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Uwe Spiekermann

Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute

(Umwelt und Gesellschaft 17), Göttingen 2018, Vandenhoeck & Ruprecht, 948 Seiten mit 108 Abbildungen, 7 Tabellen
Rezensiert von Peter Peter
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.07.2019

Beim Lesen des Titels „Künstliche Kost“ musste ich unwillkürlich an ein kulinarisches Schlüsselerlebnis denken, vor ein paar Jahren auf dem Salone del Gusto, der Slow Food-Messe in Turin. In der „Schinkengasse“ hingen wahrhaft „hinterwäldlerische“ Delikatessen: luftgetrocknete Ziegenschinken von karpathischen Bergbauern, korsische Wildschweinjambons, an denen bewusst ein Stück Fell drangelassen worden war, und italienische Prosciutti in der typischen Chitarra-Form einer im Ganzen gereiften Keule. Und dann, aus ihrer gesitteten Supermarktwelt plötzlich in die Gesellschaft dieser „Metzgerwildlinge“ geworfen, zwei Frauen im braven weißen Kittel, die westfälische Schinken hüteten. Natürlich war der Knochen rausgelöst, so gut wie jedes Fettstückchen abgesäbelt, die Delikatesse säuberlich eingeschweißt – zur Kugelform verstümmelte „echte Knochenschinken“, an die Ideale künstlicher Kost angepasst.

Warum musste es so kommen, wie es ist? Warum ist Deutschland keine Gourmetnation der Bauernmärkte, sondern eher eine Hygienenation abgepackter Nahrung? Warum hat das Gros der deutschen Bevölkerung keine persönliche kulinarische Mündigkeit entwickelt, sondern lässt sich stattdessen lieber auf den „kommunikativen Überschuss“ der Expertenempfehlungen und die schöne Warenwelt der Supermärkte ein? All diese Fragen belegt mit einer Ausführlichkeit, die dem Leser einiges Sitzfleisch abverlangt, Uwe Spiekermanns 948 Seiten dickes Mammutwerk „Künstliche Kost“.

Hier findet man Antworten darauf, weshalb Frau Musterfrau und Otto Normalesser am liebsten eingeschweißten vorgeschnittenen Käse essen, Tiefkühlpizzen anbeten und sich vor Anzeichen authentischer Produkte wie Knochen, Gräten oder Innereien ekeln. „It’s the history, stupid“ – die Wurzeln für diese Ernährungsmentalität wurden bereits im 19. Jahrhundert gelegt, als Folge der „Entwicklung der Naturwissenschaft zur Weltmacht“. Als Folge der Forschungen von Justus Liebig, der Präparate der Münchner Schule Max Pettenkofers, der „Entkontextualisierung der Ernährung durch Laboratoriumsforschung“ und der daraus resultierenden „Neuen Ernährungslehre“, die seit den 1920ern triumphierte und „lebensweltliche und ökologische Bezüge tendenziell ausgrenzte“.

Spiekermanns fundierte Analyse widerspricht damit der populären These, die auch Wolfram Siebeck, Deutschlands jüngst verstorbener Doyen der Restaurantkritik, vertrat, Luther und die Reformation mit ihrem demonstrativem Bescheidenheitsethos, das alle Nahrung als gottgegeben annimmt (auch wenn es sich um mieseste Billigdosenravioli handelt), sowie die Verheerungen des 30-jährigen Krieges hätten die deutsche Küche und den kritikfähigen Konsumenten bereits ab dem 16. und 17. Jahrhundert „auf dem Gewissen“.

