Aktuelle Rezensionen
Stephan Deutinger/Roman Deutinger (Hg.)
Die Abtei Niederaltaich. Geschichte, Kultur und Spiritualität von der Gründung bis zur Säkularisation
(Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Ergänzungsbd. 53), Sankt Ottilien 2018, EOS, XV + 575 Seiten, 7 AbbildungenRezensiert von Gabriele Schlütter-Schindler
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 06.06.2019
Mit einem Blick auf die Funktion der Geschichte innerhalb der klösterlichen Welt beginnt Alois Schmid (Das Kloster und seine Vergangenheit. Geschichtskultur in der Benediktinerabtei Niederaltaich, S. 1-38) der Bedeutung der Vergangenheitspflege in Niederaltaich nachzuspüren. Im Zentrum steht die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte, die zu Beginn des Spätmittelalters einsetzt. Das ausgeprägte Selbstverständnis des Hauses als eines der Urklöster fand seinen Ausdruck in der Memorial-, Sepulkral-, Bau- und auch Festkultur, sichtbaren Elementen des Geschichtsbewusstseins. Die Bereitschaft des Klosters, Archiv und Bibliothek den anklopfenden Historikern zu öffnen - von Aventin bis Scholliner, der die Bände 11 (1771) und 15 (1787) der Monumenta Boica edierte -, spricht für ein Interesse an der eigenen Geschichte. Was die Hausgeschichtsschreibung angeht, so bilden die Werke Abt Hermanns, seine "als Handbuch der praktischen Klosterverwaltung" (S. 27) zu bezeichnenden amtlichen Schriften wie seine historiographischen, den Beginn wie auch das Glanzlicht dieser Gattung. Ihre Qualität wurde von keinem der auf Hermann folgenden fleißigen Schreiber, die Reihe beschließt der Haushistoriker Johann Baptist Lackner, erreicht. In der Gesamtschau sieht der Verfasser die Geschichtsschreibung lediglich als einen Teil der im Hause praktizierten Kulturpflege. Vorrang besaßen die wirtschaftlichen und rechtlichen Interessen: Niederaltaichs Schwerpunkte waren pragmatischer Natur.
Roman Deutinger (Vom Rhein zur Donau. Akteure der Gründung, S. 39-52) folgt den Angaben des Breviarius Urolfi zu den Gründungsmodalitäten Niederaltaichs und erhellt für die handelnden Personen - Herzog Odilo, den Karolinger Pippin, Bischof Heddo von Straßburg - ein Beziehungsgeflecht, das eine Erklärung für das Mauritiuspatrozinium und eine Antwort auf die Frage nach der Herkunft der ersten Mönche, nämlich aus der Ortenau - möglicherweise aus dem Straßburger Eigenkloster Ettenheimmünster -, bietet, der sich die Lokalisierung des Abtsnamens Ebersind in die Gegend um Straßburg anfügt. Das leidige Thema Gründungsjahr sollte von der Vorstellung eines Gründungsprozesses abgelöst werden, der nicht vor 736/737 begonnen hat, für den nach 744 die Zustimmung Pippins erlangt werden konnte und der spätestens mit dem Tod Odilos Anfang 748 abgeschlossen war.
Wolfgang Janka (Ortsnamen als Zeugnisse Niederaltaicher Siedlungstätigkeit, S. 53-68) kann über die sprachwissenschaftlich-namenkundliche Analyse von Ortsnamen im Bayerischen Wald, im Rottal, in Böhmen und Österreich Spuren von Siedlungsaktivitäten Niederaltaichs und seiner Propstei Rinchnach nachweisen. So augenfällig zu ermitteln wie bei Abt(s)-, Münch(s)- oder Probst(s)- als Bestimmungswort, ist das Engagement des Klosters für den Landesausbau dem Ortsnamenmaterial nach, wie andere Beispiele zeigen, keineswegs. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Verfassers zum sog. Gunthersteig.
