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Cai-Olaf Wilgeroth/Michael Schimek (Hg.)

4 Wände. Von Familien, ihren Häusern und den Dingen drumherum. Das Einfamilienhaus in Deutschland seit 1950. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Museumsdorf Cloppenburg – Niedersächsisches Freilichtmuseum vom 15. April 2018 bis 31. Januar 2019

(Kataloge und Schriften des Museumsdorfs Cloppenburg 36), Cloppenburg 2018, 288 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Herbert May
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 22.07.2019

Ausstellung und Begleitband sind Ergebnis eines Projektes („FamiliensacheN. Das Haus und seine Ausstattung im historischen Vergleich“), das als Teil eines größeren dreijährigen Forschungsvorhabens („Der Lauf der Dinge oder Privatbesitz. Ein Haus und seine Objekte zwischen Familienleben, Ressourcenwirtschaft und Museum“) in Kooperation mit dem Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Volkskundlichen Kommission für Westfalen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe sowie der Fachhochschule Münster (Institut für Wasser, Ressourcen, Umwelt) durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Bisweilen liegen bestimmte Themen gewissermaßen „in der Luft“, denn dem Einfamilienhaus widmen sich in jüngerer Zeit gleich mehrere Publikationen, so die 2017 erschienenen, einerseits von Sonja Hnilica und Elisabeth Timm und andererseits von Christiane Cantauw herausgegebenen Bände „Das Einfamilienhaus“ und „Von Häusern und Menschen. Berichte und Reportagen vom Bauen und Wohnen in den 1950er Jahren bis heute“. Dass Ausstellung und vorliegender Begleitband in einem Freilichtmuseum angesiedelt sind, mag nicht weiter verwundern, denn die Freilichtmuseen sind europaweit längst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angekommen und beschäftigen sich nicht mehr ausschließlich mit vorindustriellen Bauweisen. Im norwegischen Freilichtmuseum Lillehammer stehen beispielsweise zahlreiche musealisierte Eigenheime des 20. Jahrhunderts, zum Teil mit IKEA-Einrichtung. Zu den diesbezüglich profiliertesten deutschen Museen dieser Art zählt das LVR-Freilichtmuseum Kommern bei Köln, das in seiner Baugruppe „Marktplatz Rheinland“ vom Quelle-Fertighaus bis zu einer durch den namhaften Architekten Otto Bartning errichteten Notkirche zahlreiche Bauten aus der Nachkriegszeit vereint, darunter auch einen 1959 entstandenen Flachdach-Bungalow. Nicht nur das bäuerliche Fachwerkhaus des 18. Jahrhunderts, auch das Einfamilienhaus der Nachkriegszeit hat also in den Freilichtmuseen mittlerweile seinen festen Platz.

Die Verwirklichung eines Lebenstraumes, eine „Wette auf die Zukunft“ (9), das „Lieblingskind konservativer Familien- und Wohnpolitik“ (9) – keine leichte Hypothek, die da seit mehr als 100 Jahren auf dem Einfamilienhaus lastet, mit dem sich in der vorliegenden Veröffentlichung insgesamt 38 Beiträge befassen. Immerhin 12 Millionen Einfamilienhäuser soll es in Deutschland geben. Einer dieser Sehnsuchtsorte am Stadtrand im Grünen hatte eine Hauptrolle in der Cloppenburger Ausstellung inne: Das 1951 erbaute Einfamilienhaus steht in der zum Freilichtmuseum Cloppenburg benachbarten Soeste-Siedlung, befindet sich nach dem Tod der einstigen Bauherren gewissermaßen „im Übergang“ und wurde vom Freilichtmuseum zeitweise angemietet und in die „4 Wände“-Ausstellung miteinbezogen. Das nach den ehemaligen Besitzern benannte „Elfert-Haus“ bildete damit sozusagen eine Außenstelle der ansonsten in einem Ausstellungsgebäude auf dem Cloppenburger Museumsgelände verorteten Präsentation, wobei die Soeste-Siedlung auch ohne das von innen zu besichtigende „Elfert-Haus“ den Besuchern bereits eine Fülle an 1:1 Modell-Exponaten bietet. Die Siedlung und das „Elfert-Haus“ sind auch im Band ausführlich skizziert.

Die beachtliche Beitragsfülle der Publikation verdeutlicht bereits die enorme Bandbreite, mit der man sich in Cloppenburg des Themas angenommen hat. Viele Perspektiven werden – unter anderem auf der Grundlage zahlreicher Befragungen von Gewährspersonen – eingenommen und vermittelt: natürlich die Perspektive des Eigenheimbesitzers, das konnte man erwarten, aber auch die Perspektive des Bauplaners, des Baustoffhändlers und des Bauunternehmers, der Stadtentwicklerin. Selbst der Entsorger (von Bauschutt und anderen „Wertstoffen“) kommt zu Wort, ebenso wie der „Bewahrer“, der historische Baustoffe und Ausstattungen (Türen, Fenster et cetera) beim Gebäudeabbruch rettet, einlagert und ihnen auf diese Weise eine zweite Chance gibt.

