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Sophie Luise Reimers

Migration, Bildung und Familie. Ethnografische Annäherung an den Alltag dreier Generationen zwischen türkischem Dorf und Neuköllner Kiez

Bielefeld 2018, transcript, 272 Seiten mit 3 Abbildungen, 6 Tabellen
Rezensiert von Gabriele Sigg
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.07.2019

Was ist Bildung und wie wird sie in der Gesellschaft diskutiert? Mit diesen Leitfragen könnte man vielleicht das Dissertationsprojekt von Sophie Luise Reimers überschreiben. Die Autorin ist Kultur- und Sozialanthropologin und beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit kritischer Migrationsforschung, Bildung und Biografieforschung. Die Dissertation wurde 2017 bei Werner Schiffauer an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder abgeschlossen.

Untersuchungen zur Bildungsforschung mit derartigen Fragestellungen gibt es zuhauf. In diesen kommt immer wieder klar zum Ausdruck, dass der „Habitus“ und die Kapitalsorten in Form von kulturellem, sozialem oder ökonomischem Kapital (Pierre Bourdieu) den Zugang zu Bildungsgütern ermöglichen oder versperren. Deutschland gehört im internationalen Vergleich eher zu den Ländern, in denen die Herkunftsfamilie maßgeblich den Bildungserfolg vorbestimmt. Dass Migranten einen ähnlich schweren Zugang zu Bildung wie Arbeiterkinder haben, darüber herrscht Konsens. Umstritten ist dabei allerdings, ob der Bildungsweg für Migranten nun aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes oder nicht vielmehr aufgrund ihrer sozialen Klassen- oder Milieuzugehörigkeit schwerer zugänglich ist.

Und hier setzt Sophie Luise Reimers an. In einer detaillierten Mikroethnographie beschreibt sie die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Prägungen „zwischen türkischem Dorf und Neuköllner Kiez“. Die Arbeit ist in acht große Kapitel gegliedert. Neben dem Vorwort bilden Kapitel 2 und 3 die Vorüberlegungen für die theoretische Grundlegung sowie die Einbettung in den Forschungskontext. Die Hauptkapitel 4 bis 6 geben Einblick in die Lebensfelder „Im türkischen Dorf“, „Im Arbeiterviertel“ und „Im (post-)migrantischen Kiez“. Das 7. Kapitel reflektiert „Bildung im Kontext von Familie und Migration“. Zusammenfassende Bemerkungen in Kapitel 8 schließen die Ethnographie ab.

Anfänglich kritisiert Reimers den nationalstaatlich eingebundenen Bildungsbegriff, insbesondere im Hinblick auf die Zugangschancen zu den Bildungssystemen für Personen mit Migrationshintergrund. Die Fragestellung ist in drei Komplexe gegliedert: „erstens die Bedeutungsebene, [...] zweitens die Handlungsebene, [...] und drittens die soziale Ebene“ (48). Die Arbeit ist klar strukturiert und man kann ihr gut folgen.

Hervorzuheben ist die Selbstreflexion, die Reimers zutage legt, nämlich dahingehend, dass sie ihre Absichten nicht verschleiert, sondern sich bewusst macht und offen kommuniziert: „Implizit nahm ich immer wieder den Auftrag wahr, mit meiner Ethnografie ein Gegennarrativ zu einem Diskurs beizusteuern, der hauptsächlich die Defizite der Migranten thematisierte.“ (77) Das „Sprechen für Andere“ (75, zitiert nach Linda Alcoff 1991) erkannte sie jedoch gleichzeitig als Problem in dem Machtkomplex des Forschers und einer marginalisierten Randgruppe. So zeichnet sie verständlich die unterschiedlichen Lebensentscheidungen und Konflikte, denen sich die von ihr untersuchte Familie im Migrationskontext zu stellen hat, nach.

Bei der Lektüre entstand aufgrund dieser Hintergrundmotivation bei mir jedoch immer ein gewisses Unbehagen: Muss ich jetzt Mitleid für das schwere Leben mancher Familienmitglieder empfinden? Ist die Hervorrufung von Betroffenheit bewusst erwünscht und wenn ja, dient sie wirklich dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn? Was mich bei der „kritischen Migrationsforschung“ stört, der sich die Autorin explizit zuordnet, ist, dass ich immer schon am Anfang beim Lesen befürchte, in welche politische Richtung die ganze Forschung gehen wird. Dieses Unbehagen löste sich während des Lesens leider nicht auf.

Spannend wird die Arbeit am Schluss, wenn sich die Autorin – inspiriert durch ihre Gesprächspartner – näher mit dem über das gängige akademische Bildungsverständnis von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital hinausgehende Bildungsdenken befasst. Im Kapitel „Das ethisch gute Leben“ verweist sie mittels der Aussagen der interviewten Familienmitglieder darauf, dass Bildung eben mehr sei als besagte Kapitalsorten und auch die Bildung des Menschen als solchen impliziert. Hierunter versteht sich eine Bildung des ganzen Menschen, die nicht nur den persönlichen Erfolg der durch die im gesellschaftlichen System erworbenen Kapitalsorten umgreift, sondern auch die menschliche Ebene, die so weit ausgebildet sein sollte, dass dieser Erfolg mit anderen Menschen etwa durch dem Allgemeinwohl dienende „gute Taten“ geteilt wird. Die Interviewpartnerin Melek sagt dazu: „Jemand, der zum Beispiel studiert [...], der für andere keinen Nutzen hat, sondern nur für sich und sein Leben sich nur um Geld dreht. Zum Beispiel ein Rechtsanwalt, der keinen Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, hilft, sondern nur denen, die viel Geld haben. Das ist dann, ok er hat sich zwar schulisch gebildet, aber nicht gebildet in der Hinsicht, was eigentlich auch Bildung ist. Menschen helfen. Also dieses Zusammenleben ist sehr wichtig, finde ich, und das lernt man ja auch, indem man sich weiterbildet.“ (228) Diese Vorstellungen von einer allgemeinen Bildung fänden sich sowohl im Islam und anderen Weltreligionen als auch in philosophischen Schulen.

Die Bildungsforschung, die sich heute größtenteils auf die Messung der bekannten Kapitalsorten im weiteren Sinne bezieht, wäre gut damit beraten, dieser Dimension von Bildung einen Stellenwert in ihren Forschungen einzuräumen. Das gute Leben mit Bildungserfolg gleichzusetzen, wie dies vielfach indirekt getan wird, übersieht nämlich genau die ganzheitliche Bildung, die das Arbeiterkind Melek weit gebildeter erscheinen lässt, als so manchen Akademiker und so manche Akademikerin. – Und dies ist für mich wohl der wertvollste und für die Bildungsforschung innovativste Teil der vorliegenden Studie.