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Daniel Kalt

Unheimliche Schönheiten. Barcelona und Marseille – postindustrielle Hafenstädte in der Kriminalliteratur

(Lettre), Bielefeld 2018, transcript, 307 Seiten
Rezensiert von Brigitte Frizzoni
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.07.2019

Die Krimis von Manuel Vázquez Montalbán mit dem in Barcelona ermittelnden Pepe Carvalho und die Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo mit Ermittler Fabio Montale sind international erfolgreiche Krimiserien aus Spanien und Frankreich. Sie stehen im Zentrum der vorliegenden, überaus anregenden Promotion des Wiener Romanisten, Komparatisten und Journalisten Daniel Kalt.

Die Ermittlerfiguren mit Herz für „kleine Leute“ eint, dass sie in Hafenstädten wirken und wohnen, die in den letzten zwei, drei Jahrzehnten große Veränderungen erfuhren: zum einen Barcelona, eine Hafenstadt, die in Vorbereitung auf die Olympischen Sommerspiele 1992 in eine Vorzeigestadt, eine „Global Entertainment City“ (133) transformiert wird; zum andern Marseille, die größte Handelshafenstadt Frankreichs (227), die zu einem „euromediterranen“ Knotenpunkt (8) umgewandelt werden soll.

Dass Hafenstädte fruchtbare Schauplätze beziehungsweise Tatorte für Krimis sind, liegt nicht zuletzt an der Ambivalenz, die ihnen eigen ist, wie der Autor überzeugend darlegt. Das „Hafenimaginäre“ (53) ist gekennzeichnet durch Gegensätzliches, Land und Meer, Aufbruch und Ankunft, Fremdes und Vertrautes (52), Sehnsucht und Erschaudern (7). Der Hafen kann Zuversicht spendender und unheimlicher Ort sein: „Der Blick über das Wasser hinaus, verbunden mit dem Gedanken an ein tröstliches Anderswo […] beruhigt, beschwichtigt, spendet Zuversicht.“ Gleichzeitig „öffnet sich das Vertraute gegen ein nicht ganz Geheures“ (7). Diese Ambivalenz von Hafenstädten spiegelt sich im Titel der Publikation in ihrer poetischen Charakterisierung als „Unheimliche Schönheiten“. Auch das meerblaue Cover mit Anker und Pistole (gestaltet von Nina Ober) vereint „Schönes und Schauriges“ (52) und illustriert die Verschränkung von Locus und Verbrechen trefflich.

Die Ermittlerfiguren und ihre „sidekicks“ erweisen sich als genaue und kritische Beobachter der Gentrifizierung dieser Hafenstädte. Sie trauern den verschwindenden „Gedächtnisorten“ nach, begehren gegen das „Überschrieben-Werden der Stadt“ (153) auf und fühlen sich zunehmend unbeheimatet.

Das Krimischreiben dezidiert politisch engagierter Autoren wie Manuel Vázquez Montalbán und Jean-Claude Izzo lässt sich somit auch als Politisieren im Sinne Hannah Arendts (32), als Engagement mit gesellschaftlicher Wirkungsabsicht verstehen. Dies entspricht der Tradition des sozialkritischen hardboiled Krimis, der „knallharten“ Darstellung von Großstädten, die Korruption, Verschränkung von Schattenwirtschaft und offizieller Ökonomie beleuchtet (14). Daniel Kalt beschreibt dieses Krimisubgenre entsprechend als Mix von Kriminal-, Stadt- und sozial engagierter Literatur (15) und damit auch als Quelle für sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen wie die Urban Studies. Dem Krimi als Stadtliteratur kommt gewissermaßen die Funktion einer mémoire-fiction, einer Gedächtnisliteratur zu, ein vom Autor eingeführter prägnanter Begriff in Anlehnung an den französischen Historiker und Gedächtnisforscher Pierre Nora, der ein Inventar der lieux de mémoire, der Gedächtnisorte Frankreichs erstellt (34).

Diese mémoire-fiction erfährt in der vorliegenden Arbeit in den ersten drei Kapiteln eine umfassende Kontextualisierung, bevor sie in den letzten beiden Kapiteln – werkimmanent mit zahlreichen Originalzitaten belegt – analysiert wird. Da die hier vorgestellten Kontexte (Großstadt in Umgestaltung; Mittelmeerraum als kultureller Großraum; Hafenstädte als Großbauprojekte) die nachfolgenden Textanalysen befruchten, führt das stellenweise zu Redundanzen mit dem unbestreitbaren Vorteil, dass sich die fünf Kapitel auch losgelöst voneinander mit Gewinn lesen lassen.

Zum Verständnis der aktuellen Situation der Hafenstädte charakterisiert der Autor im ersten Kapitel (13–49) die Großstadt am Ende der Moderne mit Rückgriff auf Beschreibungsmodelle von UrbanistInnen und StadtsoziologInnen: als Global City (Saskia Sassen) in einem weltumspannenden Netz, als Ort für die Creative Class, für flexible, international orientierte gebildete WissensarbeiterInnen (Richard Florida) und als Open vs. Closed City (Richard Sennett). Die Open City beschreibt Sennett als „a bottom-up place; it belongs to the people“, die Closed City als top-down entworfener Ort, als „city that belongs to the masters“ (31).