Der Beitrag von Hubertus Seibert (Schutz, Besitz, Gefolgschaft, Gebet. Die Beziehungen zu Königtum und Reich [9. - 12. Jh.], S. 69-91) befasst sich mit der "Aktionsgemeinschaft" (S. 71, 85, ähnlich S. 72 und 74) von König und Reichskloster seit Karl dem Großen bis zu Friedrich Barbarossa. Diese Konstellation erlitt eine Unterbrechung durch die Dominanz der Liutpoldinger, die Niederaltaich zu ihrem Hauskloster machten, erfuhr unter Heinrich II. aber eine intensive Wiederbelebung. Die gegenseitigen Erwartungshorizonte sieht der Verfasser in der Hoffnung des Klosters auf Rechtssicherheit und Privilegien zum Schutz der eigenen Existenz, als Gegenleistung forderte der König Gefolgschaft und Gehorsam sowie Dienstleistungen weltlicher wie geistlicher Art. Mit dem Schicksalsjahr 1152 und der Übertragung an das Bistum Bamberg verlor Niederaltaich endgültig seinen Rechtsstatus als Reichskloster, und es endete die lange Beziehung zweier Ordnungsmächte innerhalb des Reiches.
Jürgen Dendorfer (Die Abtei und ihre Vögte im frühen und hohen Mittelalter, S. 93-127) unterzieht Abt Hermanns weithin bekannte Definition der Kirchenvogtei einer kritischen Prüfung und kommt zu dem Ergebnis, dass diese keineswegs als "überzeitlich gültig" (S. 100) zu sehen ist, sondern Hermann seinen Mitbrüdern vielmehr eine am zeitgenössischen gelehrten Recht geschulte ideale Form der Vogtei vorstellte. Die Sichtung der vorhandenen Nachrichten zum Verhältnis Kloster - Vogt lässt auf eine überwiegend reibungslose Koexistenz schließen. Die Wende setzte mit der Bestellung von Untervögten sowie der Verpfändung und Verlehnung von Klostergut infolge der "Bogener Fehde" ein. Die rücksichtslose Vereinnahmung von Klostergut brachte das Haus in existenzielle Bedrängnis. Das Verhältnis zwischen dem Konvent und den letzten Bogener Grafen sieht der Verfasser von Widersprüchen wie "Zuneigung, gegenseitiger Förderung und Begünstigung, aber auch Abscheu und Verachtung" (S. 127) geprägt.
Dieter J. Weiß (Niederaltaich und die Bischöfe von Bamberg, S. 129-148) setzt mit der Übertragung Niederaltaichs an das Hochstift Bamberg ein, die sicher als Dank Friedrichs I. für die Unterstützung seiner Wahl durch Bischof Eberhard II. zu verstehen ist. Der König dürfte damit dem Wunsch des Bischofs nachgekommen sein, dessen Interesse an dem Haus vielleicht in Anknüpfung an die Politik Bischof Ottos I., des Heiligen, zu suchen ist, indem er die Anzahl der Bamberger Donauklöster mit dieser Erwerbung nach Osten hin auszudehnen gedachte. Der Unwillen und der Widerstand der Niederaltaicher Betroffenen machte die mehrfache Ausstellung königlicher Privilegien nötig und sogar die Fiktion einer bereits früher erfolgten Schenkung - ein Beispiel dafür, dass mit nur einer Königsurkunde längst nicht alles durchsetzbar war. Nach dem Übergang der Vogtei an die Wittelsbacher und der Vereinnahmung des Klosters für das Herzogtum erlosch das Bamberger Interesse. Was blieb, war die Belehnung der Äbte mit den Temporalien, die im Anhang von 1280 bis 1801 übersichtlich dokumentiert ist.