Doch gastronomische Mentalitätsgeschichte steht nicht im Fokus des Göttinger Wirtschafts- und Sozialhistorikers Uwe Spiekermann. Dem Gelehrten geht es vielmehr um eine in ihrer Dichte und fachsprachlichen Brillanz faszinierende lückenlose Dokumentation künstlicher, verpackter, beschrifteter, analysierter, gelabelter, kategorisierter Kost, die unseren Ernährungsalltag prägt. Hier werden Fragen beantwortet wie: Wann kamen Kunstdärme und Verpackungen aus Cellophan auf, wann die erste Dosenverschlussmaschine, seit wann werden Milch oder Früchte bestrahlt, wie hat der Vitaminrummel unsere Ernährungsgewohnheiten beeinflusst? Die Rollen von Medizin, Lebensmittelindustrie, Kleinhandel werden genauso beleuchtet wie politische Ernährungsrichtlinien, die nach den Erfahrungen der oft durch schlechte Versorgungslage ausgelösten Revolutionen staatstragend wirken sollten. „Hinzu kam der Gestaltungsoptimismus der Ernährungswissenschaften, die ihr Ziel nicht aus den Augen verlor, eine vermeintlich blinde, nicht auf den Menschen zugeschnittene Natur zu verbessern.“ (579)

Spannend wird auch analysiert, inwieweit Kriege und Kriegsvorbereitungen mit ihren Versorgungsengpässen der Verwissenschaftlichung und chemischen Transformation von Nahrungsmitteln Vorschub leisteten.

So wird der letztlich gescheiterte Versuch der Funktionäre des nationalsozialistischen Reichsnährstands beschrieben, Lebensmittelautarkie zu erreichen und für „gute deutsche Ware“ auch höhere Preise zu rechtfertigen. Initiativen wie die Reichsspeisekarte zielten darauf, Ressourcen zu sparen, dem Konsumenten normierte Kost zu verordnen und ihn letztlich zu entmündigen: „Konsum wurde so moralisch, hatte jeder Akteur doch seine spezifische Aufgabe zu erfüllen, nicht aber individuelle Präferenzen auszuleben.“ (342) Marketinggeschichtlich bleibt interessant, wie die Bevölkerung zur Änderung ihrer Ernährungsgewohnheiten manipuliert und in die Pflicht genommen wird. Beim Seefischkonsum, der heftigst propagiert wurde, gelang das allerdings nur partiell, auch wenn die Apparatschiks des Reichsnährstandes mit pervertierten Rezepten wie „Falscher Hase aus Walfleisch“ Geschmackskontinuitäten vorspiegeln wollten. Es bleibt erstaunlich, wieviel wissenschaftliche und politische Energie darauf verwendet wurde, devisensparend die Nahrungsressourcen zu erweitern, sei es durch Knochensammlungen (um das Fett herauszukochen) bis zu dem weitgehend vergessenen Kapitel des im Hitlerregime forcierten deutschen Walfangs auf den Weltmeeren („der einzigen deutschen Kolonie“). Auch die versuchte Eroberung und brutale Ausbeutung des europäischen Ostens wurde unter dem Gesichtspunkt des „Nahrungskampfes“ gesehen.

Erfrischend ist die Illusionslosigkeit, mit der der Autor seine Phänomene beschreibt: „Das Deutsche Reich konnte sich spätestens seit den 1870er Jahren nicht mehr selbst ernähren.“ Da erscheint die Suche nach neuen Lebensmitteln, nach effektiver Resteverwertung, nach Konservierungsmethoden, um Verderblichkeit zu unterbinden, als zwingende Folge: als konzertierte Aktion von Politik und Wirtschaft, von Produzenten, die ihren Exportradius erweitern wollen, bis zu Unternehmern, die Rohstoffe in Markenprodukte zwecks effektiverer Wertschöpfung verwandeln. Spiekermann gibt sich dabei als gewissenhafter Chronist, der das Fachgebiet in seiner Fülle ausleuchten und zugänglich machen will und zum Beispiel bedauernd feststellt: „Eine Geschichte der deutschen Gefrierindustrie fehlt.“

Auch aktuelle Gesundheits- und Selbstoptimierungstrends wie Mood Food oder Functional Food zeigen: Der Prozess der Verwissenschaftlichung und Normierung scheint weiter unaufhaltbar, doch damit gewann auch das Kriterium der Stofflichkeit die Überhand über die eher sinnlich und individuell erfassbare aromatische und olfaktorische Qualität.