Im zweiten Kapitel (51–84) wird die Rolle der Hafenstädte als Schnitt- und Knotenpunkte des kulturellen Großraums „Mittelmeer“ (Fernand Braudel), als espace-movement (54) beleuchtet, als Mare Nostrum, als transnationaler Gemeinschaftsraum – der für Flüchtlinge allerdings zur Grenze, zur Wand, zur Barriere wird (55). Die massiven Veränderungen der Hafenstädte durch die Vorlagerung neuer Container-Häfen, die vom Stadtkern getrennt sind, prägen die postindustrielle Hafenstadt, die Barcelona und Marseille modellhaft verkörpern.

Die urbanistischen Großbauprojekte, die zum aktuellem Erscheinungsbild der postindustriellen Hafenstädte Barcelona und Marseille führen, sind Gegenstand des dritten Kapitels (85–131), das mit einem Exkurs zur Hafenstadt Neapel und den dort angesiedelten Krimis italienischer AutorInnen endet (114–131). Veränderungsskeptiker bedauern den Charakterverlust und die Vertreibung der ärmeren Bevölkerung durch die Großbauprojekte, Befürworter begrüßen die positive Effekte wie die Öffnung der Stadt zum Meer hin, die sogenannte Waterfront-Reaktivierung (113) mit Raum für Vergnügung, Dienstleistung und Information, die Verbesserung prekärer Wohnverhältnisse in ehemals unsicheren Gebieten.

Das vierte Kapitel fokussiert Barcelona im Spiegel der Kriminalliteratur (133–226). Der Charme des Unterweltlichen, des Schäbigen und Schmutzigen hat im olympisch postfordistischen Barcelona ausgedient: Das Herz von Barcelona (Jean Genet), das alte Hafenviertel Barrio Chino, erfährt getreu dem Motto für die Vorbereitung der Stadt auf die Olympischen Sommerspiele 1992 „Barcelona, posa’t guapa!“ („Barcelona, mach dich schön!“) „Behübschungsbestrebungen“ (133), Kommerzialisierung und Sterilisierung. Die kleinen Ganoven und die Prostituierten werden aus dem Viertel vertrieben. Barcelona verändert sich im Sinne Richard Sennetts „von einer mediterran ‚offenenʽ in eine geschlossene, durchgeplante Stadt, die berechenbar und bestmöglich verwertbar sein soll“ (170). Gegen diese Durchplanung und Tilgung des in die Stadt eingeschriebenen Gedächtnisses wehren sich vier namhafte Krimiautoren: Manuel Vázquez Montalbán mit dem Genießer Pepe Carvalho (135–186), Eduardo Mendoza mit einem namenlos-entrückten Ermittler (186–206), Francisco González Ledesma mit Inspektor Ricardo Méndez sowie Andreu Martín (207–226). Der kritischen Würdigung von Manuel Vázquez Montalbáns knapp dreißig Jahre umfassender Krimireihe mit Pepe Carvalho kommt hier Vorrangstellung zu.

Der Hafenstadt Marseille und dem Mitte der Neunzigerjahre auftauchenden polar marseillais in der Tradition des politisch engagierten néo polar ist das fünfte und letzte Kapitel der Arbeit gewidmet (227–280). Die Krimiautoren Michèle Courbou, Philippe Carrese und François Thomazeau korrigieren in ihren Werken den zweifelhaften Ruf von Marseille als krisengeschütteltem „heiße[n] Pflaster“ (227), als „ville en train de crever“ (243), mit seinem Kern, dem Panier-Viertel in der Nähe des Vieux Port, einem „Schandfleck mit Charme“ (257). Mit der Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo um den ermittelnden Genussmenschen Fabio Montale, die vor der Jahrtausendwende erscheint, erfährt der polar marseillais internationale Aufmerksamkeit. Wie Pepe Carvalho in Barcelona lehnt auch Izzos Ermittler die Umgestaltungspläne zu Marseille Euro-méditerranée, zur wirtschaftslogischen Neupositionierung der Hafenstadt vehement ab (262). Nach der Jahrtausendwende wird in den Werken von Annie Barrière, Olivier Descosse, Jean-Paul Delfino, René Frégni und Cédric Fabre der weitere Entwicklungsprozess von Marseille bis zur Ernennung zur europäischen Kulturhauptstadt 2013 reflektiert.

Mit „Unheimliche Schönheiten“ hat der Autor eine nicht nur für Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen, für KrimiforscherInnen und ‑liebhaberInnen, sondern auch für eine an Stadtentwicklung und Stadtforschung interessierte Leserschaft eine überaus gewinnbringende Studie vorgelegt – spanische, französische und italienische Sprachkenntnisse vorausgesetzt.

Melanie Wigbers hat sich in ihrer Promotion „Krimi-Orte im Wandel“ (2006) noch gewundert, dass die zentrale Position des kriminalliterarischen Orts bisher nicht mehr Interesse auf sich gezogen und zu vielfältigeren Fragen angeregt hat. Diese Forschungslücke schließt Daniel Kalt mit seiner produktiven, theoriegesättigten und leserfreundlich formulierten originellen Verflechtung von (Hafen-)Stadtentwicklung und Krimigenre.