Roman Zehetmayer (Besitz und Stellung der Abtei in Niederösterreich, S. 149-179) verfolgt die Entwicklung des Niederaltaicher Besitzes in Niederösterreich sowie die für das weit entfernte Gebiet angewandten Verwaltungsformen. Seit Karl dem Großen wirkte das Kloster an der Erschließung des heutigen Niederösterreich mit. Als Besitzschwerpunkte bis zum 16. Jh. gelten Niederabsdorf im nordöstlichen und Absdorf im südwestlichen Weinviertel sowie Spitz in der Wachau. Für die Verwaltung dieser drei Herrschaften lässt sich seit 1242 ein gemeinsamer Prokurator mit Sitz in Absberg (bis zur Neuzeit) nachweisen, dessen Amtszeit - wohl um Verselbständigungsambitionen vorzubeugen - in der Regel kurz bemessen war. Sein Aufgabenbereich lässt sich nicht exakt eingrenzen, wichtige Angelegenheiten (Vogtei, Lehen, Pfründe) behielt sich der Abt vor. Mit den Vogteien wurden einheimische Adelige betraut, die sich seit dem 13. Jh. zunehmend auf die wenig einträgliche hohe Gerichtsbarkeit beschränkt sahen. Die Vergabe von Klosterlehen, darunter auch an die Kuenringer, erfolgte vielleicht in der Hoffnung, tragfähige Beziehungen in der Fremde aufzubauen. Geistlichen Einfluss konnte der Konvent über mehrere Kirchen und die Besetzung von Pfarren nehmen.
Roman Deutinger (Heilige und Verstorbene im liturgischen Gedächtnis der Mönche. Das Jenaer Martyrolog-Nekrolog, S. 181-202) befasst sich mit dem "kombinierten Martyrolog-Nekrolog" (S. 182), das bis Ende des 16. Jh. beim täglichen Stundengebet der Niederaltaicher Brüder Verwendung fand. Der Codex hat sich in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena erhalten. Die Ende des 12. Jh. angelegte Handschrift bediente sich einer über 100 Jahre alten "überholten" Vorlage, die weder lokalspezifische Nachrichten noch die Hausheiligen hinreichend berücksichtigte. Von einer Hand um 1200 wurde das Werk um viele Namen erweitert und erfuhr Ergänzungen bis 1588. Das besondere Interesse des Verfassers gilt dem Textbestand aus der Anlagezeit (dafür unzureichend der Druck in MGH Necr. 4, 1920, S. 27-72) mit dem Ziel, das Beziehungsnetz des Klosters vom 8. bis zum 12. Jh. über die Personennamen abzubilden. Geordnet in mehrere Gruppen (mit ihrem Heimatkloster versehene Mönchsnamen, Namen von Äbten, Bischöfen, Weltgeistlichen, Königen, bayerischen Herzögen, Grafen und sonstigen Laien), scheinen besonders die Verbindungen mit anderen bayerisch-österreichischen Häusern des Benediktinerordens auf.
Die Darstellung musikliturgischer Quellen durch Robert Klugseder (Liturgische Musik des Mittelalters, S. 203-221) ist eine Besonderheit für Kenner der mediävistischen Musikwissenschaft. Für die geistliche Haltung der Gemeinschaft ist die Feststellung aufschlussreich, dass Niederaltaich sein liturgisches Eigengut - wie die Historia für Abt Godehard - offenbar pflegte und gegen die von Melk ausgehenden Vereinheitlichungstendenzen behauptete, was mit den Beobachtungen von Christof Paulus in diesem Band korrespondiert.
Die 1659 und 1671 in Niederaltaich wütenden Brände vernichteten Denkmäler und Dokumente, ließen Handschriften und Bücher in Rauch aufgehen. Anhand des Bibliothekskatalogs von 1611 nimmt Julia Knödler (Buchbestände des Mittelalters. Nachforschungen zu einer untergegangenen Bibliothek, S. 223-239) die Spur auf und identifiziert erhaltene wie auch verschollene Texte, zum Beispiel eine unbekannte Lebensbeschreibung Godehards. Die Verfasserin kann Auftraggeber, unter ihnen Godehard, Hermann, Wernhard I., Autoren und Schreiber ausfindig machen. Der zu einem gänzlich anderen Zweck erstellte Katalog - Herzog Maximilian I. erhoffte sich vor allem den Nachweis der karolingischen Abstammung seiner Familie - gibt heute Auskunft über die Vielfalt der im Konvent, auch im Austausch mit anderen Bildungsstätten gepflegten Interessen. Die Bibliothek umfasste neben Bibellektüre und Kirchenvätern ebenso Klassiker, wissenschaftliche und humanistische Werke, Predigthandschriften und pastoraltheologische Literatur - "ein Zentrum monastischer Gelehrsamkeit" (S. 238).
