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Aktuelle Rezensionen


Markus Tauschek (Hg.)

Handlungsmacht, Widerständigkeit und kulturelle Ordnungen. Potenziale kulturwissenschaftlichen Denkens. Festschrift für Silke Göttsch-Elten

Münster/New York 2017, Waxmann, 300 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Sabine Eggmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 22.07.2019

In seinem Vorwort beschreibt Markus Tauschek, Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes „Handlungsmacht, Widerständigkeit und kulturelle Ordnungen“, den Dreiklang im Titel als Umriss einer „empirisch-ethnografisch ausgerichteten Kulturanalyse und Alltagsforschung“ (7). Diese manifestiert und definiert sich als historisch perspektiviertes „Spannungsfeld zwischen Handlungsmacht auf der einen und strukturierten und strukturierenden Ordnungen und Ordnungsmustern auf der anderen Seite“ (7). Mit dieser Fachdefinition skizziert Tauschek – mit Absicht – gleichzeitig das fachliche Profil von Silke Göttsch, der das Buch als Festschrift gewidmet ist. Silke Göttschs vielfältige und mannigfaltige Forschungsbeiträge charakterisieren sich durch eine ausgeprägte historische Tiefe aktueller Fragestellungen, die immer methodisch reflektiert und theoretisch argumentierend ausgeführt und beantwortet werden. Im Anschluss daran enthält das Buch 23 Beiträge von WeggenossInnen und aktuellen FachvertreterInnen der Europäischen Ethnologie/Volkskunde/Kulturanthropologie/Empirischen Kulturwissenschaft, die ein Mosaik aus – auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen – Steinchen entstehen lassen. Sowohl die eben genannte Namensvielfalt des von Silke Göttsch vertretenen Faches als auch dieses bunte Bild der Festschriftbeiträge repräsentiert und dokumentiert dabei die Form aktueller Kulturwissenschaft obiger Provenienz. Der erste Blick auf die Unterschiedlichkeit der Beiträge im Sinne einer möglichen Disparatheit zeigt sich im zweiten als Qualität ebendieser Kulturwissenschaft. Gerade in der Unterschiedlichkeit der forschenden Ausbuchstabierung obigen Wissenschaftsprofils manifestieren sich die in der Diversität der Forschungszugänge inhärenten „Potenziale kulturwissenschaftlichen Denkens“, wie es im Untertitel des Buchs programmatisch formuliert wird.

Das Buch besticht in seiner forschenden Breite als undogmatisches Lesebuch, das in verschiedenster Weise gebraucht werden kann und darf: theoretisch anregend, historisch dokumentierend, inhaltlich experimentierend, dicht beschreibend, auf Leerstellen, Ausblendungen und Verblendungen aufmerksam machend, bietet es unterschiedlichen Interessen und Leseweisen Stoff zum Nachdenken, Weiterforschen und zum intellektuellen Austausch. Dass dabei nicht jeder Beitrag auf gleiche Art methodisch, theoretisch, argumentativ oder auch thematisch zu überzeugen vermag, spricht nicht gegen das Buch, wenn man davon ausgeht, dass eine solche Textsammlung formatbestimmt zum Auswählen einlädt und nicht zum monographisch-linearen Lesen gedacht ist. Ganz in diesem Sinn und zu diesem Zweck bildet die Festschrift den Anlass zu inspirierenden Leseerlebnissen, denen auch zeitweise Enttäuschungen nichts anhaben können.

Nimmt man das Buch konsequent als Festschrift für Silke Göttsch ernst, ist auch die Frage erlaubt: Wieviel Göttsch ist in dem Band enthalten? Diese Frage nun lässt sich eindeutig beantworten: Silke Göttsch bildet für alle Beiträge den inhaltlich-thematischen, den theoretischen und den geographischen Bezugs- und Anschlusspunkt für je eigene gedankliche europäisch-ethnologische ,Reisenʽ, als Inspiration für Neuperspektivierungen, als Beleg für verdichtende Beiträge und als Referenz einer ,verbindlichenʽ, weiterzuentwickelnden Kulturanalyse. Silke Göttschs Verdienste in hochschulpolitischer, fachpolitischer und fachwissenschaftlicher Beziehung manifestieren sich hier in einer längst vollzogenen Abwendung der Europäischen Ethnologie/Kulturwissenschaft von ihrer sozialen Lieblingsgruppe der „Unterschichten“ hin zur „(bürgerlichen) Mittelschicht“ beziehungsweise zur „Mitte der Gesellschaft“, in der die Titeltrias aus Handlungsmacht, Widerständigkeit und kulturellen Ordnungen sich im Wesentlichen manifestiert und kritisch nachvollziehen lässt.

Das Buch ist seinem Mosaikcharakter entsprechend nicht inhaltlich strukturiert, sondern in alphabetischer Ordnung der Beitragenden gegliedert. Im Blick auf die bereits angesprochenen theoretischen Anschlüsse an Silke Göttsch werden im Folgenden auswahlweise kurze Spotlights auf verschiedene Artikel des Sammelbands geworfen.

