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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Stefan Groth/Linda Mülli (Hg.)

Ordnungen in Alltag & Gesellschaft. Empirisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven

Würzburg 2019, Königshausen & Neumann, 338 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 12.08.2019

Zusammen besprochen mit:

Delphine Gardey, Schreiben, Rechnen, Ablegen. Wie eine Revolution des Bürolebens unsere Gesellschaft verändert hat. Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer, Konstanz 2019, University Press, 320 Seiten mit Abbildungen

 

Wenn man die abendlichen Fernsehnachrichten einschaltet und einen Bericht zu den bisweilen recht aggressiv und chaotisch ausfallenden Verhandlungen des britischen Parlaments in Sachen „Brexit“ rezipiert, dann fällt es auf, dass eine ganz bestimmte männliche Person des Öfteren eine Art von Befehl durch den Saal ruft, dem allerdings nur bedingt Folge geleistet wird. Die Botschaft des Speaker of the House of Commons, Mr. John Bercow, lautet schlicht: „Order“, also „Ordnung“, womit er sich eines für unsere wissenschaftliche Disziplin zentralen Begriffes bedient.

Szenenwechsel: 2001: In Jena findet der 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde statt, dies zum Thema: „Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung“ [1]. 2014: Die Saarbrücker Hochschultagung des vorgenannten Fachverbands widmet sich dem Thema: „Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung“ [2]. 2017: An den Universitäten Basel und Zürich veranstalten unsere Fachvertretungen eine gemeinsame Ringvorlesung über „Zyklen, Strukturen und Rhythmen. Ordnungen in Alltag und Gesellschaft“. 2018: Die Festschrift für Andreas Hartmann erscheint, dies mit einem Beitrag von Lars Winterberg zum Thema: „Ordnung und Kultur. Perspektiven, Potentiale, Paradigmen“ [3]. 2019: Der von Stefan Groth und Linda Mülli herausgegebene Band mit den schweizerischen Ringvorlesungs-Texten kommt auf den Markt. Wenn man bedenkt, dass den Tagungen und vergleichbaren Veranstaltungen Publikationen folgen und dass hier nur eine Auswahl an Aktivitäten allein im deutschsprachigen Raum genannt wird, so kann man sich durchaus fragen: Soviel Ordnungs-Thematisierung innerhalb von so kurzer Zeit, wer soll denn das verkraften?

Um es vorwegzunehmen: Sämtliche der vorgenannten wissenschaftlichen Aktivitäten ergänzen sich hervorragend. Leopold Schmidts Bestimmung unseres Faches als „Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen“ (1947) wird ebenso wie Karl-Sigismund Kramers angeblich statisches Verständnis einer rechtlichen Volkskunde (1974) und wie Ina-Maria Greverus‘ Konzept einer „kulturellen Ordnung“ (1978) peu à peu nur noch in Randbemerkungen angesprochen oder gar vollkommen ignoriert, so dass es letztlich nicht mehr zu einer Debatte darüber kommt, woher die diskutierte Kategorie der Ordnung im Rahmen unserer Disziplin stammt und was sie einstmals und was sie heute bedeutet. Aber ungeachtet dessen wird klar und deutlich vorgeführt: Mit der Kategorie der Ordnung wird gearbeitet, zumal die Basler und Zürcher Grundthese auch für die weiteren Veröffentlichungen gilt, die da lautet, „dass Ordnungen in Kultur und Alltag, in Diskursen und Praktiken fortwährend hergestellt, aber auch herausgefordert werden. Diese sicht- und unsichtbaren Ordnungen sind von Zyklen, Strukturen und Rhythmen geprägt, denen sich die einzelnen Beiträge der Vorlesung sowie jene in diesem Band fragend wie deutend annähern.“ (7)

Den Auftakt bildet ein wissenschaftssystematischer wie auch wissenschaftshistorischer Grundlagen-Text von Mitherausgeber Stefan Groth über verschiedene, thematisch einschlägige Forschungskonzepte, Methoden und Theorien, wobei im Zentrum durchgängig das an Pierre Bourdieus Differenzierung zwischen strukturierter und strukturierender Struktur erinnernde Zusammenwirken von Ordnungen als konstituierte und konstituierende gesellschaftliche Funktionen steht. Anders gesagt: „Ordnungen im Alltag schaffen in diesem Sinne Gesellschaft ebenso wie gesellschaftliche Praktiken zur Gestaltung von Ordnungen beitragen.“ (18 f.)