Jörg Schwarz (Zwischen regionaler Verankerung und europäischem Horizont. Zur Darstellungsweise der "Annales Altahenses", S. 241-258) konzentriert sich nach einer Einführung über Bedeutung und Forschungsgeschichte der in einer Abschrift Aventins überlieferten Annales Altahenses auf den Eintrag zum Jahr 1066 (Halleyscher Komet - Hochzeit Heinrichs IV. - Eroberung Englands infolge einer von den Aquitani gegen die Angelsachsen gewonnenen Seeschlacht - der Komet als Zeichen für die Vielzahl der Toten), den der unbekannte Niederaltaicher Mönch, einem Augenzeugenbericht folgend, recht eigenwillig gestaltete. Beispielhaft lässt sich an diesem Eintrag die nach 1033 zunehmend ausführlichere, den knappen Annalenstil aufgebende und sich der Chronik annähernde, kleine Geschichten erzählende, Kloster- und Reichsgeschichte verbindende Darstellungsweise zeigen. Die Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen der neueren Forschung, welche die fließenden Übergänge der früher streng voneinander abgegrenzten einzelnen Gattungen betont und Annalen, Chroniken und Historien als eine formale Gruppe sieht.
Nach einer kurzen Einführung zum Stand der Forschung in Sachen Lex Baioariorum geleitet Roman Deutinger (Die Lex Baioariorum in Niederaltaich, S. 259-274) den geneigten Leser über die "Holzwege" (S. 273 f.) der Thesen namhafter Rechtshistoriker zum vermeintlichen Abfassungsort Niederaltaich. Trostreich dann der aus zwei Vermerken Hermanns gewonnene Hinweis, dass sich der Abt wohl ein Exemplar aus der Passauer Gruppe der Lex-Überlieferung besorgt hatte, und zwar jenes, das neben der Lex Baioariorum auch die Lex Ribuaria enthielt, aus der er sich Notizen zu Münzeinheiten, besonderen Begriffen und Strafzahlungen machte. Der Verfasser konstatiert das Anliegen Hermanns, sich mit den veralteten Rechtstexten zu beschäftigen, moniert jedoch sein Interesse "für Nebensächlichkeiten" (S. 273), statt für die Rechtsthematik. Bei zwei erhaltenen Bemerkungen ein doch eher strenges Urteil.
Christof Paulus (Niedergang oder Überlieferungsdunkel? Methodische Überlegungen zur Melker Reform, S. 275-297) zeichnet ein lebhaftes Bild von den Herausforderungen, denen sich die Benediktinerklöster im 15. Jh. gegenüber sahen, und der Abhilfe, welche durch die Kastler und Melker Reform sowie die Kongregation von Bursfelde geschaffen werden sollte. Der Verfasser erläutert die für Niederaltaich relevanten Melker Reformanliegen, stellt die für die Visitationen von 1452 und 1468 verantwortlichen Kommissionsmitglieder vor und setzt sich mit dem aus der Literatur bekannten "düstere(n) Bild" (S. 285 f.) der Niederaltaicher Zustände auseinander, besonders gerügt wurde der laxe Umgang mit der Klausur. Der Perspektivwechsel des Verfassers weg von der Melker - vom Bemühen um die Vereinheitlichung der benediktinischen Häuser geprägten - Sicht, hin zu erfassbaren, für das Niederaltaicher Klosterleben durchaus beachtenswerten Faktoren (Anlage eines Liber census et stewre, Beschaffung von Kirchenschmuck, Bedeutung des Skriptoriums, Anzahl der Klostereintritte und Gebetsverbrüderungen), lässt den Schluss zu, dass sich der Konvent in der Konzentration auf die Stärkung seiner regionalen Bedeutung den Melker Vereinnahmungsversuchen "bewusst ... widersetzt oder diese differenziert rezipiert" und "eine Art dritten Weg eingeschlagen" (S. 295) hat.
