Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Michael Fischer/Christofer Jost (Hg.)

Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914–2014. Zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs und zur Gründung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik

(Populäre Kultur und Musik 20), Münster/New York 2017, Waxmann, 387 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Berndt Ostendorf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.07.2019

Das Buch verfolgt ein doppeltes Anliegen. Es ist eine Art Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs, das 1914 von John Meier in Freiburg im Breisgau gegründet wurde, und es ist gleichzeitig eine programmatische Absichtserklärung zur fachlichen Positionierung des Nachfolgezentrums für Populäre Kultur und Musik im Jahre 2014 auf einer neuen inhaltlichen, theoretischen und methodischen Grundlage. Geleit- und Grußworte stellen eine Art tabula gratulatoria und eine Wertschätzung der bisherigen wissenschaftlichen Leistungen des Archivs dar. Die etwa 20 vorgelegten Beiträge einer Konferenz stecken das fachliche Potential der jungen Wissenschaft zur populären Musik ab und umschreiben eine stillschweigende Erwartung der akademischen Öffentlichkeit an das Nachfolgezentrum.

Die Beiträge behandeln die deutsche Wahrnehmung der amerikanischen populären Musik und flankierende Ereignisse und Praktiken der Alltagskultur. Von zentraler Wichtigkeit ist die sich wandelnde Gefühlsstruktur in den letzten hundert Jahren diesseits und jenseits des Atlantiks, also die unterschiedlichen realhistorischen Rahmenbedingungen und ihre wechselseitigen Beeinflussungen. In den USA beginnen wir mit dem Ersten Weltkrieg und dem Jazz Age, dann folgen die Roaring Twenties, die Wirtschaftskrise und New Deal, schließlich die Nachkriegszeit, der Kalte Krieg und die Studentenbewegung, die als eine Art Sattelzeit gelten kann mit einer Brücke zur Globalisierung und Digitalisierung der populären Musik weltweit. Auf deutscher Seite folgt dem Ende des Ersten Weltkriegs der Schock von Versailles, dann die krisenhaften Zwanziger Jahre und das Aufblühen der Weimarer Republik, die Hitlerjahre, dann die Nachkriegszeit und die Adenauer-Restauration, danach der Kalte Krieg. Mit der stark von Amerika geprägten Studentenbewegung setzt eine gewisse Konvergenz der Gefühlsstrukturen ein, um in der gemeinsamen Globalisierung und Digitalisierung der populären Musik aufzugehen. Der Forschungsgegenstand und das Erkenntnisinteresse sind im Zentrum für populäre Musik umfassender definiert als zu Zeiten des Volksliedarchivs. Gegenstand des neuen Interesses ist die „Musik der Vielen“ im Kontext der populären Alltagskultur ohne die leidige hierarchische Trennung zwischen highbrow und lowbrow beziehungsweise die Differenz zwischen E-Musik und U-Musik, zwischen Volkslied und Popmusik. Auch als symbolische Ressource in der politischen und gesellschaftlichen Arena übernimmt die populäre Musik eine neue Rolle. Peter Wicke fasst die Aufgaben und Erwartungen an das neue Zentrum zusammen: „Der Volksmusikforschung werden diese Impulse aus dem musikalischen Alltag der Gegenwart, der Popmusikforschung, eine Vertiefung der historischen Dimension bringen. Die interdisziplinäre Verankerung im Kontext der populären Kultur ist dabei unerlässliche Voraussetzung, um dem vielschichtigen Geflecht von sozialen, wirtschaftlichen, technologischen und medialen Prozessen auf die Spur zu kommen, in die die musikalischen Aktivitäten im Alltag in Vergangenheit wie Gegenwart eingebunden sind. [...] Möge das Zentrum für Populäre Kultur und Musik an der Universität Freiburg zu einem Ort werden, an dem die populären Musikformen – vom Volkslied bis zum HipHop und all dem, was der Musikbetrieb in Zukunft hervorbringt – eine kritische Auseinandersetzung erfahren, die ihrem realen Stellenwert in Kultur und Gesellschaft entspricht.“ (35 f.)

