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Aktuelle Rezensionen


Michaela Fenske

Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur 1950– 1974

Frankfurt am Main/New York 2013, Campus, 437 Seiten mit 9 Abbildungen, 1 Tabelle
Rezensiert von Konrad J. Kuhn
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.06.2019

Die Demokratie ist gegenwärtig in Gefahr – will man den politischen Warnrufen glauben, dann fordern populistische Strömungen, soziale Spannungen, Verschwörungstheorien, autoritäre Regimes und eine neue offene Machtpolitik die westeuropäischen Demokratien heraus. Gerade darum lohnt die Lektüre dieser gleichermaßen klug wie konzis geschriebenen Studie auch einige Jahre nach Erscheinen: Das Buch befragt das Verhältnis zwischen der offiziellen Politik und dem Lebensalltag breiter Bevölkerungskreise und zeigt anhand von „Bürgerbriefen“ aus Niedersachsen, wie eine wechselseitige politische Kommunikation im Alltag von Menschen in der frühen Bundesrepublik stattfand. Im Zentrum steht die mikroanalytische Perspektive auf politische Teilhabe in einer jungen Demokratie. Ob und wie sich ein solches Nahverhältnis auch in heutigen unruhigen Zeiten manifestiert, ist nicht Thema der Arbeit, zeigt aber, wie anregend die Studie auch für aktuelle Kontexte ist – auch wenn sie einer solchen aktualitätsbezogenen Relevanzzuweisung eigentlich in keinster Weise bedarf.

Die Arbeit von Michaela Fenske – es handelt sich um die in Göttingen entstandene Habilitationsschrift der mittlerweile an die Universität Würzburg berufenen Autorin – nimmt sich einen Quellenkorpus von Schriftstücken vor, der sich in verschiedenen staatlichen Archiven findet, der für demokratische Staaten bisher aber nur selten analysiert wurde. In diesen Briefen wenden sich Einzelpersonen direkt an die Regierenden und belegen damit ein staatsbürgerliches Verständnis und einen expliziten Wunsch nach einem direkten Dialog. Aus den von ihr untersuchten 1 000 Bürgerbriefen an die verschiedenen niedersächsischen Ministerpräsidenten und aus den 800 Petitionen an den Landtag rekonstruiert Fenske eine politische Kulturgeschichte der „kleinen Leute“, ihrer Alltage, Sorgen, Nöte, Wünsche, Werturteile und Positionen. Damit geht die Autorin ein Desiderat an: Sie schreibt eine historisch-anthropologische Kulturgeschichte des Politischen für die deutsche Nachkriegszeit, und sie tut dies, indem sie nach dem mit der Praxis des Schreibens aus- und eingeübten Selbstverständnis der BürgerInnen fragt. Die titelgebende These zielt auf den Befund, dass die Demokratie „in der jungen Bundesrepublik auch erschrieben“ (10) worden sei, dass die Bürgerbriefe also als „Medien der Demokratisierung“ einen Prozess des Erlernens von Demokratie ermöglicht hätten, gerade weil „für die Mehrheit der Schreiber [...] Demokratie [...] eine nicht und kaum vertraute Staatsform“ war (64).

