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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Martina Röthl

Tiroler Privat(zimmer)vermietung. Dispositive Bedingungen. Subjekteffekte. Aneignungsweisen

(Internationale Hochschulschriften 654), Münster/New York 2018, Waxmann, 597 Seiten mit 80 Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.07.2019

Halten wir fest: Die multidisziplinäre Tourismusforschung findet nach wie vor allzu oft als Tourist/inn/enforschung statt. Dass muss keineswegs so bleiben, denn zu den milieuspezifischen Akteur/inn/en gehören nicht minder die jeweiligen Einheimischen, die wir uns, in Anlehnung an Jost Krippendorf, mittlerweile „die Bereisten“ [1] zu nennen angewöhnt haben, etwa Taxi- und Busfahrer, Stewardessen, Reisebüro-Mitarbeiter, Zugbegleiterinnen, Reiseleiterinnen, Fremdenführerinnen, Photographen, Eintrittskartenverkäufer, Polizisten, Hoteliers und Wirte, gleich ob abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig, die in tourismustypischen Arbeitsbereichen im engeren wie auch im weiteren Sinne arbeiten; sie alle sind tagtäglich Zeugen des touristischen Geschehens; sie sammeln Eindrücke, verarbeiten diese Eindrücke, kommunizieren sie im Kollegenkreis, speichern sie; und sie stellen damit in ihrer Gesamtheit eine erstklassige Quelle für alltagsbezogene Kulturforschung dar, was sicherlich noch nicht zur Genüge erkannt worden ist. Ausnahmen bestätigen glücklicherweise die Regel; zu nennen sind etwa die Untersuchungen von Nikola Langreiter [2] und Evelyn Reso [3] sowie nunmehr die Studie von Martina Röthl, die ebenfalls aus einer europäisch-ethnologischen Dissertation hervorgegangen ist.

Die Autorin, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Universität Kiel tätig ist, zählt sich selbst zu der von ihr erforschten Gruppe; und sie verfolgt mit ihrer Arbeit ein ganzes Bündel von Zielen. Auf der Ebene des Gegenstandsbereichs geht es darum, das Handlungsfeld Tiroler Bereister zu erkunden, dies unter besonderer Bezugnahme auf deren Umgang mit physisch anwesenden Gästen und zur Wirkung gelangenden Aneignungs- und Subjektivierungsweisen; auf der method(olog)isch-theoretischen Ebene wird der Versuch unternommen, Michel Foucaults Dispositiv-Konzept in Kombination mit Verfahren europäisch-ethnologischer Kulturanalyse anzuwenden. Den ihre Forschung leitenden Ausgangspunkt stellt die Hypothese dar, „dass die im Dispositiv bereitgestellten Wissensbestände auf die Lebenswirklichkeiten Bereister wirken und sich in ihm Wissensordnungen und Referenzsysteme konstituiert haben, die – teilweise sehr direkt, teilweise über Umwege – mit den Alltagen bereister Menschen, mit ihren Lebensentwürfen, Handlungsmodellen und Selbstdeutungen und mit ihrer Subjektivität korrespondieren“ (30). Die Arbeit fühlt sich somit der Kulturforschung, der Tourismusforschung und der Wissensforschung verpflichtet; und die empirische Grundlage bilden die Aufzeichnungen von 69 Interviews sowie 39 ausführlichen informellen Gesprächen, darüber hinaus Gesprächsnotizen, 30 Beobachtungsprotokolle sowie Betrachtungen des zusammengetragenen Bildmaterials.

