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Konstanze Soch

Eine große Freude? Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949–1989)

Frankfurt am Main/New York 2018, Campus, 319 Seiten mit 12 Abbildungen
Rezensiert von Laura Wehr
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.07.2019

Fragt man Ostdeutsche heute nach ihren Vor-Wende-Erinnerungen an „den Westen“, ist häufig die Rede vom „Westpaket“ und der damit verbundenen einmaligen Duftmischung aus Kaffee, Seife, Orangen und Schokolade. Dass auch viele DDR-Bürger*innen Päckchen in den Westen geschickt haben – mit Stollen, Klassik-Schallplatten und Büchern –, wissen 30 Jahre nach dem Mauerfall wohl nur (noch) diejenigen Westdeutschen, die zur Zeit der deutsch-deutschen Teilung in den Genuss derselben gekommen sind. Insofern steht die „große Freude“, mit der Konstanze Sochs geschichtswissenschaftliche Dissertation zum „Innerdeutschen Paketverkehr im Kalten Krieg“ fragend überschrieben ist, nicht nur für die ambivalenten Gefühle der am Päckchen-Verkehr Beteiligten in Ost und West, sondern auch für die bestenfalls zu erwartenden Reaktionen der an der deutsch-deutschen Geschichte interessierten Leser*innen.

Angesichts der bis dato vorherrschenden, wissenschaftlichen wie öffentlichen Fokussierung auf die guten Gaben aus dem „goldenen Westen“ erscheint der konzeptionelle Anspruch der Autorin, „beide Paketarten miteinander in Beziehung zu setzen“ (11), vielversprechend. Überzeugend wirkt auch die theoretische Prämisse vom grenzüberschreitenden Paketverkehr als einer „Plattform des sozialen Austausches“ (15), in dem Beziehungen konstituiert und Selbst- und Fremdwahrnehmungen geprägt werden, und der damit verbundene theoretische Rückgriff auf den von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann geprägten Ansatz der histoire croisée (28).

Die mehrfach unterschiedlich formulierten Zielsetzungen und Fragestellungen der Studie rufen bei der geneigten Leserin allerdings eine gewisse Ratlosigkeit hervor: So verkündet die lapidar als „Einführung“ titulierte Einleitung etwas nebulös, es solle in der Studie „der Frage nachgegangen werden, welche Rolle der innerdeutsche Paketverkehr zwischen der [...] DDR auf der einen und der [...] BRD auf der anderen Seite einnahm“ (11 f.). Im Mittelpunkt der Arbeit stünden „Fragen nach Versand und Erhalt sowie nach der Motivation auf beiden Seiten, aber auch die dadurch entstandenen Bilder des ‚anderen Deutschlands‘“ (12). Drei Seiten später heißt es dann unvermittelt, es sollten „vor allem die wechselseitigen Beziehungen analysiert werden, die die Geschenksendungen ermöglichten“ (15). Und einen weiteren Absatz später wird als wegleitende Frage aufgeworfen, „wie die jeweiligen Vorstellungen vom Leben ‚hüben wie drüben‘ [...] die Kommunikation miteinander und daraus resultierend auch den Inhalt der Geschenksendungen beeinflussten“ (15).

Spätestens hier stellt sich nun die Frage nach der Henne und dem Ei – respektive nach der Intention der Autorin: Geht es ihr um die Funktion(-sweisen) und die Rolle des Päckchenschickens für die innerdeutschen Beziehungen? Oder um die Auswirkungen einer wechselseitigen kommunikativen und sozialen Praxis auf die Selbst- und Fremdbilder der Deutschen in Ost und West (oder umgekehrt?)? Oder gar – wie der Klappentext vollmundig behauptet – um eine „Beziehungsgeschichte der politischen Kultur im geteilten Deutschland“, die „direkt in das Herz der Abgrenzungs- und Annäherungsversuche beider deutscher Staaten“ führe?

Der Blick auf das Inhaltsverzeichnis hilft hier nicht weiter: Ist doch der Hauptteil der Studie nicht mit einem Analysethema, sondern lediglich mit dem Buchuntertitel („3. Der Päckchen- und Paketverkehr 1945–1990“) überschrieben. Auch die darunter gruppierten Einzelkapitel folgen keiner analytischen, sondern lediglich einer formalen Gliederung („3.1 Die internationale Hilfe durch CARE und CRALOG“; „3.2 Die Formen des innerdeutschen Versands“); von daher korrespondieren die Kapitelüberschriften auch nicht mit den (diversen) Fragestellungen und Zielsetzungen, die in der Einleitung aufgeworfen wurden, was die Orientierung zusätzlich erschwert.

