlagen. In einer „Phase der Etablierung des Brennerautobahndiskurses“ (von der ersten Hälfte der 1950er Jahre bis 1959) setzten sich die Autobahnbefürworter erst allmählich durch. Die „Position einer möglichst raschen, gegenüber den anderen nationalen Autobahnprojekten prioritären Verwirklichung der Brennerautobahn aufgrund des starken Verkehrsaufkommens auf der Brennerstraße“ (308) wurde allgemeiner Konsens.

Aus bayerischer Sicht interessieren hier besonders Wortmeldungen aus dem Freistaat zur Trassenführung sowie Forderungen nach einem beschleunigten Ausbau. Diese sind in erster Linie vor dem Hintergrund der Randlage Bayerns zu sehen. Die Landespolitik befürchtete, dass die Gründung der EWG und des Gemeinsamen Marktes die ohnehin markt- und revierferne Position des Landes weiter zu verschlechtern drohte. Zudem war München mit seiner Großmarkthalle als wichtigem Umschlagplatz für Wein, Obst und Gemüse aus Italien stark am Brennerausbau interessiert. Aus diesen Gründen sprach sich das Wirtschaftsministerium in München gegen eine während der 1950er Jahre diskutierte Tunnellösung für den Straßenverkehr aus, da es eine solche für zu aufwendig und unverhältnismäßig teuer im Vergleich zur Trassenführung über den Brenner erachtete. Darüber hinaus betonte die Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern die Notwendigkeit eines beschleunigten Ausbaus der Schienen- und Straßenverbindungen, da sie – wie auch die Politik und Wirtschaft in Tirol und Südtirol – eine Verkehrsablenkung nach Westen befürchtete, nachdem in der Schweiz alpenüberquerende Strecken bereits fertiggestellt bzw. baureif projektiert worden waren. Auf die IHK-Initiative hin setzte sich der bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl bereits kurz nach seinem Amtsantritt 1957 beim Bundesverkehrsministerium für eine Verbesserung der Brennerpassstraße ein. Noch in den darauffolgenden Jahren zeugte die Teilnahme hoher Vertreter des Münchner Wirtschaftsministeriums an Brennerkonferenzen sowie an den Eröffnungsfeiern fertiggestellter Teilstücke vom großen bayerischen Interesse an dieser Verbindung.

Der allgemeine Konsens zum Brennerausbau ließ in einer zweiten „Phase der Stabilität des Brennerautobahndiskurses“ (1959-1974/75) bestimmte  Denk- und Handlungsmöglichkeiten als zwingend erscheinen. Die wenigen Personen, die sich außerhalb dieser Diskursgrenzen stellten, mussten mit Anfeindungen der Brennerautobahnakteure rechnen. Der eingangs angeführte europäische Topos stellte dabei nur einen von insgesamt fünf maßgeblichen Themensträngen in den Diskussionen dar. Als weitere behandelt die Autorin: die „Gefahr der Umfahrung“ Tirols und Südtirols durch einen zügigeren Ausbau der Verkehrswege in der Schweiz (II); die Autobahn als „Tiroler Projekt“, das die Verbindung zwischen Nord- und Südtirol stärken sollte (III); Trassenstreitigkeiten als Ausdruck kleinräumiger Interessen (IV); sowie die Brennerautobahn als „Traumstraße der Alpen“, die als „Wunderwerk“ und „technisches Glanzstück des Straßenbaus“ galt (V).

Erst in einer dritten Phase änderte sich mit einem allmählichen Paradigmenwechsel seit der Mitte der 1970er Jahre die kollektive Wahrnehmung der Autobahn. Nachdem während der 1960er und noch zu Beginn der 1970er der Ausbau des Straßennetzes und die Erschließung des Landes als Voraussetzung für ökonomische Prosperität gegolten hatten, wurde das Wort „Transit“ nun zunehmend negativ konnotiert und entwickelte sich in Tirol gar zu einem Reizwort. Die Bevölkerung entlang der Brennerautobahn sah sich nun mit den sozialen und ökologischen Auswirkungen des Verkehrs konfrontiert. Die Schadstoff- und Lärmbelästigung führte zu gesundheitlichen Schäden und zu touristischen Einbußen, so dass sich in den Anrainergemeinden Widerstand regte. Pernold geht in diesem Zusammenhang vor allem auf den weiteren Ausbau der Hauptmautstelle in Schönberg ein, das schon zuvor den Beinamen „Lärmdorf“ erhalten hatte.

Breit verortet die Autorin die Debatten über die Brennerautobahn und die konkreten Bauvorhaben sowohl in der Tiroler und Südtiroler bzw. österreichischen und italienischen Nachkriegsgeschichte als auch in der allgemeinen Entwicklung der europäischen Verkehrswege. Jedoch fällt es dem Leser angesichts einer an manchen Stellen stark deskriptiven Reihung von Wortbeiträgen aus Tageszeitungen und anderen Publikationen schwer, die entsprechenden Urheber über den zitierten Einzelbeitrag hinaus zu verorten. Anmerkungen gerade auch zu deren Raumvorstellungen, ihren mental maps, wären hier hilfreich – insbesondere da die Autorin dezidiert an den Spatial Turn anknüpft und im Allgemeinen die diskursive Verbindung von Raum und Verkehr nachvollziehbar macht. Darüber hinaus bietet die Studie gerade auch für Arbeiten zur bayerischen Nachkriegsgeschichte gute Vergleichsmöglichkeiten. Schließlich verdeutlicht sie, wie im Zuge eines wirtschaftlichen Aufholprozesses zuvor agrarisch geprägter Gebiete die Kritik an zunächst für zwingend erforderlich gehaltenen Infrastrukturprojekten wächst und das Primat der wirtschaftlichen Prosperität mit wachsendem Wohlstand kritisch hinterfragt wird.