Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Matías Martínez (Hg.)

Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch

Stuttgart 2017, J. E. Metzler, 363 Seiten mit Abbildungen, Tabellen
Rezensiert von Helge Gerndt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.06.2019

Dieses Handbuch enthält 51 Kapitel von 54 Autor(inn)en, etwa zur Hälfte von deutschen Sprach- und Literaturwissenschaftlern, und erweckt durch seine Schlagwortauswahl und einen gewissen systematischen Ansatz das Interesse auch der volkskundlich-ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Erzählforschung. Es betont – außer zwei Kapiteln zu den Grundlagen (Was ist Erzählen?; Bausteine des Erzählens) – die „Medien des Erzählens“ (17 Kapitel: von Comic und Computerspiel über Hörfunk und Hypertext bis zu Transmediales Erzählen und Webserie), „Soziale Felder des Erzählens“ (12 Kapitel: von Alltag und Journalismus über Politik und Psychotherapie bis zu Wirtschaft und Wissenschaft), die „Funktionen des Erzählens“ (15 Kapitel: von Ausrede und Beglaubigen über Erklären und Gruppenbildung bis zu Veranschaulichen und Vorhersagen), schließlich „Psychologie und Anthropologie des Erzählens“ (5 Kapitel: darunter Erzählen interkulturell und Erzählkompetenz).

Das ist ein bemerkenswertes Programm. Freilich: Enttäuschung lässt nicht lange auf sich warten und steigert sich zu ungläubigem Staunen. Kann es das wirklich geben: ein vorgeblich interdisziplinäres Handbuch, das die ethnologische und empirisch-kulturwissenschaftliche Erzählforschung praktisch nicht zur Kenntnis nimmt; das von der mündlichen Erzählkultur und ihrer Jahrtausende alten Geschichte anscheinend nichts wissen will, ja sogar die aktuell weltweit blühende Renaissance des performativen Erzählens offensichtlich nicht einmal bemerkt; das das große internationale, gerade abgeschlossene 15-bändige Handbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung (mit achthundert Autoren aus aller Welt), die „Enzyklopädie des Märchens“ (1977–2015), schlicht übersieht? Man fragt sich, mit welcher Ignoranz oder Arroganz ein Sprach- oder Literaturwissenschaftler begabt sein muss, um Interdisziplinarität zu versprechen und dann so ein Werk unter dem umfassenden Titel „Erzählen“ (nicht etwa „Aspekte literarischen und alltäglichen Erzählens“) zu publizieren. In meinen Augen bedeutet „interdisziplinär“ nicht nur, ein paar Autoren aus verschiedenen Disziplinen zu versammeln, sondern besonders solche Autoren, die auch über den Tellerrand ihrer Fachdisziplin zu blicken vermögen. Das ist bei vielen Beiträger(inne)n hier nur begrenzt der Fall (bei anderen schon). Gipfel meines Erstaunens aber ist, dass in einem renommierten geisteswissenschaftlichen Verlag offenbar kein Lektor die Schieflage bemerkt hat.

Über die Qualität der einzelnen Beiträge hinsichtlich sprach- und literaturwissenschaftlicher Analyse mag die eigene Fachzunft urteilen. Sie dürfte über das Phänomen des literarischen Erzählens und dessen Bausteine (also die hier vorgelegten Grundlagen) sich an fruchtbarere Lektüren erinnern. Im vorliegenden Fall heißt das Ergebnis des Herausgebers: „Erzählen ist Geschehensdarstellung + x“ (6). Wer an der diffizilen Ausfaltung von Begrifflichkeiten interessiert ist, wird sich in vielen Beiträgen luxuriös bedient sehen (Artikel „Film“), muss bei den Erzählinhalten dagegen mit kargerer Kost zufrieden sein. Meine Kritik zielt hier jedoch weniger auf die Details der Artikel (es gibt zahlreiche gute und sehr anregende Beiträge, die das Weiterdenken lohnen: Musik, Skulptur, Tanz, Theologie, Werbung, Wissenschaft, Anthropologie des Erzählens und viele andere), sondern auf eine Lücke im Grundkonzept. Man gewinnt den Eindruck, dass die Verantwortlichen performatives Geschichtenerzählen nie erlebt haben; sie wissen offenkundig nicht, dass es eine immense Feldforschung dazu gibt; und sie glauben offenbar, dass die Analyse des Erzählens sich mehr oder weniger in einer Erzähltextanalyse erschöpft. Von den 26 Textspalten der „Bausteine des Erzählens“ (einer inhaltsreichen Skizze, die freilich weder auf Eberhard Lämmerts „Bauformen“ noch André Jolles‘ „Einfache Formen“ eingeht, schon gar nicht auf das Erzählen als dialogisches Prinzip mit seinen nonverbalen und parasprachlichen Verständigungsweisen zwischen den Erzählenden und Zuhörenden im Erzählprozess) entfallen zum Beispiel gerade mal zweieinhalb Spalten auf die „Pragmatik des Erzählens“, wo vor allem „Paratext und Autorschaftsinszenierung“ abgehandelt werden.