Die darauf folgenden insgesamt 15 Texte aus den Federn von Assistenten und Oberassistenten beiderlei Geschlechts setzen sich mit Ordnungen in Kultur und Alltag auseinander, wie sie hergestellt, aber auch wie sie angefochten und verändert werden, konkret mit habitualisierten Praktiken und alltäglichen Interaktionen unter UNO-Mitarbeitern, dies mit Ideen zur konzeptionellen Erweiterung der Ritualtheorien etwa von Arnold van Gennep und Victor Turner (Linda Mülli); mit Fragen der gleichgeschlechtlichen Elternschaft in Israel einschließlich der Bedeutung religiöser Einflüsse (Sibylle Lustenberger); mit Problemen der Gliederung und Nutzung jenes Teils des öffentlichen Raums, den wir Luftraum nennen und der unter anderem auch mehr und mehr von zivilen Drohnen beansprucht wird (Maximilian Jablonowski); mit Problemen des Aushandelns jenes Teils des öffentlichen Raums, den wir Natur nennen und der immer öfter von Wolfsrudeln heimgesucht wird, wobei von „wölfischen Unterwanderungen“ die Rede ist (Elisa Frank und Nikolaus Heinzer); mit politischen Ordnungen, einerseits im Bereich des Stiftungswesens (Theres Inauen), andererseits im Bereich des städtischen Raums einschließlich der Eigentumsfrage (Jonas Aebi); mit Kategorisierungen alpiner Urbanität auf dem Weg zur Netzwerkbildung (Konrad J. Kuhn); mit energiewirtschaftlicher und klimabezogener (Un-)Ordnung einschließlich dazugehöriger Wissenskonzepte (Valeska Flor); mit akustischen Ordnungen zwischen Lärm und Stille sowie Kultur und Natur (Patricia Jäggi); mit dem Erfahrungs- und Ordnungsraum Warenhaus (Angela Bhend); mit Ordnungs- bzw. Anordnungskonzepten sowie Präsentationsformen in jüdischen Museen im deutschsprachigen Raum (Darja Alexandra Pisetzki); mit Möglichkeiten der Anwendung des Rhizom-Forschungskonzepts von Gilles Deleuze und Félix Guattari im Zusammenhang mit der kulturwissenschaftlichen Untersuchung menschlichen Atmens im Alltag (Aurelia Ehrensperger); mit dem Verhältnis von Rhythmus und sportlicher Betätigung (Yonca Krahn); mit der am Beispiel eines UNO-Komitees entwickelten Konstruktion einer integrierenden Kommunikationsethnografie (Stefan Groth); schließlich mit jenen (An-)Ordnungstechniken des Sprechens, die wir „Fragen“ nennen (Christine Oldörp).

Die Saarbrücker Tagung von 2014 verfolgte das Ziel, so schreibt das Herausgeberteam im Vorwort, die „weitergeführte konkrete Nutzbarkeit“ der Ordnungs-Kategorie vorzuführen, aus der eigenen Sicht offensichtlich mit erfolgreichem Ausgang, denn da ist auch die Rede davon, „wie gewinnbringend deren Anwendung“ sei [4]. Beurteilt man den schweizerischen Tagungsband zusammenfassend, so lässt sich auf jeden Fall sagen, dass die Basler und Zürcher Kolleginnen und Kollegen, dieser Einschätzung entsprechend, einen konstruktiven Beitrag geleistet haben zur Weiterentwicklung kulturwissenschaftlicher Arbeit mit der Kategorie der Ordnung.

Apropos: Auch die Benennungs- bzw. Umbenennungspraktiken innerhalb unserer Disziplin haben durchaus mit dem hier verhandelten Thema zu tun. Die in den verschiedenen Texten nachzulesende Zuordnungspraxis geschieht allzu oft ohne jegliche Begründung. Da tauchen dann Barbara Krug-Richter als Europäische Ethnologin (17), Andreas Hartmann als Volkskundler (96) und Bernhard Tschofen als Kulturwissenschaftler (101) auf, um nur drei Beispiele anzuführen. Sind diese Denominationen wirklich gerechtfertigt? Anders gefragt: Sollten wir nicht endlich das Verwirrung stiftende, sogenannte Viel-Namen-Fach in ein Ein-Namen-Fach konvertieren – und uns, wie von mir selbst bevorzugt, als Empirische Kulturwissenschaftler verstehen?

 

Auch der zweite, hier anzuzeigende Band, eine Pariser Habilitationsschrift, verfasst von der an der Universität Genf lehrenden Historikerin und Soziologin Delphine Gardey, widmet sich sichtbaren und unsichtbaren Ordnungssystemen, dies allerdings in konsequent historischer Perspektive und mittels Eintauchen in eine gänzlich anders gelagerte, nämlich mit Arbeitsvorgängen zu tun habende Welt, was einen deutlichen, gewissermaßen doppelten, Unterschied zu den Basler und Zürcher Sammelband-Beiträgen darstellt.

