Aktuelle Rezensionen
Angelika C. Messner/Andreas Bihrer/Harm-Peer Zimmermann (Hg.)
Alter und Selbstbeschränkung. Beiträge aus der Historischen Anthropologie
(Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 14), Wien/Köln/Weimar 2017, Böhlau, 272 Seiten mit AbbildungenRezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.06.2019
Alter und Altern sind komplexe Phänomene. Sie zu erforschen verlangt, immer wieder über den Tellerrand des eigenen Faches zu schauen. Wie sinnvoll das sein kann, führt der Züricher Kulturwissenschaftler Harm-Peer Zimmermann seit Jahren vor. Ob 2010 bei der Mitarbeit am „Sechsten Bericht zur Lage der Älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland – Altersbilder in der Gesellschaft“, ob zwei Jahre später beim VW-Projekt über „Gutes Leben im hohen Alter“ oder 2017 im interdisziplinären Diskurs bei dem Thema „Alter und Selbstbeschränkung“. Bei allen drei (und vielen weiteren) Projekten beließen er und seine Kolleg*innen es nicht beim Innerdisziplinären, sondern kooperierten bewusst mit anderen Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen. Der vorliegende Band ist ein Beispiel dafür; er enthält die überarbeiteten Fassungen von 13 Vorträgen eines Kieler Kongresses, der 2014 in Kooperation mit den Universitäten Freiburg im Breisgau und Zürich stattgefunden hat. Die Leiterin des Kieler China-Zentrums, Angelika C. Messner, der Kieler Mittelalterhistoriker Andreas Bihrer und der bis 1997 in Kiel gelehrt habende Harm-Peer Zimmermann hatten Kolleg*innen aus der Medizin, Soziologie, Psychologie, Theologie, Philosophie, Gerontologie, Ethnologie, Sinologie und Literaturwissenschaft eingeladen, sich mit dem bisher wenig beachteten Thema der Selbstbeschränkung im Alter auseinanderzusetzen.
Der Band lotet das ganze Spektrum des Begriffes aus, zwischen einer präventivmedizinischen Haltung, einer selbst gewählten psychischen und physischen Zurücknahme, einer „Unumgänglichkeit“ (144) und dem unfreiwilligen, gesellschaftlich herbeigeführten oder körperlich notwendig gewordenen Rückzug aus bestimmten Bereichen des Lebens. Der allen Beiträgen zugrunde liegende Ansatz betont, dass sich die Bewertung der Lebenszeit des Menschen einer quantitativen Betrachtung entziehe, dass es sich stattdessen um ein qualitatives Vorgehen handeln müsse.
Aus der Fülle seien im Folgenden einige Inhalte hervorgehoben. Die Autor*innen führen mehrfach vor, wie heutige Altersbilder von antiken Vorstellungen geprägt sind: Das Konzept des „aktiven Alters“, also eines Lebens mit vielfältigen Aufgaben und Verpflichtungen, ungeachtet des kalendarischen Alters, vor allem aber die Negierung körperlicher Einschränkungen, sei schon seit Cicero („Man muss gegen das Alter wie gegen eine Krankheit kämpfen“, 105) ein Leitbild. Auch die Vorstellungen der Mäßigung und des Verzichtes besäßen eine Jahrtausende alte Tradition; sie fußten auf übergeordneten Ideen einer Veredelung des Selbst. Im Christentum käme mit der Auferstehung ein neuer Gedanke hinzu: Der Verlusterfahrung einer Endlichkeit des Lebens, dem Nachlassen der körperlichen Kräfte stehe die gewonnene Gewissheit gegenüber, dass das irdische Leben nur ein Durchgangsstadium zum ewigen Leben sei; der Tod gerät hier zum Beginn des eigentlichen Daseins, als Gewinn. Das jedoch in der Gegenwart geltende, profan bestimmte „Paradigma des bis ans Ende aktiven, das Diesseits bejahenden Lebens eliminiert ein Interesse an einer Sinngebung des Todes, die ihn positiv akzeptieren und selbst in seinen einschränkenden Auswirkungen auf das Leben annehmen ließe“ (105).
Mit dem Begriff „Entsagung“/Resignatio, nicht verstanden als Verzicht und Aufgabe, sondern als „die höchste Form der Selbstbestimmung, von Souveränität“ (131), erweitert der Dresdener Philosoph Thomas Rentsch das Konzept der Selbstbeschränkung um eine weitere Facette, die Öffnung zur „Freiheit des Herzens [...], Gelassenheit inmitten der Endlichkeit, [...] das Seinlassen, den freien Verzicht“ (132). Andreas Kruse, der Heidelberger Gerontologe, knüpft hier an und betont Alter(n) als (lebenslangen) Entwicklungsprozess. Basierend auf literarischen Texte (u. a. Hölderlin, Celan, Kaschnitz) zeigt er, wie im neunten und zehnten Lebensjahrzehnt psychische Prozesse angestoßen würden, die von Erik H. Erikson und Lars Tornstam mit dem Begriff der „Gerontotranszendenz“ bezeichnet worden seien: „die differenzierte Wahrnehmung des eigenen Selbst, die Integration von persönlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Verwirklichung kosmischer Bezüge, in die die eigene Existenz eingebettet ist, sowie die Integration in eine Generationenfolge, innerhalb derer man nicht nur empfängt, sondern auch gibt“ (80).