Von der Faszination und der berührenden Suggestion performativen Erzählens, von den enormen kommunikativen Möglichkeiten solchen Erzählens über das Sprachliche hinaus, zumal von seiner Aktualität in einer von Migrationsströmen durchzogenen globalisierten Welt, vermittelt dieses Handbuch wenig, eröffnet dafür aber in Artikeln wie „Politik“ oder „Religiöse Identitätsbildung“ andere interessante Aspekte. Neben begrifflichen Analysen, vielfältigen Themen und einem weiten Blick auf neue Medien des Erzählens (Internet, Soziale Netzwerke) ist das Buch – aus meiner Sicht – leider auch durch seine Defizite charakterisiert. Eklatante Beispiele dafür sind der Artikel „Mündliches Erzählen“, der ausschließlich konversationsanalytisch angelegt ist (Grundlagenwerke zur Analyse des mündlichen Erzählens, etwa von Walter J. Ong und Eric A. Havelock, werden nicht genannt), oder der Umstand, dass unter den vielen Funktionen des Erzählens ausgerechnet ein Beitrag über „Unterhalten“ (privates und professionelles, „zeitvertreibendes“ Geschichtenerzählen) fehlt, oder etwa der Artikel „Theater“, der „Erzählerische Elemente und das Konzept des ‚epischen Theaters‘“ sowie das „Theater als plurimediales und plurisemiotisches Erzählmedium“ erörtert, aber nichts über genuines Erzähltheater (Dario Fo, Friedrich Karl Waechter) als eine eigenständige Ausdrucksform sagt. Solche Lücken erscheinen, zumindest mir, schwer begreiflich. Man könnte vermuten, dass manche von Erzählinhalten fast leeren, abstrakten Begriffsdarlegungen sich im Grunde gar nicht an ein breiteres Publikum, darunter Erzähler(innen) und Erzählforscher(innen), wenden wollen, sondern nur an einen elitären Zirkel sogenannter Narratologen. Ausnahmen, wie die Artikel „Emotionalisieren“ von Katja Mellmann oder „Alltag“ des Ethnologen Ingo Schneider sowie andere, bestätigen die Regel.

Um den interessierten Leserinnen und Lesern deutlich zu machen, wie lebensentfremdet und emotional ärmlich sich dieses Handbuch ohne das mündliche Geschichtenerzählen präsentiert, möchte ich hier zum Schluss zwei neuere anschauliche Publikationen zum lustvollen Thema „Erzählen“ nennen, aus denen man schon beim raschen Durchblättern ganz andere Eindrücke gewinnen wird: Kristin Wardetzky u. Christiane Weigel: Sprachlos? Erzählen im interkulturellen Kontext. Erfahrungen aus einer Grundschule. Baltmannsweiler 2008; Nikola Hübsch u. Kristin Wardetzky (Hgg.): Zeit für Geschichten. Erzählen in der kulturellen Bildung. Baltmannsweiler 2017 (mit 28 sehr unterschiedlichen und differenzierten Beiträgen sowie zwei pointierenden Memoranden zu den Chancen und der Notwendigkeit des Erzählens in unserer Zeit).