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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Marcus M. Payk

Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg

(Studien zur Internationalen Geschichte 42), Berlin/Boston 2018, de Gruyter, VIII, 739 Seiten
Rezensiert von Christoph Becker
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 04.06.2019

1. Das Fragezeichen im Titel ist eine Herausforderung. Seit Jahrtausenden fassen Menschen Recht fraglos als Friedensordnung auf. Herrschaft garantiert ihren Zugehörigen Frieden durch Wehrbereitschaft nach außen und Pflege des Rechts als Instrument gesellschaftlicher Integration. Beispiele geben das Alte Testament mit Psalm 45.4-8 (9. Jh. v. Chr.), Jesaja 9.1-6 (8. Jh. v. Chr.), Chlodwigs Vorrede zur Lex Salica (um 510 n. Chr.), Justinians Vorrede zu seinem mit Gesetzeskraft ausgestatteten juristischen Anfängerlehrbuch Institutiones (533 n. Chr.). Recht ermöglicht den Menschen Leben in Frieden gemäß den Vorreden zum Schwabenspiegel (um 1275) und zu unzähligen Stadt- und Landrechten des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Payk nimmt hierauf nicht Bezug. Vielmehr findet er in einer zeitlich weitgehend abgeschlossenen Perspektive vor, in und nach dem Ersten Weltkrieg eine eigentümliche Entwicklung im Umgang der Staaten miteinander, der auf Regelbildung und Einfordern von Regeleinhaltung gründet. Das Fragezeichen mag für Abweichungen zwischen Wunsch und Wirklichkeit stehen.

2. Payks Abhandlung lag im Jahre 2016 der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift vor. Für seine Forschungen genoss Payk Förderung durch die Volkswagen-Stiftung. Betreuer der Studie war Martin Sabrow, die weiteren Gutachten erstatteten Gabriele Metzler (Berlin) und Andreas Wirsching (München und Berlin).

3. Das Buch spürt den rechtlichen Argumentationsmechanismen nach, welche die innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen aller Seiten und die diplomatische Formung der Friedensverträge der Siegermächte mit den unterlegenen Mächten (Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien, Osmanisches Reich) aus den Jahren 1919 und 1920 beherrschten. Payk schöpft tief aus unübersehbaren Beständen gedruckter und ungedruckter Quellen und dringt ebenso tief in zeitgenössische wie jüngere Literatur ein. Dabei fällt freilich eine bemerkenswerte Distanz auf: Die endgültigen Inhalte der Verträge gelangen wenig zur Sprache. Payk macht die verbindliche Quelle der Friedensverträge nicht namhaft. Deren Verkündung in den nationalen Gesetzblättern verschweigt das Quellenverzeichnis (S. 674 f.); dort findet man beispielsweise zum Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich nicht das Gesetz über den Friedenschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919, Reichs-Gesetzblatt 1919, S. 687.

4. Payk setzt mit der Beobachtung an, dass die Friedensverträge von 1919 und 1920 in ihrer rechtlichen Detailfülle eine weltgeschichtliche Neuheit darstellen (S. 1 ff.). Freilich würdigt er einzelne Bestimmungen nur kursorisch. Payk zeichnet die Gesamtlinie nach. Einzelheiten haben dort nur exemplarische Funktion (zum Beispiel, wenn Payk die Verhandlung mit der deutschen Delegation vom 7. Mai 1919 in Versailles schildert (S. 394 bis 406).

5. Die Arbeit hat eine scharf gezeichnete Disposition. Einsichtig legt Payk nach der Einführung eine Chronologie zugrunde. Der Zeitlauf reicht von der völkerrechtlichen Entwicklung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Kap. I) über den Ersten Weltkrieg (Kap. II), die Anstrengungen zu seiner Beendigung (Kap. III) sowie die Aushandlung der Verträge (Kap. IV) und ihre Gestaltung (Kap. V) zu den Wirkungen der Verträge (Kap. VI) und einem Resümee. Die Sprache des Buches ist anschaulich, der Duktus klar.

6. Das erste Kapitel überschreibt Payk als Fortschrittserzählung des Völkerrechts. Payk beugt sich hier scheinbar einer Mode der Geschichtsschreibung, welche alles und jedes in sogenannte Narrative fassen möchte, worin die Grenzen zwischen Wissenschaft und Schöngeisterei verschwimmen. In der Sache verweist Payk richtig auf die Friedenskonferenzen im Haag von 1899 bis 1907 mit den dort geschaffenen Ordnungen - zu denen man fragen kann, ob der Erste Weltkrieg Beweis ihres Versagens oder seine Beendigung durch ausführliche Verträge Beweis ihrer Bewährung lieferte (zutreffend ist wohl beides). Payk spricht von Verrechtlichung der Welt im 19. Jahrhundert (S. 29). Damit bezeichnet er die Suche nach einer Weltrechtsordnung für das Verhältnis der Staaten zueinander, das heißt eine Fortentwicklung des modernen Völkerrechts im 19. Jahrhundert. Man könnte auch sagen, dass die Staaten nun erkennbar als Rechtspersonen handeln, die als solche (und nicht mehr nur in ihren Repräsentanten als natürlichen Personen) wie Individuen Frieden wünschen. Diese Vollendung einer Jahrtausende langen, zähen Entwicklung der sogenannten moralischen Person ist in der Tat eine Leistung des 19. Jahrhunderts.