Es ist in verschiedenen Rezensionen bereits angemerkt worden, dass diese These von Fenske ein „starker Gedanke“ sei (Harm-Peer Zimmermann im Schweizerischen Archiv für Volkskunde 111 [2015], S. 125 f.) und es damit hervorragend gelinge, die lebensweltlichen Verhältnisse von Politik und Alltag zu perspektivieren (Jonathan Roth in der Rheinisch-westfälischen Zeitschrift für Volkskunde 59 [2014], S. 224–226). Andere – disziplinär meist geschichtswissenschaftlich situierte – Stimmen haben dagegen moniert, dieses Fazit sei „ein wenig überzogen“, weil sich insgesamt nur sehr wenige Personen schriftlich an Politiker gewandt hätten und die junge Demokratie nicht mittels dieser Briefe entstanden sei (Nina Verheyen auf H-Soz-u-Kult, 15.04.2014). So wenig das platte Zahlenargument für eine kulturwissenschaftliche Analyse trifft, umso schwerer wiegt das aus zeithistorischer Perspektive vorgebrachte Argument, bei den Briefen handle es sich um eine „politische (nicht: demokratische) Kommunikationspraxis zwischen Herrschern und Beherrschten“, die so auch in der DDR oder in den Briefen an Hitler oder Stalin zu finden sei (Claudia Christiane Gatzka im Archiv für Sozialgeschichte [online] 56, 2016, ähnlich auch Hedwig Richter in sehepunkte 14 [2014], Nr. 11). Damit sei die von Fenske vorgenommene „partizipatorische Deutung“ der niedersächsischen Briefe als zu „optimistisch“ zu taxieren (Werner Bührer in Francia-Recensio 2014/4). Nun kann Fenske überzeugend darlegen, dass sich in der frühen BRD erstens kommunikativ-politische Praktiken perpetuierten und dass sich zweitens mittels einer „Ethnographie des Schreibens“ sowohl Veränderungen wie auch Kontinuitäten bei den die Menschen beschäftigenden Themen nachweisen lassen. Gleichwohl scheint diese Zuspitzung einer klugen und mehrdeutigen empirisch-kulturwissenschaftlichen Analyse auf die Demokratisierung ihren Preis zu haben. Denn die These verdrängt offenbar, gerade in der geschichtswissenschaftlichen Rezeption, weiterführende Erkenntnisse und methodische Potenziale der Studie: Deutlich wird nämlich der Gewinn eines alltagsnah-ethnographischen Blicks auf jene Menschen, die nicht prädestiniert sind, sich in einer „politischen Kultur“ selbstbestimmt zu äußern – dies aber eben trotzdem tun. Es ist darum auch die von Fenske gewählte Position einer „historischen Ethnographie“, die den erheblichen Mehrwert dieser Studie darstellt: Ein Erkenntnisinteresse, das nach den Perspektiven für marginalisierte Bevölkerungsgruppen der „Unterschicht“ fragt, erweitert nicht nur bisherige Arbeiten zur politischen Kultur der Bundesrepublik, sondern es überwindet auch die wissenschaftlich perpetuierte Nichtbeachtung, ja oft kaum verhohlene Verachtung, für jene Menschen, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Eliten befinden und „eher als politikfern gelten“ (399). Es gehört zum Proprium einer kulturanthropologisch-europäisch ethnologischen Perspektive, diese Stimmen sicht- und hörbar zu machen, auch dann, wenn sie (wie in vielen der von Fenske präsentierten Beispielen) unsympathisch, widerständig und unbequem sind. Die Aktualität eines solchen kulturwissenschaftlichen Vorgehens ist angesichts der gegenwärtigen Krisen vieler Demokratien nicht nur drängend, sie ist kürzlich auch aus europäisch-ethnologischer Perspektive wieder überzeugend eingefordert worden (vgl. Bernd Jürgen Warneken: Rechts liegen lassen? Über das europäisch-ethnologische Desinteresse an der Lebenssituation nichtmigrantischer Unter- und Mittelschichten. In: Timo Heimerdinger u. Marion Näser-Lather [Hgg.]: Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie. Wien 2019, S. 117–130).

In ihrer Einleitung weist Fenske auf die Ubiquität und die lange Tradition von entsprechenden Briefen hin und führte zugleich aus, dass die BriefschreiberInnen mit ihrer Praxis in vielen Fällen erstaunlicherweise etwas bewirken: Sie erhielten Antwort oder materielle Unterstützung, ihr Anliegen wurde ernst genommen, behandelt und thematisiert. Die Autorin kann zeigen, wie die Schreiben spezifische Erwartungen formulierten, wechselseitige Rollenverständnisse konstruierten und damit die Politik in Zugzwang versetzten. In diesem Sinne können sie als „Elemente der politischen Kommunikation zwischen Bevölkerung und Regierung“ (22) und als Teil von „politischer Kultur“ verstanden werden. Anregend ist hier unter anderem der Hinweis auf die Existenz nicht-rationaler Elemente auch in modernen Demokratien, zu denen die dissonante und vielstimmige Bürgerpost gezählt werden kann.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Medium Brief, den BriefschreiberInnen und dem offiziellen Umgang mit den Briefen. Deutlich werden hier der komplexe Aneignungsprozess des Schreibens in der Nachkriegszeit sowie die generell heterogene soziale Herkunft der Schreibenden, auch wenn ältere Männer dominierten, die zudem eher über einen tiefen sozialen und ökonomischen Status verfügten. Indem die Autorin sich den Briefen, ihrer Materialität und den benutzten Anrede- und Grußformeln präzis zuwendet, gelingt auch eine hilfreiche Typologie nach vier Kategorien: Bittbriefe, Stellungnahmen/Berichte, Huldigungen und Schmähungen.