Im Zentrum des Beitrags von Herbert W. Wurster (Die Abtei Niederaltaich und das Bistum Passau in der Frühen Neuzeit, S. 299-311) stehen die Voraussetzungen und Auswirkungen der 1684 errichteten Bayerischen Benediktinerkongregation und das bayerische Konkordat von 1583. An den Vorteilen der Kongregation konnte Niederaltaich nicht partizipieren, da es dem durchsetzungsstarken Bischof Sebastian von Pötting gelang, den Beitritt der Klöster seiner Diözese zu unterbinden. Die rigorose Passauer Haltung verbaute den Niederaltaicher Konventualen eine Mitwirkung an der Gründung und Besetzung der Salzburger Universität. Überlagert wurde das Verhältnis Kloster - Bischof vom unaufhaltsam voranschreitenden Prozess der Vereinnahmung der Kirche durch den Landesfürsten. Im Konkordat von 1583 wurden die Regeln festgeschrieben, welche das Verhältnis von Staat und Kirche die Frühe Neuzeit hindurch bestimmten. Als wesentlich für die Bischöfe sieht der Verfasser die Bereitschaft des Staates, "seine Eingriffe in das kirchliche Leben zu begrenzen" (S. 304). Die den Bischöfen verbliebene geistliche Herrschaft übten diese insbesondere über die Besetzung der den Klöstern inkorporierten Pfarreien aus.
Martin Hille (Herr vieler Diener und Diener vieler Herren. Die Beziehungen zwischen der Abtei und ihren Grundholden im 16. und 17. Jahrhundert, S. 313-343) befragt die einschlägigen Quellen für die Zeit von 1523 bis 1690 nach dem Verhältnis des Klosters zu seinen Leuten - mit dem Fortschreiten des 16. Jh. als Untertanen bezeichnet -, für die ein durchaus günstiges Besitzrecht galt. Der umfangreiche Streubesitz führte zu Überschneidungen unterschiedlicher Rechtskreise sowie zu verschiedenartigen Abhängigkeitsverhältnissen. Die Grundherrschaft geriet "in den Sog der Landesherrschaft" (S. 326), und mit der Ausformung der landesrechtlichen Kodifizierungen, schließlich dem Bayerischen Landrecht von 1616, erfuhr der bäuerliche Alltag der Untertanen zwischen Grundherrschaft und Landeshoheit eine deutliche Gewichtung hin zur vereinheitlichenden Landesgesetzgebung.
Hannelore Putz (Münchener Prägungen. Bildung und Erziehung von Niederaltaicher Konventualen im Jesuitengymnasium und in der Domus Gregoriana, S. 345-357) kann für 58 Niederaltaicher Konventsangehörige, darunter Abt Joscio Hamberger, den Nachweis erbringen, dass diese ihre Schulbildung zwischen 1615 und 1766 am Münchener Jesuitengymnasium erhalten haben und ihre geistliche Prägung wie ihre in der Jugend aufgebauten Kontakte nach Niederbayern mitnahmen. Die von den Jesuiten im 16. und 17. Jh. dominierte Schullandschaft samt ihrem Fächerkanon sowie die in die Gesellschaft hineinwirkenden Marianischen Kongregationen zeigen die von Herzog Wilhelm IV. ergriffenen Maßnahmen zur Ausbildung des Priesternachwuchses.
