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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Winfried Dimmel

Die Budweiser Aktienbrauerei und die Konstruktion des Nationalen. Brauindustrie im Spannungsfeld von Wirtschaftsnationalismus und Verdrängungswettbewerb

(Schriften zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 29), Hamburg 2017, Dr. Kovač, 197 Seiten
Rezensiert von Manuel Trummer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.07.2019

Trotz in vielen europäischen Ländern stagnierenden Konsums bleibt Bier ein besonderes Getränk. Ausgestattet mit einer schillernden Semantik knüpfen sich an den Gersten- respektive Weizensaft nationale Vorstellungen ebenso wie Männlichkeitsstereotype. In seinen Produktionsverhältnissen repräsentiert das Bier die globalen Netzwerke der Ernährungsindustrie in ihrer ganzen Schlagkraft und bleibt doch gleichzeitig wie kaum ein anderes Genussmittel Argumenten wie Region, Tradition und ‚Heimat‘ verbunden. Zuletzt widmete das Haus der Bayerischen Geschichte dem Bier anlässlich des 500-jährigen Jubiläums des sogenannten „Reinheitsgebotes“ eine Landesausstellung. Zahlreiche andere Publikationen zu Kultur, Geschichte und Konsum des Getränks nutzten das Datum ebenfalls als Erscheinungstermin.

Gewissermaßen mit einem Jahr Verspätung zum publizistischen Bierspektakel im Jahr 2016 legte auch Winfried Dimmel eine historische Studie zum Bier – genauer zum Brauereiwesen – vor. Soviel sei vorweggenommen: Es ist gut, dass dieses feine, mit versiertem historischen Blick verfasste Buch so nicht in Gefahr geriet, in der Veröffentlichungsflut des Vorjahres zu versinken. Die Grundlage für die vorliegende Publikation bildet die Masterarbeit Dimmels, die bei Dieter Segert an der Professur für Transformationsprozesse in Mittel-, Ost- und Südeuropa der Universität Wien entstanden ist. Mit einem Blick auf die nationale Semantik von Bier positioniert sich die Studie zwischen Wirtschaftsgeschichte, Politikwissenschaft und Europäischer Ethnologie.

Den Gegenstand von Winfried Dimmels Studie bildet dabei die staatliche Brauerei Budějovický Budvar im südböhmischen Budweis, der mit ihrer Marke „Budweiser“ (nicht zu verwechseln mit der US-amerikanischen Marke aus dem Anheuser-Busch-Konzern) nach 1989 der Sprung auf den globalen Biermarkt gelang und die heute auch außerhalb Tschechiens zu den bekanntesten Bieren zählt. Anhand ihrer Geschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht Dimmel, wie sich die tschechische Nationalbewegung entlang des Genussmittels Bier und der Gründung von Brauereien formierte. Der Autor erkennt darin ein „Muster von politisch motivierten und national konstruierten Aktienbrauereien in Böhmen und Mähren“ (6), das einerseits der Konstitution einer gemeinsamen tschechischen Identität diente und andererseits Grenzen zu den deutschsprachigen, bürgerlichen Brauhäusern in Budweis und anderen Städten zog. Von Bedeutung ist dabei die Frage, wie die „diskursive Konstruktion“ (13) der Böhmischen Aktienbrauerei in Budweis zur nationalen Größe vonstattenging und wie dies den wirtschaftlichen Erfolg der Brauerei – bis heute – begünstigte. Diesen identitätspolitisch-wirtschaftshistorischen Erkenntnishorizont erschließt sich die Studie mit historischen Primärquellen, darunter zeitgenössische Presseartikel sowie unternehmensinternes Schriftgut. Leider bleibt die Arbeit hier mit Ausnahme eines kurzen Abschnitts vage. Wahrscheinlich der Lesbarkeit geschuldet, bleibt so völlig offen, wie der Autor mit seinen Quellen arbeitet und um welches Schriftgut es sich genau handelt. Ebenso unzureichend ist die Darstellung der Methodik, die lediglich in einem kurzen Absatz erwähnt, dass der „visuelle Auftritt der Budweiser Aktienbrauerei“ (15) analysiert und ein Experte, der Stadthistoriker von Budweis und Corporate Identity Manager der Brauerei Dr. Ivo Hajn, zu Rate gezogen wurde. Gerade in Hinblick auf die visuelle Auswertung der Quellen schmerzt die fehlende Bebilderung der Arbeit nicht nur, sondern bildet auch ein methodisches Problem. Eine Stärke im Fundament der Arbeit ist dagegen der breite Bestand an tschechischsprachiger Sekundärliteratur, die vom Autor rezipiert und so – bei vielen Titeln erstmals – in den deutschsprachigen Diskurs eingespeist wird.

Nach der hinführenden Einleitung „in den tschechischen Bierkosmos“ (11) rahmt Winfried Dimmel seine Arbeit theoretisch in zwei Feldern. Zum einen schließt er mit seinem Zugang an Diskurse des nation-building an; vor allem Benedict Anderson, Eric Hobsbawm und Nira Yuval-Davis fundieren hier den Erkenntnishorizont, dessen Eckpfeiler für den Autor besonders in den Aspekten der Sprache und der Kollektivierung gemeinsamer Werte liegen. Hier öffnet sich zugleich die zweite theoretische Rahmung der Arbeit, die unter anderem mit Helene Karmasin nach der Bedeutung von Produktbotschaften und dem identitätsstiftenden Wert von Konsumgütern fragt.

