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Silke Meyer

Das verschuldete Selbst. Narrativer Umgang mit Privatinsolvenz

(Arbeit und Alltag. Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung 12), Frankfurt am Main/New York 2017, Campus, 447 Seiten
Rezensiert von Malte Völk
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.07.2019

„Das verschuldete Selbst“ erschließt ein hochaktuelles, gesellschaftlich brisantes Thema, bettet dieses auf spannende Art in kulturgeschichtliche Zusammenhänge ein und demonstriert dabei eindrucksvoll, wie methodische und epistemologische Schwerpunkte der Europäischen Ethnologie ihre Kraft entfalten können. Dass es sich um die überarbeitete Fassung einer von der Universität Innsbruck angenommenen Habilitationsschrift handelt, sollte nicht vor der Lektüre zurückschrecken lassen: Die der Gattung eigentümliche wissenschaftliche Gravität ist hier nicht durch sperrigen Stil oder erschlagende Materialfülle erkauft, wiewohl der Erkenntnisgewinn beträchtlich ist.

Einleitung und erstes Kapitel bieten eine sozialanthropologisch fokussierte Kulturgeschichte des Kreditwesens und der sozialen Dimension von Schuldverhältnissen, wobei auch ethnologische und philosophische Theorien zu Gabe und Tausch einbezogen werden. Historisch greift Silke Meyer hier sehr weit aus und bezieht überdies Beispiele aus den verschiedensten Erdteilen mit ein. Doch über diskursanalytische Ansätze bezüglich der Konstituierung des Selbst im Zusammenhang mit ökonomischen Aspekten bereitet sie zielgerichtet auf den empirischen Teil der Untersuchung vor. Besonders spannend und fruchtbar ist hier die Entwicklung der Konsumentenkredite in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Es überrascht kaum, dass die wesentlich antisemitisch motivierte Ablehnung des Kreditwesens aus der Zeit des Nationalsozialismus zunächst kulturell verbreitet bleibt, bevor sich aber noch in den 1950er Jahren eine neue Haltung durchsetzt. Die konzise Zusammenfassung der Entwicklung einer fordistischen Konsumgesellschaft, die schließlich in einen neoliberalen Spätkapitalismus mündet, liest sich mit Blick auf die Rolle des Konsumentenkredits aus einer alltagskulturellen Perspektive: Die Sicherheit der ökonomisch und kulturell gefestigten fordistischen Lebensmodelle mit Feierabend, Urlaub und Kernfamilie war als „Normalbonität“ „beleihbar“ (36). Die heutigen, vielfach prekären und befristeten Arbeitsverhältnisse werden zwar auch beliehen – nur um die Deckung steht es schlechter. Dass gerade mangelnde Deckung von Krediten in der deregulierten Finanzbranche ein Grund für die letzte internationale Finanzkrise gewesen ist, macht deutlich, wie wenig selbst kleine Konsumentenkredite (bis hin zu Mikrokrediten, die auch am Rande einbezogen werden) von makroökonomischen Fragen zu trennen sind. Es gelingt Silke Meyer hervorragend, solche Zusammenhänge souverän darzustellen, ohne ihre LeserInnen allzu weit vom Kernthema des Buches fortzuführen: dem Umgang von überschuldeten Personen mit ihrer prekären Situation – die durch die seit 1999 in Deutschland bestehende Möglichkeit der Privatinsolvenz in neue, institutionell geordnete Strukturen überführt werden kann. Da nach Statistiken der letzten Jahre in Deutschland 5,4 % der Erwachsenen „von Überschuldung betroffen“ (39) sind, handelt es sich keinesfalls um ein Randthema, auch wenn es immer noch wenig Beachtung findet.