Johannes Molitor (Chroniken der Frühen Neuzeit. Hausgeschichtsschreibung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, S. 359-382) stellt die "Mönchshistoriker" (S. 359) und ihre bislang überwiegend ungedruckt gebliebenen Werke in einer Weise vor, die dem Leser gleichsam ein anschauliches Bild ihrer Persönlichkeit, ihrer Intentionen, Ämter, Arbeitsbedingungen wie -belastungen, Kollegenkontakte und Literaturkenntnisse vermittelt. Die Arbeiten von Matthias Aubele, Paulus Gmainer, Placidus Haiden, Gregor Pusch und Joachim Stich werden im Hinblick auf Überlieferung, inhaltliche Schwerpunkte, Quellennutzung und hausinterne Besonderheiten erläutert. Besonders berührt die Schilderung des mit Amtspflichten der juristischen Art überhäuften, in die alltägliche klösterliche Disziplin eingebundenen Haiden, dessen große Neigung der Geschichte seines Hauses galt. Eine Neigung, die Abt Joscio nicht eben unterstützte.
Ernst Schütz (Zwischen Selbstvergewisserung und öffentlicher Wahrnehmung. "Corporate Identity" und "Corporate Image" des Klosters im 18. Jahrhundert, S. 383-437) sieht die Selbstvergewisserung des Konventes wie der Klosterfamilie in den Inszenierungen von Disputationen, Theateraufführungen und Prozessionen, in der Veranschaulichung der Memoria durch die Feiern von Jubiläen und Gedenktagen, ergänzt durch Sakralarchitektur und Kirchenschmuck. Dem Gedankengut der Aufklärung und der abnehmenden faktischen Bedeutung wurde mit wachsendem Gepränge und sinkender Ordensdisziplin begegnet, Einfallstoren für die weltliche Kontrollmaschinerie. Mit dem Aufbrechen des barocken Ständedenkens schwand die Kraft der die klösterliche Welt zusammenhaltenden Selbstvergewisserungsformen, und der Säkularisation war der Weg bereitet.
Stephan Deutinger (Utriusque Bavariae Abbatum Primas. Der barocke Rangstreit zwischen Niederaltaich und Tegernsee, S. 439-465) durchleuchtet die Hintergründe des von Niederaltaich gegen Tegernsee angestrengten - häufig als unbedeutend und kleinkariert abgetanen - Prozesses um die Führung des Titels Primas Bavariae. Der Verfasser öffnet dem Leser die Vorstellungswelt des klagenden, seiner Gemeinschaft zur Einhaltung der göttlichen Ordnung verpflichteten Abtes sowie für die Argumentationsführung der Parteien. Der Münchener Hofrat entschied im Hochgefühl der Aufklärung 1768 zugunsten Tegernsees, dabei nicht der wahrlich traurigen Quellen- und Beweislage folgend, sondern das Gutdünken des Landesherrn zum Entscheidungskriterium machend. Als die Aufhebungskommissare sich in Tegernsee vom Abt hintergangen fühlten, setzten sie diesen kurzerhand fest - in Niederaltaich.
Am Beispiel der von Bernhard Greiler (Zur Musikgeschichte Niederaltaichs im 18. Jahrhundert, S. 467-485) vorgestellten vier Musiker - Kilian Krautter, Georg Pasterwiz, Coelestin (Ferdinand) Jungbauer, Benedikt Anselm Loibl - und ihrer Werke wird deutlich, welch hoher Stellenwert der Musik innerhalb der Liturgie, als Begleitung von Aufführungen anlässlich von Festen und Gedenktagen sowie zur Anwendung in der Gemeinde zukam.