Die deutsche Wahrnehmung der amerikanischen populären Musik, so der Titel des Buches und der vorausgegangenen Konferenz, pendelt zwischen Euphorie und Hysterie, zwischen Amerikabegeisterung und Amerikakritik, zwischen Abwehr und Akzeptanz. Den Herausgebern ist es gelungen, durch Einladung von WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Fachbereichen einen interdisziplinären, multiperspektivischen Zugang zu diesem Themenkomplex zu eröffnen. Der Spannungsbogen zwischen Begeisterung und Ablehnung ist auch ein fester Bestandteil des sogenannten American Exceptionalism und hat auch die Rezeption der populären Musik in den Vereinigten Staaten geprägt. Kulturpessimisten, die an der Tradition mit ihren hohen Idealen festhalten wollten, reagierten auf das Aufkommen und die massenhafte Verbreitung einer Unterhaltungsindustrie mit heftiger Kritik an seiner „zersetzenden Wirkung.“ Es hat in den USA von den Coon Songs über den Jazz und die Rockmusik bis zum HipHop zu jedem innovativen Entwicklungsschub der Populärmusik eine heftige begleitende Diskussion Für und Wider gegeben. Als Austauschstudent in Dubuque Iowa in den Jahren 1957/58 konnte ich die Wirksamkeit dieser Dynamik (und ihre Überwindung) beobachten: Auf den wöchentlichen Tanzabenden des College durfte der DJ die Everly Brothers, Dean Martin, Doris Day und Paul Anka auflegen, aber keineswegs die harten Nummern von Elvis oder vom Großvater des Rock, Bill Haley. Das Verbot wurde jedoch durch massiven Protest der tanzenden Jungbürger perforiert, bis die langsamen Nummern von Elvis zum Ausklang des Abends erlaubt wurden. Kurzum, der dialektischen Rezeption zwischen Euphorie und Hysterie in Deutschland ging eine amerikanische Diskussion zwischen Verbot und Akzeptanz voraus. Noch im Oktober 1957 soll Frank Sinatra auf den phänomenalen Erfolg von Elvis Presley wie folgt reagiert haben: „Rock’n Roll is the most brutal, ugly, desparate, vicious form of expression it has been my misfortune to hear“‚ eine Meinung, die die amerikanische Elterngeneration durchaus teilte. Die religiöse Rechte unterstellte noch 1966 der populären Musik insgesamt einen kommunistisch unterwanderten Masterplan zur Korruption der Sinne durch die Übernahme afrikanischer Rhythmen, vermittelt von jüdischen, das heißt orientalischen Türhütern. [1]

Die Anordnung der Beiträge ist chronologisch und setzt mit dem Zeitraum von 1914 bis 1945 unter dem Titel „Neue Klänge in deutschen Landen“ ein. Martin Pfleiderer beginnt mit der Erfindung Amerikas aus dem Geiste des Jazz und behandelt die Jazzrezeption in Deutschland zwischen den Weltkriegen. So sei Jazz als Symbol für Amerikas prosperierenden Fortschritt und expandierenden Kapitalismus und als neu-sachliches Symbol der Maschinenwelt gesehen worden. Hierbei betont er die Rolle der afroamerikanisch-inspirierten Gesellschaftstänze, wie etwa Cakewalk, Shimmy, Foxtrott und Jitterbug, die die Entstehung und schnelle Verbreitung des Jazz flankierten. Es gab parallel dazu eine kritisch-konservative Reaktion auf beiden Seiten des Atlantiks, vor allem in der Nazizeit, die die „Vernegerung, Verjudung und Verweiblichung“ durch populäre Musik beklagte und bekämpfte. Pfleiderers Fazit: Der Jazz war sowohl Symptom wie auch Antrieb eines ersten Globalisierungsschubs, mit seinen glokalisierten widersprüchlichen Verortungen. Niels-Constantin Dallmann stellt einen wissenschaftlich weitgehend unbeachteten Roman, „Jazzyn“ von Erwin Sedding, mit ausführlichen Darstellungen des Weimarer Jazzmarkts vor. Tobias Faßhauer untersucht einen populären Marsch, „The Washington Post“ von John Philip Sousa, und seine deutsche Rezeption. Jens Gerrit Papenburg studiert die Artikulationen populärer afroamerikanischer Musik und ihre Wahrnehmung in Deutschland zwischen 1900 und 1925 unter den Stichworten Plantage, Militär und Maschine. Hierbei versucht er eine Neueinschätzung der Jazztheorie von Theodor W. Adorno, der von einer archaisch wirkenden Exotik des Jazz ausging. Ebenso werden Vorformen des Jazz in der Minstrel Show und der Tradition der militärischen Blasorchester (etwa James Reese Europe) analysiert. Johanna Rohlf widmet sich der Jazzrezeption in der Berliner Presse in den zwanziger Jahren und hier vor allem dem umwerfenden Erfolg des Paul Whiteman Orchester. Ihre Beispiele lassen erkennen, „dass der Jazzdiskurs in einem großen Maße Katalysator für andere Befürchtungen und Missstimmungen war. Im Zentrum steht die Sorge vor einer starken kulturellen Einflussnahme der USA auf die deutsche Kultur bzw. die Hoffnung auf genau diese Einflussnahme.“ (132) Wolfgang Rumpf schließt den ersten Block mit „Amerikaschwärmerei, Systemkritik, Frust und Desillusionierung in den Theaterprojekten von Kurt Weill und Bert Brecht“ mit besonderer Berücksichtigung von Lindberghflug, Dreigroschenoper und Mahagonny.