Die thematisch fokussierten narrativen Interviews, die Meyer mit 45 von Überschuldung betroffenen Personen geführt hat, werden flankiert nicht nur von theoretischen und statistischen Forschungsergebnissen, sondern auch von weiteren zwölf leitfadengestützten Gesprächen mit Schuldnerberatern. Sehr gründlich wird die methodische Vorgehensweise vorgestellt und reflektiert, so dass die Kapitel über Datenerhebung und ‑auswertung (3. und 4.) auch gelesen werden können als Position beziehender Überblick über aktuelle sozial- und kulturwissenschaftliche methodologische Diskurse. Neben konkreten Einzelfragen wie etwa der Unterscheidung von themenzentrierten und biographischen Interviews finden sich kenntnisreiche Problematisierungen von grundsätzlichen Voraussetzungen im Bereich von Narrationsanalyse, Biographieforschung und hier relevanten Bereichen der Erzählforschung. Geht man, wie es auch Meyer tut, von einer Konstituierung des Selbst durch Erzählungen aus, wirft dies die Frage auf, inwieweit das „erzählende Ich“ und das „erzählte Ich“ (22) als identisch angesehen werden können. Mit anderen Worten: Die in der Europäischen Ethnologie besonders hoch geschätzte Aufmerksamkeit für akteurszentrierte Prozesse von Sinngebung und Selbstermächtigung darf nicht von strukturellen, gesellschaftlichen Faktoren ablenken, da sie sonst im ungünstigsten Fall ins Fahrwasser einer zynischen Ideologie neoliberaler Logik von Selbstverantwortung geraten könnte. Dieser „Dualismus von Struktur und Praxis“ (18) soll hier mit der Fokussierung auf die alltägliche Lebenswelt in ein dialektisches Verhältnis überführt werden.

Die „Schuldengeschichten“, die im zentralen und umfangreichsten 5. Kapitel des Buches präsentiert und ausgedeutet werden, zeigen, wie wichtig eine theoretisch und methodologisch durchdachte Anbahnung gerade bei diesem für die Betroffenen existentiellen Thema ist. Diese haben ihre Situation als Schuldner so konsequent internalisiert, dass sie, so legen Meyers feinsinnige und auch selbstreflexive Beobachtungen nahe, das Forschungsvorhaben nicht immer von den institutionellen Strukturen trennen können, in die sie eingebunden sind: Die Betroffenen traten der Interviewsituation vielfach mit offenbar bereits „eingeübten Subjektpositionen“ (378) entgegen. Sie hatten ihre Schuldengeschichten wohl schon wiederholt gegenüber anderen „erprobt und verfeinert“ (378) und nahmen überdies die Feldforscherin, die den Kontakt zu ihren InterviewpartnerInnen in vielen Fällen über Schuldnerberatungen hergestellt hatte, zumindest tendenziell ebenfalls als eine Art Beraterin wahr: „Auch wenn ich keine Lösungsvorschläge machen konnte, geriet ich sozusagen in den Windschatten des Beratungsteams“ (72), so Meyer. Trotz dieser Schwierigkeit lassen sich Erzählstrategien offenlegen, die besonders auf eine „moralische Entschuldung“ (8) zielen, wenn die ökonomische Schuld durch ein Insolvenzverfahren geregelt wird. „Zu uns kam der Gerichtsvollzieher ja gerne“, beteuert etwa eine Frau, die als Witwe mit einem kleinen Familienbetrieb wirtschaftlich und privat in Konkurs gegangen war: „,Bei Ihnen ist es wenigstens sauber, das sind doch ordentliche Verhältnisse‘, hat er gesagt. [...] er kam dann richtig gerne zu uns“ (190 f.).

Solche Versuche der Abgrenzung von anderen, moralisch weniger einwandfreien SchuldnerInnen, der „narrative Drang zur gesellschaftlichen Mitte“ (379), stellt eines der von Silke Meyer abschließend festgehaltenen Ergebnisse dar: Die geordneten Verhältnisse von traditionellen bürgerlichen Wertvorstellungen und gradlinigen Lebensläufen werden offenbar entschieden ins Selbstbild integriert, wenn die Gefahr besteht, dass sie von außen in Zweifel gezogen werden könnten. Die Studie zeigt weiterhin, dass diese Orientierung an solchen in der „postmodernen Bastelarbeit“ (379) fragmentiert geglaubten Idealbildern kombiniert wird mit der Affirmation neoliberaler Ideale von Eigenverantwortung und Aktivität. Neben der großen Bedeutung des Narrativen, der Selbsterzählung, für solche Identitätsbildungen stellt Meyer ein weiteres zentrales Ergebnis heraus, das wiederum anknüpft an die theoretisch-methodologische Frage nach dem Verhältnis von Agency und gesellschaftlichen Verhältnissen: Viele SchuldnerInnen messen äußeren Faktoren, die zu ihrer prekären Lage beigetragen haben, erstaunlich wenig Bedeutung zu, selbst wenn diese wie etwa in Fällen von Krankheit oder Arbeitslosigkeit klar außerhalb des Einflussbereiches der Betroffenen liegen. Sie haben, so die Schlussfolgerung der Studie, die moralische Schuld verinnerlicht und ihre Rolle als „Schuldensubjekte“ (380) angenommen.