Unter den im Umfeld und im Auftrag Niederaltaichs tätigen Künstlern hat Heike Mrasek (Monastisches Rokoko. Der Maler Franz Anton Rauscher und sein Werk, S. 467-485) die Arbeiten - in der Hauptsache Fresken und Ölgemälde, überwiegend Altarblätter - Franz Anton Rauschers einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Wo und bei wem Rauscher ausgebildet wurde, bleibt ungewiss, eine Verbindung zu den Asam-Brüdern ist durchaus möglich, ihre Werke besaßen Vorbildcharakter für ihn. Rauscher folgte dem Gewerbe seines Vaters, betrieb die Niederaltaicher Hoftaverne in Aicha a. d. Donau und arbeitete als Maler seit den 1750er Jahren im niederbayerischen Raum. 1771 zog er als Hofmaler (und Gastwirt) nach Niederaltaich. Nachzuweisen - jedoch nicht immer erhalten - sind Werke in Asbach (Pfarrkirche St. Michael), Griesbach i. Rottal (St. Salvator), Zeitlarn (Kapelle), Thundorf (Mariä Himmelfahrt), Frauenau (Mariä Himmelfahrt), Kurzenisarhofen (Maria Trost), Plattling (St. Maria Magdalena), Deggendorf (Spitalkirche St. Katharina), Zwiesel (Bergkirche), Rinchnach (St. Johannes d. Täufer) und Kötzting (Mariä Himmelfahrt). Für Niederaltaich schuf er eine Hl. Cäcilie, die aus fremdem Besitz an ihren Heimatort zurückkehren konnte. Als Rauscher 1777 starb, war seine Kunst vom Klassizismus eingeholt worden.
Die beiden den Band beschließenden Beiträge von Stephan Deutinger gelten zwei Patres der letzten Phase Niederaltaicher Klosterlebens, die mit benediktinischer Gelassenheit ihrem Hause die Treue hielten. Lorenz Hunger (Naturwissenschaft und gelehrte Netzwerke im Zeitalter der Vernunft. Pater Lorenz Hunger - ein Pionier in der Erforschung des Bayerischen Waldes, S. 509-534) trat nach ersten Schuljahren in Straubing 1778 in Niederaltaich ein, durchlief dort einen naturwissenschaftlichen Unterricht auf hohem Niveau und nahm 1783 ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium an der Landesuniversität Ingolstadt auf. Die Entdeckung des Titanit 1794 begründete seinen herausragenden Ruf als Mineraloge unter den Vertretern des aufstrebenden Faches, mit denen er regen Austausch pflegte. Hungers Probe liegt noch heute im Berliner Museum für Naturkunde. Nach Stationen in Passau (fürstbischöfliche Akademie) und Wien wurde er in der Seelsorge eingesetzt und erlebte die Säkularisation in der Klosterpfarrei Schwarzach. Als Frühmessleser in Hals folgte er seiner geistlichen, den restlichen Tag über seiner wissenschaftlichen Passion. Seine späteren Forschungen galten der Flussperlmuschel in Donau und Inn.
Gregor Pusch verfasste 1763/64 eine Abhandlung, in der er sich mit dem italienischen Reformkatholizismus (Lodovico Antonio Muratori) in Bayern auseinandersetzte (Andacht versus Aufklärung. Pater Gregor Pusch und seine Streitschrift gegen die Feiertagsreduktion aus dem Jahr 1763, S. 535-553). Anlass war die vom Staat verordnete und von den Ordinariaten mitgetragene Reduzierung der Feiertage, welche die Bevölkerung anhaltend ignorierte. Der Landesherrschaft ging es um den wirtschaftlichen Profit, den Bischöfen um die Eindämmung der während der Reformation geförderten barocken Volksfrömmigkeit, dem Landvolk um materielle Einbußen und soziale Isolierung. Pusch erwägt die Folgen für jeden einzelnen Stand - vom Adel bis zu den Tagelöhnern -, entwirft ein beeindruckendes gesellschaftliches Panorama seiner Erlebniswelt und kommt zu dem Schluss, "nicht die Feiertage, sondern die Steuern und Abgaben seien zu reduzieren" (S. 545). Alle ökonomisch-sozialen Argumente aber sind von der Gewissheit überwölbt, dass es immer zuerst um das Seelenheil des Einzelnen gehe und das bedürfe der Fürsprache der Heiligen in der Messe.
Die samt und sonders quellengesättigten und sorgfältig erarbeiteten Beiträge sind eine Bereicherung des zuletzt 1971 von Georg Stadtmüller und Bonifaz Pfister (S. XI) zusammengetragenen Wissens zur Geschichte des Klosters und bieten darüber hinaus anregende und neue Gesichtspunkte, die von der Forschung hoffentlich bald aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Ein Siglen-, Orts- und Personenregister ermöglicht eine schnelle Orientierung.