Der zweite Block handelt „Von Besatzern, Freunden und Feinden“ in der Nachkriegszeit von 1945 bis 1960. Kaspar Maase betont die Kontinuitäten in der transatlantischen Beziehung und räumt mit einigen Legenden zur Stunde null auf. Er fragt, ob die Nachkriegsdeutschen die amerikanische Musik „eingängig und vertraut oder herausfordernd und rebellisch“ empfunden haben. Philipp Pabst untersucht die Darstellung der Jugendkultur in Alfred Anderschs „Der Tod des James Dean“. Katharina Weissenbacher gibt Einblicke in die Entwicklung des Jazz in der DDR nach dem Mauerbau. Vesna Ivkovs englischsprachiger Beitrag über die musikalische Identität der Deutschen in der Vojvodina wirkt etwas verloren und passt thematisch nicht ganz in das Konzept des Buches. Dafür trifft Michael Fischer wieder ins Volle mit Peter Kraus als Beispiel einer domestizierten Amerikanisierung der deutschen Musikkultur.

Der dritte Block trägt den Titel „Neue Freiheiten“ und betrifft die Jahre 1960 bis 1980. Peter Wicke behandelt die andere Seite des Amerikanismus, der mit der Gitarre in der Hand die Welt verändern wollte, und Monika Bloss fragt, warum es afroamerikanische Musik, insbesondere Soul und Free Jazz, in den Deutschlands der sechziger Jahre so schwer hatte. (Die implizierte Antwort ist die Prominenz und die Popularität des Rock n‘ Roll.) Maria Schubert untersucht die Rezeption afroamerikanischer Freiheitsklänge in der DDR, und Wolfgang Jansen analysiert das amerikanische Schock- und Rockmusical „Hair“ und die Einbettung in die Hippie-Kultur. Monika Demmler schließt den Block mit einer Untersuchung der „psychological healing functions and the revival of psychedelic Rock Music in the 21st century“.

Der vierte Block umfasst die Jahre 1980 bis 2014 und suggeriert, dass wir inzwischen vollamerikanisiert sind. Christoph Jacke beginnt mit einer Revue der Popmusik in Deutschland 1980 bis 2014 zwischen Amerikanisierung und Anti-Amerikanisierung. Christofer Jost stellt die Band Rammstein und ihren Song „Amerika“ als Lust zur Provokation vor. Hannes Loh schließt den Band mit einer Darstellung des Gangsta-Rap im Vergleich zwischen den USA und Deutschland.

Lässt sich aus den vielfältigen und unterschiedlichen Beiträgen erklären, warum die populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914–2014 so prägend und erfolgreich war, dass man insgesamt für die hundert Jahre von einer graduellen Selbst-Amerikanisierung sprechen kann? Was aber erklärt die Popularität der amerikanischen Popmusik? Hierzu einige stichwortartige Hypothesen:

