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Reinhard Johler (Hg.)

Universität. Diversität! Wir? 13 Momentaufnahmen aus dem Tübinger Uni-Alltag

Tübingen 20017, Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 259 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Florian Schwemin
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.07.2019

Universitäre Selbstreflexion im Rahmen von Forschungs-, Studien- oder Projektseminaren ist en vogue. [1] Jubiläen sind ein klassischer Termin solche Projekte anzugehen, im vorliegenden Fall allerdings lag der Anlass in der Beteiligung der Universität Tübingen am Diversity-Audit „Vielfalt gestalten“ im Jahr 2015.

Nach einem Grußwort der Verantwortlichen des Diversity-Audits folgt eine Einführung von Reinhard Johler, der zur Entstehung und Intention des Buches durchaus kritisch Stellung nimmt und den Leser knapp in das Feld der Diversität einführt, wobei das von Steven Vertovec geprägte Konzept der „Super-Diversity“ als das Projekt grundlegend begleitender Ansatz angerissen wird. Franziska Künzels Beitrag befasst sich mit der Genese der medialen Darstellung von Diversität in Rechenschafts- bzw. Jahresberichten der Universität sowie Image- und Werbematerialien zwischen 1999 und 2014. In diesen rücken verstärkt die bildlich darstellbaren Aspekte von Diversität in den Fokus, während die unsichtbaren kaum Beachtung finden, dennoch ist ein ständig fortschreitender Prozess der Diversitätssensibilität in der Selbstdarstellung der Universität feststellbar. Mit den Auswirkungen des Auditierungsverfahrens auf die Diversitätspolitik der Universität beschäftigt sich Juliane Bokelmann und stellt dabei vor allem die Chance und Herausforderung fest, den Begriff der Diversität mit Inhalt zu füllen. Luise Fleisch und Luisa Lupprich begeben sich auf die Suche nach „facheigenen Diversitätsbrillen“ und vergleichen die Diversitätsbegriffe von Studierenden und Lehrenden aus vier verschiedenen Fachkulturen. Mit Diversität in der Cafeteria der Universitätsbibliothek, die sie als Begegnungsort und Raum studentischen „doing diversity“ begreifen, befassen sich Verena Brecht und Maja Wimmler. Die Herausforderungen, die sich Studierenden mit körperlicher Behinderung stellen, und mögliche Lösungsansätze arbeitet Maria-Veronika Romeu heraus. Mit einer anderen Kategorie von Diversität, der Religion, befassen sich Christoph Grohsmann und Nils Lassen sowie Katharina Wieder mit ihren Beiträgen über „Muslimischen Student*innenalltag“ beziehungsweise den Prozessen von Fremdwahrnehmung und Identitätswandel zwischen islamischen und katholischen Theologiestudentinnen. Bei beiden Aufsätzen spielt auch der ethnische Aspekt von Diversität eine Rolle, der noch stärker in Fabienne Störzingers Beitrag über „Refugee Students“ zum Tragen kommt, wobei hier sinnvollerweise das Hauptaugenmerk auf den politischen Hemmschwellen liegt. Die letzten vier Beiträge von Mária Friedlová, Angelika Maier, Alisa Schneider und Harry Gottschling nehmen mit verschiedenen Zugängen ausländische Studierende und verschiedene Herausforderungen wie Sprachkenntnisse, aber vor allem die Universitätskultur und das universitäre System betreffende Unsicherheiten in den Fokus. Neben diesen Beiträgen stehen noch vier Kurzporträts sowie eine kleine Gedankenskizze der die begleitende Ausstellung gestaltenden Studierenden der Hochschule für Technik Stuttgart.

Das nahe gelegene Feld Universität als Forschungsfeld und ‑gegenstand zu wählen, kann in der Nach-Bologna-Realität praktische Gründe haben. Nicht wenige Studierende sind durch einen extrem dichten Stundenplan, aber auch durch den oft unentbehrlichen Nebenerwerb nicht in der Lage, mehrtägige oder gar ‑wöchige Feldaufenthalte abseits der Universitätsstadt zu absolvieren. Dennoch sollte man die Erforschung und Beforschung des eigenen Umfelds nicht zwangsläufig als „Tanten-Empirie“, also eine der Bequemlichkeit entspringende Reduktion der empirischen Basis auf Verwandte, Bekannte und Naheliegende, abtun. Im vorliegenden Band entfernten sich die Seminarteilnehmer*innen aus der Komfortzone des eigenen studentischen Umfelds, nahmen eine reflektierte autoethnographische Haltung ein. Überhaupt sind die Beiträge durch eine gehörige Portion Offenheit geprägt und fangen so durch die Herangehensweise schon das Thema Diversität ein. Bei aller Qualität merkt man den meisten Beiträgen ihren Entstehungszusammenhang doch an. Bisweilen scheint der Aufbau schematisch und konstruiert, wenige Aufsätze bleiben auf einer eher deskriptiven Ebene und könnten noch etwas mehr in die Tiefe gehen, mehr als die „Momentaufnahmen“ aus dem Untertitel sind sie aber durch die Bank. Alle Beiträge sind fundiert und zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Diversity an sich und dem gewählten Gegenstand der jeweiligen Untersuchung. Sie bestätigen außerdem den in Reinhard Johlers Einführung zu lesenden Ausspruch Ulf Hannerz‘ „Diversity is our Business“: Eine sich als Europäische Ethnologie begreifende Empirische Kulturwissenschaft hat das Instrumentarium und die richtigen Fragen, um Diversität als kulturelles Konstrukt zu beobachten und zu begleiten.

Für Studierende wie für Lehrende ist der Band ein schönes Beispiel dafür, was in Seminaren auf die Beine gestellt werden kann (wobei man festhalten muss, dass nicht jeder Lehrstuhl die Kapazitäten für dreisemestrige Forschungsprojekte hat). Die Frage, ob jede ausgedehntere studentische Übung denn unbedingt in eine Publikation gegossen werden muss, muss jeder für sich selbst beantworten. Im vorliegenden Fall finden sich genügend Gründe, um das zu rechtfertigen.

 

Anmerkung

[1] Siehe z. B. Katrin Bauer u. Lina Franken (Hgg.): Räume – Dinge – Menschen. Eine Bonner Kulturwissenschaft im Spiegel ihrer Narrative (Bonner kleine Reihe zur Alltagskultur 10). Münster/New York 2015; Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Doing University. Reflexionen universitärer Alltagspraxis (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien 40). Wien 2016; Jörg Giray, Markus Tauschek u. Sabine Zinn-Thomas (Hgg.): Maximilianstr. 15. 50 Jahre Institut für Volkskunde in Freiburg – ein Erinnerungsalbum (Freiburger Studien zur Kulturanthropologie 1) Münster/New York 2017.