Im dritten und ausführlichsten Kapitel untersucht Fenske den Inhalt der Briefe und den sich dort manifestierenden Wandel in chronologischer Perspektive nach Jahrzehnten, um so Aussagen über die Nachkriegsgesellschaft, über die politischen und alltäglichen Probleme und über das sich wandelnde Demokratieverständnis der BürgerInnen zu gewinnen – traten diese anfangs „untertänig“ auf, veränderte sich dieses Verhältnis hin zu einer Demokratie auf Augenhöhe, in der Regierte mit „ihren“ Regierenden Anliegen inhaltlich aushandeln wollten. Überhaupt überzeugt hier der mikroanalytische Blick auf feine Veränderungen in der Thematisierung von Anliegen: Fenske achtet auf die Mittelbarkeit der Schilderungen, auf die spürbare Distanz, auf formulierte Emotionen und auf die gewählte Argumentation. Es wird deutlich, dass die SchreiberInnen dem Staat und seinen Vertretern durchaus intervenierend-aufmüpfig gegenübertraten und Bedürfnisse fordernd artikulierten (Wohnraum für die Familie, Schwierigkeiten bei der Ausbildung, der Kampf um eine Erwerbsarbeit, Entschädigungsansprüche), dabei aber immer auch „Normalisierung“ als biografische Leitvorstellung nach den Brüchen durch Krieg und Nationalsozialismus anstrebten (145). Es ist ein Verdienst der Studie, dass hier das „Kaleidoskop des langen Nachkriegserlebens“ (4) durch die präzise Textanalyse sehr quellennah fassbar wird, zugleich aber auch die „großen Fragen“ der damaligen Zeit angesprochen werden: die Schuldfrage nach Holocaust und Krieg, der Umgang mit den Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die generell knappen Ressourcen (Arbeit und Wohnraum) oder Verhandlungen über eine „Normalbiografie“ jenseits von Krieg und Gefangenschaft als „Idealentwurf des Lebens, wie es hätte sein sollen“ (199).

Zu den stärksten Passagen des Buches gehören jene gleichsam en passant eingefügten Überlegungen der Autorin zur deutschen Nachkriegsgesellschaft, etwa zum Zusammenhang von in den Briefen häufig verhandelten Moral- und Sauberkeitsfragen und der individuellen Verstrickungen in Nationalsozialismus und Krieg (149), zu den Effekten des Kampfs um Ressourcen in der „hierarchischen Klassengesellschaft der Opfer“ (151) oder zum zermürbenden Ringen von Opfern um Wiedergutmachung (187). Hatten diese Themen in den 1950er-Jahren im Zentrum gestanden, kamen nun neue Problemlagen dazu, etwa in den Auseinandersetzungen der meist älteren Schreibenden mit der jungen Nachkriegsgeneration und der von ihnen dynamisierten Werte. Manifest wird hier ein „repressives Klima“ einer „kleinbürgerlichen Moral“ (223) von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit, die zugleich der sozialen Frage und damit der Verteilungsgerechtigkeit ein hohes Gewicht beimaß. Dies allerdings keineswegs zwingend in einem progressiven Sinne, sondern oft als ein gegen andere – etwa gegen „Ausländer“ – ausgrenzend geführter Konkurrenzkampf um Wohnraum, Sozialleistungen und Unterstützungszahlungen. Dieser Kampf von unten spiegelt sich in den in den Antwortschreiben formulierten behördlichen Normen und der disziplinierenden sozialen Kontrolle, der sich gerade arme und randständige Personen ausgesetzt sahen. Es ist nachgerade erschütternd, in den Briefen Einblick zu erhalten in die verinnerlichten Zwänge, die aus dem „Normalisierungsprinzip“ als Richtschnur für persönliches wie gesellschaftliches Verhalten (248) erwuchsen und unter denen alte und behinderte Menschen litten und sich von den Politikern Hilfe erhofften.