Regina Bendix’ Beitrag „Georgia Austin entwirft eine Serie“ ist getragen von Reflexion und Kritik komplexer Problemlagen und Alltagswirklichkeiten im universitären Betrieb. Amüsant zu lesende literarische Schilderungen von konkreten Alltagspraktiken und emotionalen Befindlichkeiten an einer nicht näher genannten und damit leicht auf viele Standorte übertragbaren Universität in Deutschland verdichten sich mit Analysen und Kommentaren von Seiten der Autorin zu einer sehr ernst gemeinten ex negativo-Vision einer zu verbessernden (akademischen) Welt. Die kulturwissenschaftliche Konkretisierung dieser Kritik und Vision enthält dabei alle Ingredienzien aktueller Profilierung der Europäischen Ethnologie/Kulturwissenschaft, wie sie eingangs mit dem Vorwort von Tauschek skizziert wurde: In einer dichten Beschreibung präsentiert Bendix die konfliktreichen Verhandlungen von sozialen Wertesystemen und Ordnungen im Feld der Universität sowie darin liegende und zu eröffnende Handlungsfelder für Widerständigkeiten.

Den Anfangs- und Anschlusspunkt bilden für Beate Binder wie auch implizit für Bendix die Überlegungen von Silke Göttsch – unter Bezug auf Gertrud Bäumer – zu weiblichem Eingreifen in gesellschaftliche Verhältnisse im Sinne von „Schreiben als Intervention“. Binder entscheidet sich allerdings für ein anderes Untersuchungsfeld und eine andere historische Situierung als Bendix. Den konkreten Angriffspunkt des Schreibens als Intervention findet Binder bei einem Berliner Stadtführer aus dem Jahr 1913, woran sie die Frage knüpft, welches Bild von Berlin in diesem „Buch ,von Frauen für Frauen' entworfen“ wird (27). Unter dem Blickwinkel „Die Stadt um 1900 als Möglichkeitsraum bürgerlicher Frauen“, den der Untertitel des Beitrags vorwegnimmt, zeigt Binder im Folgenden detailliert, wie die den schreibenden Frauen eigenen „Blickregimes auf die Stadt sowie der Wunsch nach mehr Einfluss- wie Wahlmöglichkeiten weitergetragen“ werden (36). Das heißt, dass zum einen städtische Räume für Frauen frei gemacht, zum anderen die den bürgerlichen Frauen eigene soziale Wertordnung – mit entsprechenden Rassizismen – weiter verselbständlicht und verfestigt werden.

Den Blick auf gesellschaftliche Normativitäten und deren Effekte lenkt Karl Braun in seinem Text zur „Utopie vom Fließband?“ auf „das System Bat’a“ und den Ort „Zlín als Modell einer ,Fabrik-Kommuneʽ“. Er organisiert seinen klar strukturierten Beitrag in sieben Thesen, die als Sprungbrett für weitere kulturanthropologisch informierte Forschungen zum Leben in Arbeitersiedlungen, zu kritisch zu befragenden Utopien gesellschaftlicher Neuordnung, zu kolonialer Wirtschaftsweise und zu dem daraus resultierenden Menschenbild zu verstehen sind. Verhandelt wird dabei letztlich die Herstellung des ,gutenʽ und ,richtigenʽ Lebens, der sich an späterer Stelle auch Johannes Moser in seinem Artikel im Blick auf urbane Ethiken zuwendet. Interessant ist in diesem Beitrag unter dem Titel „,Gentle ficationʽ – Ein Kunst- und Aktivistennetzwerk befördert Debatten über die urbane Wohnraumproblematik“ der kulturanalytisch-kritische Forscherblick auf konkrete ethische Praktiken am Beispiel einer künstlerischen Intervention in einer deutschen Großstadt, die dazu dienen sollen, im Sinne eines vorformulierten „,richtigenʽ Verhaltens, richtigen Seins“ „Städterinnen und Städter als Subjekte ihrer eigenen Lebensführung [zu] konstituieren“ (191).

Ebenfalls in klar formulierter gesellschaftspolitischer Intention konzentriert Brigitta Schmidt-Lauber ihr Interesse in ihrem Beitrag „Die Europäische Ethnologie und die Sommerfrische“ auf „,Bagatellenʽ und vorgeblich Unbedeutende[s] [...], um darüber Grundlegendes zu verstehen“ (209). Im Rückgriff auf Martin Scharfe und Silke Göttsch verweist Schmidt-Lauber darauf, dass die Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft mit dem ethnographischen Potenzial ihrer Zugangsweise weder die historische Situierung noch die gesellschaftliche Kontextualisierung ihrer Untersuchungsgegenstände vergessen darf, „in der Überzeugung, die Gegenwart nicht ohne Referenz auf die Geschichte und vice versa die Geschichte nicht ohne Bezug zur Gegenwart verstehen zu können“ (209). Sie zeichnet in ihrer Darstellung der bürgerlichen „Sommerfrische“ konsequent nach, wie zum einen diese besondere institutionalisierte saisonale Lebensform die bürgerlichen Werte und Praxen veralltäglicht hat und wie zum anderen gesellschaftliche Räume und Raumbeziehungen (zum Beispiel zwischen Stadt und Land) sowie zeitliche Rhythmisierungen gesellschaftlich dominant und damit weitgehend für alle (immer) verbindlich(er) wurden.