Breiten Raum findet im Buch die Frage nach der Zukunft der Einfamilienhäuser angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und damit verbundener neuer Lebensentwürfe. Das einst zum Ideal erhobene Modell der dauerhaft ans Eigenheim gebundenen Familie mit Vater, Mutter, Kind(ern) trägt heute nur noch bedingt. Das moderne Berufsleben erfordert räumliche Mobilität, die mit einem Einfamilienhaus ebenso schwer in Einklang zu bringen ist wie die Tatsache, dass es noch nie so viele Singlehaushalte in Deutschland gab wie derzeit. Alternative Wohnprojekte sind gefragt – auch für Patchworkfamilien und für Mehrgenerationenhaushalte. Der beträchtliche Flächenverbrauch eines Einfamilienhauses, zu dem in der Regel ein großer Garten gehört, befeuert dessen Krise zusätzlich. Bauliche Verdichtung heißt da oftmals die Devise, wenn die Erben keine Ambitionen auf den Einzug ins Eigenheim der Eltern hegen, sondern verkaufen, was in den meisten Fällen den Abbruch des Hauses und eine nachfolgende Bebauung des Grundstücks mit mehreren und höheren Gebäuden zur Folge hat. Dies ist ebenfalls ein Thema in der Publikation: „Soziogramm eines Abrisses“ titelt Cai-Olaf Wilgeroth seine Feldstudie, in der er den zweitägigen und 20 LKW-Ladungen Bauschutt umfassenden Abbruch eines Einfamilienhauses dokumentiert, mit den Bauarbeitern über ihr Tun spricht, mit Nachbarn und anderen „Zaungästen“ den buchstäblichen Fall des Haues diskutiert und sich intensiv mit der gut fünfzigjährigen Haus- und Bewohnergeschichte befasst. Die Studie zählt zweifellos zu den stärksten Beiträgen des Bandes, sie überzeugt sowohl inhaltlich als auch durch die beinahe feuilletonistische Leichtigkeit des sprachlichen Ausdrucks.

Nicht nur die Kubatur und die bauliche Materialität der Einfamilienhäuser spielen eine Rolle, sondern ebenfalls die mit dem Haus verbundene „Dingbedeutsamkeit“ (Karl-S. Kramer). Unter der Fragestellung „Was macht das Einfamilienhaus eigentlich aus?“ werden 35 Geschichten zu – durchaus subjektiv ausgewählten – Objekten erzählt, die alle eng mit dem Eigenheim verknüpft sind: von der plüschigen Einrichtung einer Kellerbar der 1960er und 1970er Jahre über die seinerzeit von keiner Hausterrasse wegzudenkende Hollywoodschaukel bis hin zum Trampolin, das heutzutage fast epidemisch die Gärten der Einfamilienhäuser heimsucht und als Zeichen eines „Trends zur Hochrüstung im privaten Garten“ (228) gewertet werden kann. Um die sich über die Jahrzehnte im Haus ansammelnde materielle Kultur geht es in einem weiteren, sich wiederum stark auf Zeitzeugenbefragungen stützenden Aufsatz von Cai-Olaf Wilgeroth über „Dinge im Übergang zwischen Haushalt, Müllcontainer und Museum“, der zu dem nicht überraschenden Resümee kommt, dass das „Einfamilienhaus der größtmögliche Tummelplatz an Sachkultur“ (180) ist.

Das innovative Potenzial des Projektes überzeugt vollständig, da fallen kleinere Schwächen nicht ins Gewicht. So wird der im Untertitel formulierte Anspruch, das Einfamilienhaus in (ganz) Deutschland darzustellen, sicher nicht eingelöst. Auch wenn zwei kurze Beiträge den Eigenheimbau in der DDR tangieren, so liegt der Schwerpunkt klar und eindeutig auf dem Nordwesten Deutschlands, der Süden beispielsweise ist völlig ausgeblendet. Die auf knappen neun Seiten zusammengedrängte „Geschichte des Einfamilienhauses in Deutschland“ von Michael Schimek geht ebenfalls mit recht grobem und weitmaschigem Netz durch die Historie. Zur Geschichte des Einfamilienhauses gehört zudem zwingend eine bauanalytische Bewertung, welche den Erfordernissen der historischen Bauforschung Rechnung trägt, und die man hier nicht findet, deren Darstellung aber vielleicht auch nicht beabsichtigt war, da sie definitiv den Rahmen gesprengt hätte. Eine (Bau-)Geschichte des Einfamilienhauses muss also noch geschrieben werden.

Aufregend und ausgesprochen frisch erscheint die grafische Gestaltung des Werkes mit großen Bildformaten und ansprechenden Bild-Text-Überblendungen. Das nachträgliche Einkleben von Korrekturzetteln (130, 288) schmälert den ästhetischen Genuss zwar ein wenig, ist dem Grafikbüro jedoch nicht anzulasten. Ein großartiges Buch ist entstanden, mit einer ungeheuren Themenvielfalt, ungewöhnlichen Fragestellungen, wissenschaftlicher Solidität, großem Unterhaltungswert und kongenialer Gestaltung – was will man mehr? Und es zeigt eindrucksvoll, dass das in der Öffentlichkeit immer noch vorrangig mit altem Fachwerk und Reetdach konnotierte Bild des Freilichtmuseums auch ganz andere Facetten hat.