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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.)

Andere Urbanitäten. Zur Pluralität des Städtischen

(Ethnographie des Alltags 3), Wien/Köln/Weimar 2018, Böhlau, 215 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Timo Heimerdinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.06.2019

„Urbanität“ ist ein Stichwort, von dem für Studierende wie Forschende nicht nur unseres Faches seit geraumer Zeit eine beträchtliche Faszination ausgeht. Stadtforschung hat seit den 1990er Jahren Konjunktur und wird in den allermeisten Fällen als Metropolenforschung verstanden, vielleicht teilweise auch, weil sich hier kulturwissenschaftliche Fragen der Diversitäts- und Differenzanalyse mit den persönlichen lebensweltlichen Interessen der BearbeiterInnen treffen und daher miteinander verbinden lassen.

Der vorliegende Band nimmt einen anderen Ausgangspunkt: Er geht auf eine Tagung zurück, die im Oktober 2015 in Wien stattfand und im Kontext eines Forschungsprojektes zur Erforschung von Mittelstädten stand. Unter dem Titel „Wir sind nie urban gewesen.  Vom Metrozentrismus zur Pluralität des Städtischen“ wurden dort aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven internationale Beispiele der Stadtforschung vergleichend diskutiert. Diese hatten nicht nur Metropolen europäischen oder nordamerikanischen Zuschnitts zum Gegenstand, sondern thematisierten Städte unterschiedlicher Größe und Funktion in Japan, Afrika und Mitteleuropa (Deutschland, Österreich, Schweiz) aus ethnografischer, stadtplanerischer und historischer Sicht. Dementsprechend finden sich in dem Band sieben Einzelstudien, die zwar unterschiedliche disziplinäre Zugänge und empirische Fälle wählen, jedoch allesamt in dem Interesse konvergieren, vielfältige Varianten von „Urbanität“ sichtbar zu machen – jenseits der typischen Metropolenzuschreibungen von „Dichte, Heterogenität der Umwelt sowie Größe“ beziehungsweise dem „Nebeneinander von sensueller Vigilanz und emotionaler Indifferenz“ (15). Parallel zu den Einzelbeiträgen bildet das Buch zudem eine interessante Diskussion ab, die zwar von Fragen der Stadtforschung ihren Ausgang nimmt, dann jedoch sehr viel grundsätzlichere Probleme berührt und einen eigenen Abschnitt umfasst. Dieser Debatte soll nun die Hauptaufmerksamkeit gelten. Moritz Ege setzt sich in einem eigenen Aufsatz kritisch mit der von Brigitta Schmidt-Lauber im Einleitungstext ausgeführten These vom Metropolenzentrismus in der Stadtforschung auseinander. Auf diesen Text reagiert die Herausgeberin mit einer kurzen Replik und Alexa Färber beschließt den Band mit einem ausführlichen Kommentar zu den angeschnittenen Fragen aus ihrer Sicht. Schmidt-Laubers Forderung nach einer umfassenden Dezentrierung der Stadtforschung weg vom „Metropolenhype“ hin zum Interesse für die Urbanität von Klein- und Mittelstädten wird von Ege mit der Auffassung konfrontiert, dieser Frage fehle „tendenziell die politische Dringlichkeit“, da für ihn nur schwer erkennbar sei, ob und inwiefern diese Präferierung von Metropolen zu „sozialem Leiden“ (173) führe. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation macht er sich dann für einen verstärkt und bewusst ethisch-normativen Zugang in der kulturwissenschaftlichen (Stadt-)Forschung stark und fordert eine Verknüpfung der Frage nach Urbanität mit jener nach Moral, Gerechtigkeit und „menschliche[m] Wohlergehen“ (177), um so „historisch unabgegoltene Hoffnungen im Spiel [zu] halten“ (189). Schmidt-Lauber bekräftigt in ihrer Erwiderung dem gegenüber den Anspruch der von Ege kritisierten „normativen Enthaltsamkeit“ und plädiert für einen relational-kulturanalytischen Zugang jenseits normativer Setzungen, um gerade jene zum Untersuchungsgegenstand machen zu können (195). Was soll Kulturwissenschaft tun? Das „gute Leben“ proklamieren oder das untersuchen, was Menschen für ein „gutes Leben“ halten? Alexa Färber ergänzt diese Debatte mit einem streckenweise persönlichen Kommentar, der die europäisch-ethnologische Stadtforschung Berliner Prägung resümiert und dabei auch die impliziten milieubezogenen Sehnsüchte der handelnden wissenschaftlichen AkteurInnen anspricht.

Insgesamt zeigt sich in dieser Debatte die überaus wichtige Frage, ob es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen „politischer Dringlichkeit“, persönlichem und wissenschaftlichem Interesse für ein bestimmtes Thema gibt beziehungsweise geben sollte, es ist damit die Diskussion nach den Kriterien für Themensetzungen, Themenrelevanz und Themenwahl aufgerufen. Ich halte diese Debatte für wichtig, berührt sie doch das Anliegen und das Selbstverständnis vieler Personen, die in unserem Fach wissenschaftlich aktiv sind, im Kern. Zwar werden derartige Fragen oft angeschnitten und auch implizit mitverhandelt, selten jedoch in der nötigen Genauigkeit und Ausführlichkeit durchgearbeitet. Nicht selten wird daher dabei – so mein Eindruck – der Begriff der Ungleichheit mit dem der Ungerechtigkeit oder jener der Positioniertheit mit dem der Parteilichkeit verwechselt oder irrtümlich als synonym gebraucht. Die Beiträge des vorliegenden Bandes könnten dazu verhelfen, das Bewusstsein für derartige Fragen zu schärfen und diese wichtige Debatte im Fach präzise und vertieft weiterzuführen, nicht nur in Bezug auf Fragen der Urbanitätsforschung. Es ist ihm daher eine breite Rezeption zu wünschen.