Ausgehend von dieser Rahmung umreißen die beiden folgenden Kapitel die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen die Brauerei Budějovický Budvar 1895 entstand. Auf der Grundlage der überwiegend tschechischen Forschungsliteratur verdeutlicht sich dabei, wie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend nationale Grenzen zwischen den deutsch- und tschechischsprachigen Bevölkerungsteilen in den böhmischen Ländern eröffnen. Sie verlaufen dabei auch schnell entlang der Konsumgewohnheiten und Gaststättenkultur. So erfahren erstens die tschechisch geprägten Wirtshäuser und Bier-Gaststätten der Vororte rasch eine nationale Aufladung gegenüber der überwiegend deutschsprachigen, von Wein und Kaffee geprägten Kaffeehaus- und Restaurantkultur der Innenstädte. Die Nationalisierung des Bierkonsums geht zweitens mit einer allgemeinen nationalen Aufladung der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse einher. Sie führt zudem drittens vor allem im bis dato strukturschwachen Südböhmen, das als Hochburg tschechischen Nationalismus gilt, zu einer Gründungswelle von dezidiert tschechischen Betrieben. In diesem in dreifacher Hinsicht national aufgeladenen Kontext erfolgt nun 1895 die Gründung der tschechischsprachigen Böhmischen Aktienbrauerei – in direkter Konkurrenz zur deutschsprachigen Bürgerlichen Brauerei. Der Gründungszeitpunkt war symbolisch gewählt: so feierte Letztere in diesem Jahr ihr 120-jähriges Jubiläum.

Der Gründungsakt und die Geschichte der Budějovický Budvar bilden ein Kernstück von Dimmels Studie. Erneut auf der Grundlage der tschechischen Forschungsliteratur bietet er eine politische Lesart der Entstehung des als Aktienbrauerei betriebenen Unternehmens an. Gerade diese Betriebsform scheint im nationalökonomischen Kontext wichtig. Anders als beim Bürgerlichen Brauhaus beschränkte sich bei der neuen Brauerei das Anteilsrecht nicht lediglich auf die (deutschen) Hausbesitzer in der Innenstadt, sondern bot allen Interessierten die Möglichkeit einer Beteiligung. Mit dem Konsum des ohnehin bereits als „kern-tschechisch“ (89) vermarkteten neuen Bieres konnte so dafür gesorgt werden, dass die eigenen Aktienanteile stiegen. Das Biertrinken wurde zur nationalen Angelegenheit und Pflicht. Im national aufgeladenen südböhmischen Umfeld erwarb sich die Budějovický Budvar so rasch das Image der „tschechische[n] Volksbrauerei“ (89). Ihr Bierabsatz steigerte sich dadurch, was auch das Ergebnis einer national gefärbten Markenkommunikation war, die die Eigentümerverhältnisse offensiv als homogen tschechisch vermarktete. Der Blick in die Gegenwart zeigt im folgenden Kapitel, dass diese Nationalisierungsstrategie über die Besitzverhältnisse und die Herkunft bis heute nachwirkt. Den Gegenpol bilden dabei allerdings nicht mehr die deutschsprachigen Bevölkerungsteile, sondern vor allem die globale Konkurrenz, etwa in Form des multinationalen Brauriesen Anheuser-Busch mit seiner eigenen „Budweiser“-Marke. Hier gerät die Budějovický Budvar nicht nur zu einem Ankerpunkt nationaler tschechischer Identität, sondern bleibt öffentlich diskutiertes Politikum, an dem sich weiterreichende gesellschaftliche Konflikte von global und lokal, von Industrie und handwerklicher Produktion, von Tradition und Moderne festmachen. Die Budějovický Budvar bildet dabei, wie Dimmel im direkten Vergleich mit anderen Brauereigründungen in Böhmen feststellt, in ihrer Gründungsgeschichte zwar keine Ausnahme, doch gelang es gerade ihr, sich nachhaltig als nationaler „Mythos“ (169) zu etablieren. Zu dieser markanten Sonderstellung der Budějovický Budvar hätte sich der Rezensent in den knappen Schlussfolgerungen noch klarere Einordnungen und einen mutigeren Ausblick auf die internationale Entwicklung der Bierkultur erhofft.

In der Summe leistet Winfried Dimmel mit seiner Studie trotz der genannten formal-methodischen Schwächen mehrere Beiträge auch für eine europäisch-ethnologische Ernährungsforschung. Zum einen gelingt ihm in außerordentlicher Deutlichkeit, ein exemplarisches Schlaglicht auf die Konstruktion nationaler Mythen entlang von Genussmitteln zu werfen. Zum anderen liefert die Arbeit umfassendes Wissen zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte des böhmischen Gaststätten- und Brauereiwesens um 1900. Drittens macht der Autor dank seiner Sprachkenntnisse einen wichtigen Teil der leider nur selten rezipierten tschechischen Fachliteratur zum Thema verfügbar. Sowohl für Ernährungshistoriker wie für an Fragen nationaler Identität interessierte Leserkreise bildet der knapp 170 Seiten plus Anhänge umfassende, auch flüssig geschriebene Band somit eine empfehlenswerte Lektüre.