Ebenso erschütternd ist die Enge und Rigidität, mit der die Mehrheitsgesellschaft auf den sich abzeichnenden Wertewandel im Bereich der Sexualität reagierte: Die mittels der Briefe (teilweise zwar nur in Ansätzen) rekonstruierbaren Lebensgeschichten, etwa einer falschen Verdächtigungen ausgesetzten Lehrerin, deutet Michaela Fenske präzis und nüchtern als gesellschaftliche Auseinandersetzung um in Bewegung geratene Normen der frühen 1960er-Jahre. In den frühen 1970er-Jahren kam neu die Diskussion von politischen Fragen hinzu, die zusätzlich zu den nach wie vor präsenten privaten Anliegen und Schicksalen darauf verweisen, wie „politisch“ der Alltag geworden war, nicht nur bei sozialen Bewegungen, sondern auch in der breiten Bevölkerung. Zahlreich sind hier nun explizite Ansprüche auf Mitgestaltung der politischen Themen, auf ein Gehörtwerden seitens der Politiker und auf ein sich in den Briefen artikulierendes Selbstverständnis als „Volkes Stimme“ (295). Neu ist auch ein reziprokes Verständnis von Wahlversprechen und Wählerstimme, das sich auch in drohenden Passagen bezüglich zukünftigem Wahlverhalten äußern konnte: Vielen Briefen dieser durch sozialdemokratische Politik geprägten Phase ist gemein, dass sie Privates und Individuelles zu einem politischen Thema machen, was sich in vielen Fällen als eine erfolgreiche Strategie erweist, wie die behördlichen Reaktionen und Antwortschreiben zeigen.

Bei dieser Reziprozität als „klassisches Kernelement politischer Herrschaft“ (342) knüpft das vierte Kapitel an und beleuchtet die gleichermaßen selbstinszenierten wie von den Schreibenden konstruierten Bilder der Ministerpräsidenten als „Landesväter“, die parallel gingen mit der Imagination als „kleiner Mann“. Diese öffentliche Inszenierung und die damit zusammenhängenden Rollenentwürfe in den Briefen waren im Untersuchungszeitraum einem erheblichen Wandel unterworfen, auch wenn sich dadurch der „Gegensatz zwischen gewünschter Individualisierung des Verhältnisses auf der einen und praktizierter Verallgemeinerung auf der anderen Seite“ (356) nicht auflöste. Überhaupt beweisen die BürgerInnen viel Eigensinn, indem sie sich an der Aushandlung des Abstraktums „Demokratie“ beteiligen und deren Nutzen (etwa der Justiz, der bürokratischen Verwaltung oder der Staatsstruktur mit ihren Zuständigkeiten) kritisch in ihren Lebensalltagen evaluieren, also mithin das Verhältnis des Individuums zum neuen Staat diskutieren. Fenske kommt daher zum Schluss: „Der schreibende Bürger erweiterte mit dem Medium Brief das Spektrum seiner politischen Gestaltungsmöglichkeiten. Er bestritt damit andere als die ihm von der Verfassung innerhalb der parlamentarischen Demokratie ermöglichten Wege. [...] Hier liegt der emanzipatorische Anspruch der Briefe, die in der parlamentarischen Demokratie nicht mehr allein auf das Bitten, sondern auf die Forderung selbstbewussten Mitregierens hinausliefen.“ (387 f.)

Im kurzen fünften bilanzierenden Kapitel thematisiert die Autorin die „Effekte der Bürgerpost“, die zwar komplex sind, aber doch Tendenzen aufweisen: So war eine erstaunlich hohe Zahl „erfolgreich“ im Sinne der Schreibenden – Fenske spricht von knapp 15 Prozent – weitere 64 Prozent bewirkten amtliche Abklärungen und interne Prozesse. Dem Schreiben kam aber jenseits von statistischen Kennzahlen eine weitaus eminentere Bedeutung zu als erleichternde, selbstermächtigende und integrierende Praxis, von der eine stabilisierende Funktion für die junge Demokratie ausging. Diesem Befund ist uneingeschränkt zuzustimmen, während allerdings die angeführte von der Bürgerpost ausgehende Kontrollfunktion für die Verwaltung überbewertet scheint. Umso mehr gilt: „Die Briefe zeigen, dass und wie sich Politik gerade durch ihr Verständnis für lebensweltliche Zusammenhänge in eben diesen Lebenswelten zu legitimieren hatte. Politik musste sich im Alltag der Schreiber bewähren.“ (401)

