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Jutta Tappeiner/Hans Grießmair

Lebendige Bräuche in Südtirol

Herausgegeben von der Südtiroler Bäuerinnenorganisation, Bozen 2018, Athesia, 320 Seiten mit zahlreichen Farbabbildungen
Rezensiert von Helga Maria Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.06.2019

Die neue Heimatwelle bringt nicht nur Wiesndirndl und Lederhosen mit sich, sondern auch die vermehrte publizistische Beschäftigung mit Bräuchen. Zeitschriften über das Landleben, Fernsehdokumentationen und Bücher zum Thema fallen zunehmend auf. Der Marktführer dieser Special-Interest-Magazine steigerte die Startauflage von 80 000 Exemplaren in einem Jahrzehnt auf eine Million. Das ist dreimal so viel wie die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland; die Leserschaft macht das Vierfache der in der Landwirtschaft Beschäftigten aus. Zielgruppe sind jene StadtbewohnerInnen, für die das Land einen Sehnsuchtsort darstellt. Ganz anders beim vorliegenden Buch. Der mehr als 300-seitige Band „Lebendige Bräuche in Südtirol“ ist von Bäuerinnen für Bäuerinnen. Die Kräuterpädagogin Jutta Tappeiner hat die Fülle der von der Südtiroler Bäuerinnenorganisation gesammelten Informationen über alte und neue Bräuche kompetent zusammengefasst. Als fachlicher Berater und Mitautor fungierte der Volkskundler Hans Grießmair, der 1976 das Südtiroler Landesmuseum für Volkskunde aufgebaut und dann langjährig geleitet hat. Die Fotos sind perfekt inszeniert. Die Grafikerin Heike Santer hat großartige Arbeit geleistet.

Am Beginn der „Brauchtumsfibel“, wie der Verlag das Buch nennt, stehen nach den Vorworten eine ausführliche Einleitung und ein Interview mit Hans Grießmair, der noch bei Karl Ilg promoviert hat. Der Nestor der Südtiroler Volkskunde erläutert Begriffe wie Brauch, Brauchtum, Tradition und Rituale. Dabei betont er den ständigen Wandel, dem Bräuche unterliegen: „Wenn wir das Absterben der alten Bräuche beklagen, sollen wir uns dabei auch fragen, was ihnen die Grundlage, den Sitz im Leben, entzogen hat. Wenn wir von Bräuchen reden, so ist immer nach dem Was, Wo, Wie, Warum, Seit-wann oder Seit-wann-nicht-mehr zu fragen.“ (19) Erklärungen über den Kalender, Ostern, Weihnachten und andere Feste wirken informativ. Die Frage nach „Heidnischen Fruchtbarkeitsritualen“ hätte der Interviewer (die Interviewerin?) besser nicht gestellt.

„Uralt“, „Fruchtbarkeitsrituale“, „Winterdämonen“ und so weiter sind Reizworte, die man in Publikationen und auf Internetseiten über „Brauchtum“ nicht lange suchen muss. Auch in diesem Buch findet man sie – meist geschickt getarnt. Offenbar ist bekannt, dass sie nicht mehr zeitgemäß sind, doch will man sich davon nicht distanzieren. So ist die Kerzenweihe „noch heute im Brauchtum verankert. Sie soll – laut Überlieferung – ein Überbleibsel des einstigen Reinigungs- und Feuerrituals sein, bei welchem [...] die Winterdämonen vertrieben wurden.“ (36) Zum „Ursprung der Fasnacht“ werden verschiedene Deutungen angeboten, aber jene favorisiert, die sich von „vaselen“ („fruchten und gedeihen“) ableitet: „Letzteres deckt sich mit dem Glauben in der Bevölkerung, die Fasnacht hänge mit alten, vorchristlichen Fruchtbarkeitsriten zusammen.“ (48) Beim Scheibenschlagen liest man: „Damit dieser Brauch aus der heidnischen Zeit bis heute überleben konnte, wurde er mit christlichen Symbolen versehen. [...] Es hält sich bis heute der Volksglaube, dass [...] es sich bei diesem Brauch um einen Fruchtbarkeitsritus handle.“ (66) Dass derartige Interpretationen noch immer vielen gefallen, zeigt unter anderem der Kommentar: „Die Symbolik des Lebensbaumes auf dem blauen Schurz“ (289).

Das Buch nennt die Bräuche bei ihrem mundartlichen Namen und erklärt das „Was, Wo, Wie, Warum usw.“. Sprüche, Wetterregeln und Rezepte typischer Festspeisen verstärken das Lokalkolorit. Die Darstellung der Bräuche im Jahreskreis beginnt, wie das Bauernjahr, zu Lichtmess. Festanlässe wie Wallfahrt, Kirtag, Almleben erfahren ihre Würdigung wie auch „Krampusweckn und Nigglas-Spiel“, „Krippele schaugn und Klöckln“ und neue Erscheinungen wie Halloween oder touristische Almabtriebe. Der zweite Teil ist den Bräuchen im Lebenskreis gewidmet. Manches findet sich mit kleinen Abweichungen in ganz Südtirol, anderes nur in einzelnen (deutschsprachigen) Ortschaften.

Das ebenso professionell wie liebevoll gestaltete Buch ist das Resultat einer Bestandsaufnahme auf breitester Basis. Die 1981 gegründete Südtiroler Bäuerinnenorganisation, eine Teilorganisation des Südtiroler Bauernbundes in Bozen, hat 16 000 Mitglieder. Aus allen sechs Bezirken haben sie in jahrelanger Arbeit Belege über Bräuche gesammelt. Das reiche Material wäre auch für eine wissenschaftliche Bearbeitung interessant. Die Frauen sehen es als „Auftrag, Anliegen und Pflicht, Südtiroler Bräuche zu pflegen, Traditionen und Kultur weiterzugeben und Sorge zu tragen, dass die Südtiroler Bräuche auch in Zukunft noch Teil des bäuerlichen Lebens sind“. Mit diesem Buch ist ihnen ein wertvoller Beitrag gelungen. Jutta Tappeiner wünscht sich, es möge „Nachschlagwerk, Bilderbuch und Anleitung in einem sein und neugierig machen, den einen oder anderen Brauch selber (wieder) zu leben“.