Hingegen ist die detailreiche Niederlegung von Rechten und Pflichten in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg nicht ganz so weit alleinstehend, wie Payk angibt (S. 2: “eigentümlich isolierte, geradezu erratische Stellung”). Dies zeigt ein Blick etwa auf die Friedensverträge des Jahres 1648 von Münster und Osnabrück. Und überhaupt ist die Erklärung von Herrschaft durch Recht eine Idee, die das gesamte Alte Reich durchzog, dessen Legitimität sich aus der Vorstellung einer Kontinuation des römischen Rechts als des “Kaiserrechts” (ius caesareum) zum Beweis für Kontuinität des Imperiums speiste. Deswegen erscheint Payks Befundkoppelung problematisch, dass die Berufung der Staaten auf Recht überhaupt im 19. Jahrhundert erwachsen sei und das Recht identitätsstiftende Kraft im 19. Jahrhundert gewonnen habe (S. 29). Die von Payk angeführten Merkpunkte Vertragsfreiheit, Privatautonomie, Gleichheit und Verfassungsurkunde sind im 19. Jahrhundert in der Tat wichtige neu betonte Gestaltungselemente zahlreicher Rechtsordnungen auf der Welt; es ist aber nicht erst mit ihnen das Recht an sich als Lebensordnung gefunden.

Zutreffend ist Payks Feststellung, dass Kodifikationen des 19. Jahrhunderts die Partikularrechte verdrängen und nationale Identität stiften (S. 29). Beispiele geben Code civil (Frankreich 1804), Codice civile (Italien 1865), Codigo civil (Spanien 1889), Bürgerliches Gesetzbuch (Deutschland 1896). Unpassend ist indes die Bezeichnung der verdrängten Partikularrechte als dehnbare “Arrangements” aus Sitte, Moral, Tradition und Konvention ohne juristische Fassung (S. 29). Allemal beizupflichten aber ist Payks Feststellung, dass die nationalen Rechtsvereinheitlichungen die Idee beflügeln, auch international könnte Recht geschaffen werden (S. 29 f.). Erfolgsbeispiele liefern die internationalen Verträge des 19. Jahrhunderts über Mobilität (Binnenschiffverkehr, Eisenbahnverkehr, Postverkehr).

7. In Kapitel II analysiert Payk den Ersten Weltkrieg (mit Anleihe bei Rudolf von Ihering?) als “Kampf um das Recht” (S. 79 ff.). Payk will eine Singularität in der Nutzung juristischer Argumentationen aller Beteiligter darstellen. Das zwingt ihn, die Erkenntnis nur beiläufig zuzulassen, dass Krieg immer schon zu legitimieren gesucht wurde (S. 82). So bleibt die Dogmatik vom sogenannten iustum bellum nur angedeutet. Den Rahmen des Buches müsste sprengen, wollte man mit Beispielen in Erinnerung rufen, dass Kriege immer (auch) schon mit Anführen wirklicher oder angemaßter Rechte (etwa Erbfolge betreffend) geführt wurden. Plausibel rückt Payk als augenfälligsten Rechtsbruch im Ersten Weltkrieg den Einmarsch der deutschen Truppen ins neutrale Belgien in den Blick (S. 82); markant spricht Payk den Vorfall als Urszene aller Rechtlosigkeit im Weltkrieg an (S. 496). Damit schafft Payk den Rahmen für seine ausführlichen Würdigungen der Waffenstillstandsbemühungen (Kap. III), des Gangs der Vertragsverhandlungen (Kap. IV) und der inhaltlichen Gestaltung (Kap. V), letzterer wohlgemerkt nur in ihren Grundlinien nachspürend.

8. Das den Wirkungen gewidmete sechste Kapitel schildert die politischen Diskussionen während des Krieges um ein Recht jedes Staates zu jederzeitiger Kriegseröffnung. Dieses ius ad bellum (im Unterschied zur Achtung der Regeln für das Verhalten im Krieg: ius in bello; S. 498) war am Anfang des 20. Jahrhunderts weithin unterstellt (S. 498, 502). Mit Beginn des Ersten Weltkrieges geriet es jedoch in Zweifel. Daraus erwuchs, von Payk zu Recht hervorgehoben, die Forderung nach Bestrafung des für den Kriegsbeginn verantwortlichen deutschen Kaisers (S. 498 f.). Diesem Verlangen übergeordnet war die Idee, die internationale Ordnung als eine Herrschaft des Rechts (und nicht als willkürliche Macht des Siegers, als Herrschaft kraft militärischer Überlegenheit; S. 495) wiederherzustellen. Payk weist nach, wie die Welt über die Friedensverträge hinausreichende rechtsförmige Folgerungen gewann: Prinzipien von Strafverfolgung (S. 498) und Reparation (S. 520), Schaffung des Völkerbundes (S. 543) samt Organisation kollektiver Sicherheit (S. 561) und internationaler Gerichtsbarkeit (S. 577).

9. In “Bilanz und Ausblick” gibt Payk eine in ihrer Konsequenz überzeugende Zusammenfassung seiner Befunde: Der Erste Weltkrieg trieb die Entwicklung des Völkerrechts voran. Realitätsgerecht stellt Payk jedoch auch einhundert Jahre später eine weiterhin staatenzentrierte Weltrechtsordnung fest. Für in absehbarer Zeit nicht leistbar sieht Payk die von Hans Kelsen prognostizierte Entwicklung eines Weltstaates aus der Weltrechtsordnung (S. 655, 665).