Die nach dem Montageprinzip strukturierte Studie ist so aufgebaut, dass einer knappen Einleitung sieben zum Teil reich untergliederte Kapitel unterschiedlichen Umfangs folgen. Zunächst bringen zwei dieser Kapitel Orientierendes zum untersuchten Feld der Tiroler Privat(zimmer)vermietung, zum Dispositiv-Konzept, zum Verhältnis von Empirie und Theorie, zur Konstruktion eines Analyseraums als Betrachtungsmodell und zur Erarbeitung der einschlägigen Materialbasis. Es folgen 21 von der Autorin so benannte „Skizzen“, knappe Auseinandersetzungen mit einzelnen Themen, die als Vorarbeiten für die eigentliche Analyse dienen. Diese wiederum, „Verhältnisbestimmungen“ betitelt und rund 320 Seiten umfassend, liefert insgesamt, einschließlich eingeschobener sogenannter Settings, 22 Kontextualisierungen vollkommen unterschiedlicher Themen, etwa zum Tourismus generell, zu touristischen Institutionen, zum Verhältnis von Tourismus und Politik, zur touristischen Werbung, zur Zusammensetzung der Bereisten, zu Ordnungsvorstellungen derselben, zu Fragen der Inklusion und Exklusion, zu Praktiken der Selbstreflexion, um nur einige wenige der behandelten Themen zu benennen. Auf der Basis dieser Verhältnisbestimmungen wiederum wird in konzentrierter Form Fragen der tourismusinduzierten Subjektivierung nachgegangen (auf dem Weg zur Ausbildung von Tirolität; die Bereisten als begehrte, mobil werdende, besitzende, reflektierte und sich wahrnehmende Subjekte); es kommt zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Feldbefunden und es werden, als abrundendes Zusammenfassungs- und Ausblicks-Kapitel, die Kompatibilitätsbeziehungen von Kulturanalyse und Dispositiv-Konzept diskutiert und resümiert.

Martina Röthls Studie sorgt dafür, dass wir nun mehr dar­über wissen, in welcher Weise und mit welchen Veränderun­gen, wann, aus welchen Beweggründen, mit welchen Begleiterscheinungen und mit welchen Auswirkungen, mit welchen Bewertungen und welchen Bedeutungen sich der Umgang mit Privat(zimmer)vermietung im familiengeführten Tiroler tourismusbezogenen Betrieb gestaltet und wer die jeweiligen Subjekte sind. Wir erfahren Näheres über die Charakteristika, die Chancen, Probleme und auch Grenzen der zur Debatte stehenden Subjektivierungs- bzw. Transformationsprozesse. Die von der Autorin erstellte Analyse sorgt dafür, dass Klarheit darüber herrscht, mit welchen theoretischen und method(olog)ischen Ansätzen sich arbeiten lässt, wenn man im Bereich der Erforschung des Umgangs mit dem alltäglichen Handeln von Menschen im genannten sozio-kulturellen Milieu zu Erkenntnisfortschritt gelangen will.

Es gelingt der Autorin, einen anschaulichen und vor allem problem­orientierten, kritischen und selbstkritischen Einblick in das diesbe­zügli­che Handlungsfeld zu vermitteln und für dessen Erkundung ein an einem ausgewählten zentralen Gegenstandsbereich orientiertes Instrumentarium zu erproben, indem sie das Handeln ihrer Gesprächspartner/innen in einem plausibel untergliederten breiten Spektrum von Einzelphänomenen sowie die dazugehörigen Wahrnehmungs-, Sprech- und Einschätzungsweisen unterschiedlicher Akteure erkundet. Nicht zuletzt verfügen wir mit der spezifischen Schwerpunktsetzung, aber das weist weit über den Rahmen der Arbeit hinaus, über die Chance, das bisher bevorzugte Spektrum an einschlägigen Forschungsperspektiven einer konstruktiven Kritik zu unterziehen. Dies alles herausgearbeitet zu haben, macht die Leistung der Autorin aus, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, liefert sie doch ein durchgängig vorbildhaftes, vielseitiges und vielfältiges, materialgesättigtes wie auch method(olog)isch und theoretisch hieb- und stichfestes, strukturell sowie sprachlich und stilistisch einwandfreies, ja geradezu fulminant und virtuos gelungenes Werk, welches man, in zwangsläufig verkürzter Form, als Modell für den konstruktiven und kreativen Umgang mit Michel Foucaults Dispositiv-Konzept im Bereich der empirischen Kulturwissenschaften betrachten und auf jeden Fall weiterempfehlen kann.

 

Anmerkungen

[1] Jost Krippendorf: Die Ferienmenschen. Für ein neues Verständnis von Freizeit und Reisen. München 1986, S. 105.

[2] Nikola Langreiter: Einstellungssache. Alltagsstrategien und ‑praktiken von Tiroler Gastwirtinnen. Wien 2004.  

[3] Evelyn Reso: Das große Ganze. Intergenerationalität in familiengeführten Tourismusbetrieben in Südtirol (Tourism & Museum 6). Münster/New York 2016.