Auch wenn das Buch vom Verlag grundsätzlich sorgfältig gestaltet ist, verwundert doch die schlechte Qualität der Abbildungen (so etwa Abb. 10 auf S. 107) – glücklicherweise finden sich oft ausführliche Transkriptionen der abgebildeten Briefe, andernfalls wäre ein Entziffern kaum möglich. Die Lektüre führt zudem auch zu methodischen Fragen: Was machen diese spezifischen Quellen mit der Autorin? Wie reagiert sie auf die Lektüre? Was lösen die Briefe bei ihr aus? Auch wenn an anderen Orten einleuchtend argumentiert wurde, dass die autoethnographische Thematisierung in narzisstische Selbstbespiegelung abgleiten kann, so würde der Leser doch gerne wissen, wie sich dieser Forschungsprozess und die damit verbundene Emotionsarbeit gestaltete. So schreibt Fenske zwar knapp, dass sich die „ursprünglich beabsichtigten Wirkungen“ auch nach Jahrzehnten noch entfalten würden und sie thematisiert zugleich die durch das Flehen, Fordern und Bitten hervorgerufene „Abwehr bei der Leserin“ (37), spricht diese Ebene der Selbstreflexion aber nicht weiter an. Damit zusammenhängend bleibt auch die Selektion der für die Studie untersuchten Briefe seltsam unbestimmt: Offenbar wurden jene ausgewählt, „deren Thematik besonders häufig vertreten war“ (40). Dies führt in der Konsequenz allerdings zu einer Aggregation dominierender Themen und zu einer Vernachlässigung von querliegenden Stimmen, die aus einer qualitativ-kulturanthropologischen Perspektive ebenfalls interessiert hätten. So differenziert also die ordnende Analyse und chronologische Gruppierung ist, so bleibt doch ein gewisses Unbehagen angesichts der Unsicherheit darüber, welche Fragestellungen nun die Analyse geleitet haben. Auch ergeben sich aus der Ausführlichkeit der Originalzitate zwar mikroanalytische Einblicke in die Lebenswelt der Briefschreibenden, allerdings bewirken sie in ihrer Dissonanz (ja beinahe Kakophonie) auch gewisse Ermüdungserscheinungen beim Lesenden. Gleichwohl evoziert die Lektüre zahlreiche weiterführende Fragen, etwa nach heutigen Formen dieser Kommunikation zwischen Politik und BürgerInnen oder nach den Parallelen von heutigen Online-Kommentarschreibenden zu den hier präsentierten Formen der politischen Stellungnahmen, wie natürlich auch zu den historisch persistenten Schmähungen. Die Studie kann damit zugleich zeigen, dass die gegenwärtig wortreich beklagten Filterblasen politischer Kommunikation weder neu noch der demokratische Austausch über Argumente je einfach gewesen ist. Vielmehr finden sich in den untersuchten Briefen sowohl Ansätze von hegemonialen Echokammern als auch von sich allerdings seltener artikulierenden Stimmen, aus denen Verständnis für Andersdenkende spürbar wird. Und es ist nicht zu vergessen, dass trotz digitaler Medien und Videoplattformen auch heute nach wie vor Briefe an PolitikerInnen geschrieben werden, die aus kulturanthropologischer Sicht interessantes Forschungsmaterial für künftige Arbeiten darstellen.

Michaela Fenske ist eine beeindruckende historisch-ethnographische Studie gelungen, die sich durch klare Sprache und hervorragende Lesbarkeit auszeichnet. Wer sich für die politische Kultur der Bundesrepublik, für die in den Briefen verhandelten gesellschaftlichen Möglichkeiten und generell für Fragen der umkämpften Teilhabe an politischen Prozessen interessiert, wird zukünftig nicht daran vorbeikommen. Wer sich zudem mit Formen der politischen Partizipation und der Akzeptanz von Demokratie auseinandersetzt, findet hier einen ebenso lebensnahen wie menschlich-empathischen Blick auf die Präsenz des Alltags in der Politik wie auf den Ort der Politik im Alltag der deutschen Nachkriegszeit.