Spiekermann kennt, nennt und kritisiert auch Gegenbewegungen – so werde der Begriff Natur zunehmend automatisch und fast ungeprüft mit besserem Geschmack assoziiert. Über seine unintuitive, ja unempirisch wirkende Aussage: „ohne Label und wissenschaftliche Expertise ist Biokost kaum mehr von konventioneller Ware zu unterscheiden“ (755) könnte man freilich streiten – eigentlich genügt ein Blick auf kleinere, vielleicht etwas schrumpligere Äpfel, um zu erkennen, dass sie höchstwahrscheinlich aromatischer sind als irgendwelches aufpoliertes Hochleistungsobst. Natürlich ist es naiv, automatisch zu glauben, Bio schmecke auch besser, beziehungsweise ausschließlich auf dieses inflationäre Kriterium zu setzen. Aber gerade die Spitzenküche mit ihrer Produktsensibilität, aber auch Bewegungen wie Slow Food beweisen immer wieder, dass Kriterien ökologischer Verantwortung nicht bloße moralische Augenwischerei sind, sondern dass Fleisch und Bergkäse von freiweidenden Almrindern, dass mit langsamer Teigführung erzeugtes Brot, dass weniger ertragreiche Obst- und Gemüsesorten sensorisch überlegen sind. Das genau zu erkennen, bleibt freilich in unserer Massenkonsumgesellschaft immer seltener der schrumpfenden Gruppe selbstverständlich mit bäuerlichen und landwirtschaftlichen Direktprodukten vertrauten Bürger vorbehalten, sondern eher einem Kreis von Interessierten, der Zeit und Passion in die Nahrungsauswahl investiert. Spiekermann sieht sich als neutraler, dem latent sinnlichen Thema bewusst unemotional begegnender Chronist, der lieber den Status quo erforscht, als sich auf weltanschauliche Diskussionen darüber einzulassen, ob durchdachte Gegenmodelle zur Allmacht künstlicher Kost wie die erwähnte weltumspannende Slow Food-Bewegung, die auf den direkten Kontakt zum Produzenten und unverarbeitete oder handwerklich erzeugte Lebensmittel setzt, ein überzeugendes Zukunftsmodell bieten. Der Autor konstatiert ernüchternd, ja desillusionierend: „Künstliche Kost ist heute letztlich alternativlos“ (782), ein umstrittenes Resümee, das nur grosso modo auf unser volkswirtschaftliches Ernährungsverhalten zutrifft, aber nicht thematisiert, dass gerade durch die radikale Esstrendwende von Teilen der jüngeren Generation, durch das Revival von Ab-Hof-Verkauf und „Gemüsekiste“, von urban gardening, Radikal Regional, from nose to tail und selbstgebackenem Brot es mit ein wenig Anstrengung und kulinarischer Eigenverantwortung sehr wohl möglich ist, sich Direktprodukten zuzuwenden und sich eigenverantwortlich aus künstlicher Kost auszuklinken.

Spiekermann zielt eher auf den angesichts der Flut von Ernährungsberatungen etwas aus der Mode gekommenen „unbewusst essenden“ Konsumenten, möchte dazu beitragen, dass jedermann auf der Suche nach Orientierungshilfen auch die Manipulationsmöglichkeiten künstlicher Kost mit ihren „kommerziellen und ideologischen Narrativen“ (12) erfasst. Hinweise wie „Ernährungswissenschaft ist ein System der Neuigkeitsproduktion und Wissensverdrängung“ (781) oder „die Öffnung des Bio-Angebotes bedeutete den Übergang hin zu stärker verarbeiteten Produkten mit wachsendem Conveniencegrad“ (755) entbehren nicht eines kritischen Potentials und können tatsächlich die Augen öffnen für das, was so auf unserem Tisch steht. So steht hinter all der akribischen Materialfülle durchaus ein aufklärerisches Anliegen, keine Vision, aber ein verhaltenes Plädoyer für kulinarische Eigenständigkeit.

Auch wenn die schiere Länge und der Anekdotenreichtum des Textes den aufmerksamen Leser vor eine Geduldsprobe stellen, so lädt das Buch nicht nur zum gewissenhaften Nachdenken, sondern auch zum Schmökern ein. Denn was Spiekermann hier in extenso abhandelt, ist unser aller kulinarische Sozialisation, so dass sich bereits beim Durchblättern eine Fülle unterschiedlichster persönlicher Erinnerungen einstellt.