Ganz im Sinne und in Form solcher von Schmidt-Lauber postulierter ethnographischer Studien in historischer Dichte – kurz in „dichter Beschreibung“ – formuliert Sabine Kienitz einen Beitrag über Falschmünzerei nach allen Regeln der kulturanalytischen Kunst. Anhand vieler verschiedener Rechtsfälle und der davon überlieferten Akten rekonstruiert Kienitz einen einzigen exemplarischen Fall, den sie analytisch beschreibend, kommentierend und kontextualisierend den LeserInnen vor Augen führt. Wichtig ist ihr dabei, keine Opposition zwischen Herrschaft und „Eigensinn“ der Menschen aufzubauen, sondern im Nachvollzug der komplexen, das heißt vielschichtigen und uneindeutigen Sinnhorizonte, Praktiken und Erfahrungen der beteiligten Menschen sowohl die Momente der Rechtsüberschreitung als auch die damaligen Bedürfnislagen der Menschen sichtbar zu machen. Dabei kann sie zeigen, dass die verbindende, relationale Analyse „der (not-)ökonomischen Logiken, der schicht- und geschlechtsspezifischen Handlungen und Selbstverständnisse und der kulturell-moralischen Sinnsysteme“ (167) diese erst wirklich profilier- und erkennbar werden lassen.

Seine „Blickrichtungen der populären Geschichtskultur“ geraten Bernhard Tschofen demgegenüber zu theoretisierenden Reflexionen dazu, wie die Bedeutung und Qualität des Historischen in populärkulturellen Zusammenhängen hergestellt und vermittelt wird. Im direkten theoretischen Anschluss an Silke Göttsch plädiert er für einen Zugang zu gesellschaftlicher Praxis, der immer als doppelter Blick zu funktionieren hat: Er richtet sich sowohl auf die sozialen Ordnungen in ihrer historisch sich manifestierenden Form als auch auf das jeweilige Alltagswissen über diese Ordnungen. So erst wird – im konkreten Fall von Tschofens Beitrag zum Umgang mit, zur Aneignung und zur Herstellung von „Geschichte“ – das Entscheidende einer komplexen Kulturanalyse sichtbar: hier weniger die „Geschichte“ selbst als vielmehr das „doing history“ der unterschiedlichen AkteurInnen (268).

An letzter Stelle – der alphabetischen Ordnungslogik des Buchs folgend – steht der Text von Gisela Welz zur „Herstellung von Ländlichkeit“. Einer eher theoretisch-programmatischen Gliederung folgend würde Gisela Welz’ Beitrag allerdings ebenfalls sinnvollerweise am Ende des Buchs stehen. Denn dem Credo und der Forschungstradition von Silke Göttsch entsprechend, das Fach in seinen inhaltlichen, methodischen und theoretischen Beständen und Ausrichtungen konstant und konsequent weiterzuentwickeln, beschreibt Gisela Welz an ihrem Forschungsbeispiel eines kleinen Dorfes auf Zypern, wie dort das Ländliche weniger von den EinwohnerInnen dieser Gebirgsregion als vielmehr von nationalen und transnationalen Playern entworfen, etabliert und eingesetzt wird. Interessen wie regionale Entwicklung, Agrarpolitik, Tourismus und Konsum bestimmen zum wesentlichen Teil die Bilder und Narrative des Ländlichen, das paradoxerweise wieder und weiterhin zum Instrument wird, um die BewohnerInnen dieser Orte „abwertend als ,unwissende Bauernʽ“ zu denunzieren (293). Der von den BewohnerInnen erarbeitete und für sie als geglückt verstandene Modernisierungsprozess ihrer alltäglichen Lebensweise wird nach einem nachmodernen Wertewechsel hin zu Natürlichkeit und Traditionalität ins Gegenteil verkehrt und wiederum zum Beweis für ihre – in der sozialen Leitdifferenz zwischen städtischen Eliten und ländlichen EinwohnerInnen eingeschriebene – Rückständigkeit. Nicht allein mit ihren exemplarisch positionierten Ergebnissen zeigt Gisela Welz die Potenziale aktuellen kulturwissenschaftlichen Denkens auf; sie verfolgt auch neue theoretisierende Denkwege vor dem Horizont einer „Alltagskulturanalyse als einer Ethnographie des Politischen“, die Konzepte wie etwa dasjenige der „Anthropology of Policy“ einbezieht und nutzt (290). Damit schließt sie zwar formal den Reigen der BeiträgerInnen, öffnet ihn aber forschend für weitere ethnographisch-theoretisierende Erkundungen gesellschaftlicher Realität.

Die hier eher kursorische, bewusst subjektiv ausgewählte Darstellung verschiedener Beiträge der Festschrift ist dem anfangs dieser Rezension genannten Format der Festschrift als Lesebuch geschuldet. Sie soll konsequent nicht abschließend kategorisieren und bewerten, sondern im Gegenteil öffnen und inspirieren für viele weitere interessierte Lektüren.