Erst in der vierten (!) Unterebene der Gliederung (3.2.3.1 usw.) tauchen die für das Thema der Arbeit zentralen Analysekategorien wieder auf. Anhand der hier formulierten Kapitelüberschriften bestätigt sich jedoch die bereits durch die Einleitung aufgeworfene Vermutung, dass die Foci der Betrachtung nicht trennscharf verwendet werden: In gleichrangig positionierten Kapiteln werden hier u. a. die Intention des Päckchen-Versendens („3.2.3.1 Das Lindern der Not 1949–1957“), das daraus resultierende Beziehungsverhältnis zwischen Ost und West („3.2.3.2 Der Versand auf Augenhöhe 1958–1961“) sowie die ambivalenten Wahrnehmungen des Päckchen-Sendens und -Empfangens (in der unfreiwillig komisch anmutenden Formulierung: „3.2.3.4 Die Päckchen und Pakete zwischen Routine und Freude 1972–1980“) nebeneinander gestellt und in der Darstellung einer lediglich chronologischen Abfolge untergeordnet.

Diese strukturellen Mängel macht allerdings die breite Quellenbasis, die Soch für ihre Geschichte des innerdeutschen Paketverkehrs nutzt, wieder wett. Die im Bereich der DDR-Historie seltene Verknüpfung von Archivmaterialien, Medienberichten, Ego-Dokumenten und Interviewaussagen erscheint nicht nur kreativ im Anspruch, sondern ist auch analytisch überzeugend umgesetzt. In methodologischer Hinsicht stellt sich allerdings die Frage, warum nach der Rekrutierung von rund 500 potentiellen Gesprächspartner*innen über Spiegel online, nach einem mehrstufigen Auswahlprozess und dem rätselhaften Sampling-Konstrukt von „Interviewzentren, die nicht deckungsgleich mit dem damaligen oder heutigen Wohnort“ (36 f.) waren, 43 (!) mehrstündige Interviews geführt werden mussten, wenn diese dann aus naheliegenden forschungspragmatischen Gründen nur partiell transkribiert und deduktiv ausgewertet wurden: Das etwas dürftig wirkende Argument, dass die beiden Faktoren Alter und Sozialisation die Versandmotive und den Päckcheninhalt entscheidend beeinflussten, und die daraus resultierende analytische Einteilung der Befragten in drei Alterskohorten mit jeweils spezifischen Sozialisationserfahrungen werden durch diese vermeintliche „Repräsentativität“ der Befragung jedenfalls nicht gestützt.

Überraschend erscheint auch der theoretische Rückgriff auf den Begriff der „alltagsästhetischen Episode“ (29), mit dem Soch das alltagskulturelle Phänomen des Päckchen-Verpackens und ‑Auspackens zu fassen sucht: Wesentlich naheliegender wäre die Einbindung von (ethnographischen) Forschungen zu materieller Kultur und sinnlicher Wahrnehmung respektive von Studien zur Konsum- und Emotionsgeschichte gewesen. Jedoch zeichnet sich die Studie durch eine breite Wahrnehmung der theoretischen und methodologischen Ansätze der DDR-Forschung aus – auch wenn deren Darstellung im entsprechenden Kapitel („Die theoretisch-methodischen Grundlagen“, 19–41) etwas langatmig und exzerpthaft geraten ist.

Der relativ selbstbewusste Ton, der in der Einleitung (16: „Dieses Forschungsvorhaben [...] stellt [...] einen unübersehbar wichtigen Beitrag zum Verständnis deutsch-deutscher Kommunikation dar“) und im Schluss angeschlagen wird, irritiert: Im methodologisch wie inhaltlich argumentierenden, reichhaltigen Fazit entsteht so der Eindruck, die Autorin habe die Rezeption ihrer Studie gleich mitgeleistet (279: „Dabei profitierte die Arbeit, ganz wie es Katrin Hammerstein und Edgar Wolfrum für den Bereich der DDR-Forschung fordern, von der Möglichkeit, unterschiedliche Altersgruppen mit ihren jeweiligen Selbstverständnissen einzubeziehen“). Last but not least fallen die nicht gendergerechte Sprache sowie das schlampige Lektorat auf, das nicht nur grammatikalische und orthographische Fehler, sondern auch unlogisch formulierte Sätze und maternalistisch anmutende Formulierungen („Mehr als 45 Jahre sind wir ganz im Sinne der Histoire Croisée den Päckchen und Paketen auf ihrem Weg [...] gefolgt“) übersehen hat: All dies ist sicherlich auch dem Campus Verlag anzulasten.

Insgesamt aber handelt es sich um eine lesenswerte Studie zur Beziehungsgeschichte der Ost- und Westdeutschen, die Theorie und Empirie überzeugend verbindet und mitunter erstaunliche themenspezifische Erkenntnisse bietet – etwa, dass auch Ostpakete im Westen kontrolliert wurden. Das Durchhaltevermögen, das es braucht, um sich in der etwas verwirrenden Struktur zurechtzufinden, lohnt sich allemal, um die vielzitierte „Mauer in den Köpfen“ weiter abzubauen.