Die Popularität der populären Musik der USA ist begründet im umfassenden gesellschaftspolitischen Rahmen einer liberalen Verfassung und in der stillen Wirkung des ersten Zusatzes zur Verfassung, der dem Bürger die „freie Ausübung“ der Kultur garantiert und jegliche Dominanz oder „Etablierung“ derselben verhindert. Dies wird deutlich in den immer wieder neuen und letztendlich gescheiterten Versuchen, einen Anglo-Konformismus in der Musik zur dominanten Leitkultur zu machen, und es erklärt die Aura der Freiheit, welche die populäre Musik als Grundtenor begleitet. Weiter spielen Rasse und Rassismus, die Sklaverei und der Bürgerkrieg als widersprüchliche Hypotheken der nationalen Identität eine prägende Rolle, die gesellschaftliche Spannungen und musikalische Bearbeitungen erzeugen. Die Minstrel Show als Choreographie der asymmetrischen Rassenbeziehungen dominiert die Öffentlichkeit bis in unsere Tage. Das nationale Motto „e pluribus unum“ markiert die Besonderheiten einer multiethnischen Einwanderungsgesellschaft. Daraus entwickelt sich eine stillschweigende Gewöhnung von Diversität, von ethnischen Subkulturen und Parallelgesellschaften, die durch schiere Ausdauer zur Toleranz mutierten. Diese Entwicklung förderte langfristig eine Politik der Anerkennung und Inklusion. Aus der privilegierten Dominanz des Populären ergibt sich eine Abwehr einer ständischen, hierarchischen Gesellschaft, allerdings unter Beibehaltung tiefsitzender rassistischer Gewohnheiten. Als permanente Erinnerung an die Sklaverei spielt die Präsenz der Afroamerikaner eine zentrale Rolle. Nach Aaron Copland kommt dem afroamerikanischen Rhythmus eine besondere Rolle zu, dessen Überführung in den Mainstream in der Regel von Juden besorgt wurde. Performanz und Improvisation sind wichtiger als Text und Komposition und in der öffentlichen Wirkung des Tanzes wird eine stille Choreographie der populären Musik sichtbar. Eine flankierende Rolle liegt in der hemisphärischen Vernetzung der afroamerikanischen „Baseline“ als musikalischer Resonanzboden: Es findet ein reger Austausch mit Kuba, Trinidad, Mexiko, Brasilien statt. Schließlich zeigt das Funktionieren der amerikatypischen nationalen Volkswirtschaft ihre Wirkung in der globalen Exportfähigkeit der amerikanisch-populären Musik. Der amerikanischen Tauschgesellschaft mit dem Motto „Der Kunde ist König“ gelingt die globale Integration mittels Konsum. Gleichzeitig stabilisiert sie das Entstehen eines nationalen Musikmarktes mit regionalen urbanen Zentren. Amerika versteht sich als Speerspitze der Modernisierung und nimmt alle möglichen Musikstile vom Rest der Welt auf. Grundtenor bleibt die Inklusion, flankiert von einer positiven Haltung zur Diversität. Soweit die Bündelung der Faktoren, die die Popularität der amerikanischen populären Musik erklären.

Man kann durch einen Vergleich der ersten Ausgabe des Grove Dictionary of American Music von 1986 mit der zweiten aus dem Jahr 2017 erkennen, welche Entwicklung die amerikanische Popmusikforschung durchlaufen hat: Was gleich auffällt, das Volumen hat sich verdoppelt. Aus einer vierbändigen wurde eine achtbändige Ausgabe. Die Einträge zur populären Musik haben sich vervielfacht, vor allem die zu Country and Western, die von 90 auf 300 angestiegen sind. Der neue Grundtenor betont die Vielfalt im musikalischen Alltag, Inklusion und Anerkennung, Wertschätzung der amerikanischen ethnischen Vielfalt, musikalischer Multikulturalismus, eine wachsende Toleranz für Regelverletzungen (HipHop, Rap), aber auch eine massenkulturelle Nivellierung durch Digitalisierung und Globalisierung. Typisch für die USA und für Deutschland ist eine gegenseitige Annäherung der Disziplinen: eine stetige interne Entwicklung der Volkskunde zur Europäischen Ethnologie, eine Erweiterung der amerikanischen Musikologie in Richtung Ethnomusikologie, der Vollzug des cultural turn und die Eingemeindung der American Studies. Viele innovative Forschungsbeiträge zur amerikanischen populären Musik sind hüben wie drüben von Nicht-Musikwissenschaftlern verfasst worden. Man schaut inzwischen über den nationalen Tellerrand wie etwa bei den zwei bahnbrechenden Konferenzen der Paul Sacher Foundation in Harvard und München 2008 und 2009. [2] Im vorliegenden Buch fehlt ein Hinweis auf diese transatlantische Zusammenarbeit und auf die vorangehende Konferenz. Das schmälert nicht die Verdienste dieser überzeugenden Publikation, ein großartiger Ertrag der jungen Popmusikforschung zum Thema Amerikanisierung und ein exzellenter Anschub für die zukünftige Arbeit des neuen Instituts auf einer neuen inhaltlichen, theoretischen und methodischen Grundlage.

 

Anmerkungen

 

[1] Die Quelle ist umstritten, hierzu: www.elvis-history-blog.com/elvis-sinatra.html; David A. Noebel: Rhythm, Riots and Revolution. An Analysis of the Communist Use of Music. Tulsa 1966.

[2] Felix Meyer, Carol J. Oja, Wolfgang Rathert u. Anne C. Shreffler (Hgg.): Crosscurrents. American and European Music in Interaction 1900-2000.  Rochester 2014.