Harm-Peer Zimmermann greift drei Motive aus der Popularkultur auf und deutet diese mehr oder weniger direkt in Bezug auf Alter(n) und Tod. Der Kupferstich „Der Eierbauer“ aus dem 18. Jahrhundert enthalte den Wunsch eines Lebenslaufes, der progressiv prosperiere; das Motiv der Alterstreppe nehme diese Gedanken in ähnlicher Form auf, wenn am Höhepunkt von Treppe und Leben eine Figur abgebildet ist, die Wohlstand und Erfolg ausstrahle. Im Märchen „Hans im Glück“ dagegen werde materieller Verlust (vom Goldklumpen zum Nichts) mit innerer Bereicherung konnotiert. „Hans verkörpert ein ‚savoir vivre‘ angesichts von Verletzlichkeit, Hinfälligkeit und Endlichkeit des Lebens.“ (265) Das Märchen versinnbildliche radikale Einstellungen im Alter: den Rückzug, das Anerkennen der Bedürftigkeit und den Wunsch nach Erfüllung des Lebens.
Während die meisten Beiträge literaturbasiert argumentieren, arbeitet die Züricher Kulturwissenschaftlerin Rebecca Niederhauser empirisch. Sie interpretiert drei von ihr geführte Interviews mit Frauen im „jungen“ Alter beziehungsweise deren geschilderte Aushandlungsprozesse und Selbstdeutungen vor dem Hintergrund des aktuell herrschenden Altersdispositivs. Die Gespräche mit einer Musikerin (67), einer Fotografin (57) und einer Gymnasiallehrerin (64) zeigen, welchen Anforderungen sich die Frauen gegenübersehen und wie sie auf diese reagieren, zum Beispiel mit der Verweigerung, gesund zu leben, der Distanzierung von den Alten, denen man noch nicht angehöre, oder der Differenzierung zwischen dem alternden Körper und dem frisch bleibenden Geist. Hier zeige sich, so die Autorin, ein neuer Raum, das „Dazwischen“, eine Phase des nicht mehr Jung-, aber auch noch nicht Altseins, und der Befund mache auch deutlich, dass die Befragten aktive Mitgestalter*innen des Dispositivs Alter seien. Rebecca Niederhauser fasst gekonnt zusammen: „Dass Vielstimmigkeiten und Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Widerständigkeiten nicht aufgelöst werden, ist Teil dessen, was unter dem Alter(n) als konstruktivistischem Plural zu fassen versucht wird. Gleichsam als Imperativ zur Selbstbeschränkung – verstanden als diätetisch geregeltes Maßnahmebündel zur Gesunderhaltung, als biopolitische Disziplinarmaßnahme in Selbstbeschränkung – durchzieht ein engmaschiges Machtnetz das je individuelle Alter(n), um der gesellschaftlichen Alterung zu begegnen. Als produktive Macht verstanden, herrscht demnach eine Pflicht zum guten und erfolgreichen, zum gesunden und aktiven Alter(n). Das Alter(n), so der machtvolle Konsens, bedarf einer Bearbeitung, um jung zu bleiben, alt zu werden, aber nicht alt zu sein.“ (58)
Der Soziologe Klaus R. Schroeter beleuchtet die „subversiven Kräfte des Alters“ und die „Widerspenstigkeit im Alter“ (21). Damit blickt er auf Praktiken, die sich dem Funktionieren, Erdulden, Aushalten und der Reduzierung widersetzen. Er stellt die Frage, ob „nicht vielleicht gerade in der Selbstbeschränkung die subversive Kraft des Alters“ (21) liege. Schroeter führt zunächst vor, wie Alter im 20. Jahrhundert zu einer „gestaltbaren Aufgabe“ (25) wurde. Die Sicht auf das Alter habe sich verändert: vom Defizit zur Kompetenz, nicht nur aus wissenschaftlichen Erkenntnissen heraus, sondern aufgrund politischen Willens, der Alter und Alte aktiv sieht und sehen will, um auch sie der eigenen Logik von Produktivität einzuverleiben. Alter und auch Ruhestand werden hier eng verbunden mit einer Ethik der Arbeit und einem ökonomischen Denken. Die Ruheständler*innen würden zu Unruheständler*innen, sie würden mobilisiert und müssten weiterhin gesellschaftliche Maximen des Tätigseins und der Selbstoptimierung erfüllen. Was im Diskurs um das Alter aber inzwischen fehle, seien andere Formen des Lebens. Gerade das vierte oder fünfte Alter, das mit Rückzug, Passivität und Gelassenheit einhergehe, müsse vor dem Bild des aktiven, produktiven Alters als Misserfolg und Scheitern erscheinen. Den Wissenschaften sollte es aber darum gehen, Alter als eine eigene Wirklichkeit zu beleuchten, mit Kontinuitäten und Anschlüssen, aber auch mit (legitimen) Widerständigkeiten und Verweigerungen, mit dem Loslassen-Können und -Wollen, mit dem selbst gewählten Recht auf Eigensinn. Schroeters Beitrag überzeugt durch den klugen, zusammenfassenden Blick auf gesellschaftliche Werte, auf die Analyse von Machtstrukturen und Normen. Er belegt fundiert und durchaus selbstkritisch, wie sich gerade beim Thema Alter zwei diametral argumentierende Systeme, Politik und Wissenschaft, verhalten, vor allem aber, wie sich Wissenschaft für neue, politische Alterskonzepte in Dienst nehmen lässt und dafür mit Aufmerksamkeit und Forschungsgeldern belohnt wird.
Hier klingen Fragen an, die den ganzen Band indirekt durchziehen: Inwieweit kann es Forschung beim Beschreiben des Alter(n)s belassen? Dürfen auch normative Setzungen zum Alter(n) gemacht werden? Antworten darauf ließen sich auf einer weiteren, interdisziplinären Tagung finden.