Wenn man den Begriff der Ordnung auf den Sektor des „Bürolebens“, mithin auf die typische Welt der Angestellten, bezieht, dann könnte man folgern, dass im Zentrum der Studie eine Auseinandersetzung mit Vorschriften steht, mit Dienstordnungen in der Angestelltenwelt im Gegensatz zu Arbeitsordnungen in der Arbeiterwelt, mit lockereren oder schärferen Reglements, auch mit deutlichen oder weniger deutlichen internen Gliederungen beider Gruppen, nicht zu vergessen die Unterscheidungen nach Geschlecht und Alter. Die Autorin geht indessen einen Schritt weiter, indem sie etwas weit Komplexeres erarbeitet: Zum einen entwickelt sie „ein Panorama der kognitiven und materiellen Veränderungen, von denen die westlichen Gesellschaften und Wirtschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts geprägt werden und die jener Welt den Boden bereiten, in der wir heute leben. Es geht darum, die mechanische und ‚materielle‘ Seite der Informationserzeugung zu analysieren“, dies vorwiegend für französische Verhältnisse, unter Einbezug britischer und amerikanischer Vorgänge, sowie zunächst für die 1890er bis 1920er Jahre, jene „Umbruchzeit, die jene technische, kognitive, organisatorische und menschliche Infrastruktur hervorbringt, die die spätere ‚digitale Revolution‘ vorbereitet“ (18 f.), wobei schwerpunktartig die „Zeit der Produktivität“ in den Blick genommen wird, also die Zeit der 1920er bis 1940er Jahre. Der gesamte Untersuchungszeitraum firmiert als das „Zeitalter der Ordnung“ beziehungsweise das „Zeitalter der Systeme“ (163). Und die oben zitierte Grundthese der schweizerischen Vorlesungstexte gilt auf jeden Fall auch für die Gardey’sche Studie, denn es gelangen in allen sieben Kapiteln durchgängig  Auseinandersetzungen, Wettbewerbe, Konfrontationen und Kontroversen um die Beibehaltung und/oder Veränderung von bestimmten Ordnungen zur eingehenden Betrachtung, dies unter wirtschaftlichen, technologischen, sozialen, politischen und nicht zuletzt kulturellen Aspekten: Die Herausbildung der demokratischen Gesellschaft hat nicht nur mit mündlichen, sondern mehr und mehr mit schriftlichen, wiederholt einsehbaren Überlieferungen zu tun. Hilfsmittel, einschlägige Öffentlichkeit herzustellen, sind die Alphabetisierung und Bildung der Menschen, aber auch etwa die Perfektionierung der Stenographie und, Jahre später, verschiedener Verfahren der Vervielfältigung von Geschriebenem. Immer wieder neue Anforderungen, Tätigkeiten und Berufe, Regeln und Normen sowie Arbeitsmittel von der Stahlfeder bis zur Schreibmaschine sorgen für eine Dynamisierung und Produktivitätssteigerung der Arbeitswelt. Diese Abläufe müssen verwaltet, also registriert und kontrolliert, werden, was neue Erfassungs- und Ablageordnungen notwendig macht, dies einschließlich speziell dafür geeigneter materieller Ausstattung, seien es Räume oder etwa Büromöbel. Zum Geschäftsleben gehören Vorgänge des Rechnens, gleich ob dies Menschen oder Maschinen übernehmen. Das Gleiche gilt für die Entwicklung der Buchführung als Teil effizienten Wirtschaftens sowie die Verwissenschaftlichung der übergeordneten Betriebsführung. Fazit: „Man könnte sagen, dass mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein neuer Modus des Daseins in der Welt auf den Plan tritt, ein Modus, bei dem die technische Vermittlung, die Arbeitsorganisation, die Ausrüstung des Raums wesentlich zur Erledigung von Aufgaben beitragen, die zu bewältigen bis dahin Sache des menschlichen Geistes und menschlichen Könnens war.“ (297)

Delphine Gardey hat eine durch ein instruktives Vorwort aus der Feder des Berliner Literaturwissenschaftlers Hans-Christian von Herrmann eingeleitete Studie vorgelegt, deren Darstellung sich geradezu systematisch um das Verhältnis von Menschen und (materiellen wie immateriellen) Dingen dreht und damit an die verschiedenen Schriften des Pariser Soziologen Bruno Latour erinnert, dem im Übrigen nicht nur für Beratung gedankt wird, sondern der auch als Mitglied des Habilitationsausschusses der Autorin fungierte. Es ist dem Verlag zu danken, dass er, obwohl das französische Original bereits elf Jahre vorher erschienen ist, die Studie in sein Programm aufgenommen hat, denn sie lässt sich jederzeit als positives Vorbild für weitere Arbeiten empfehlen, welche die Verbindung von Menschen und Dingen wissenschaftlich erkunden möchten.

 

Anmerkungen

[1] Siehe Silke Göttsch u. Christel Köhle-Hezinger (Hgg): Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. Münster u. a. 2003.

[2] Siehe Ute Elisabeth Flieger, Barbara Krug-Richter u. Lars Winterberg (Hgg.): Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung. Münster/New York 2017.

[3] In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 62/63 (2017/18), S. 95-107.

[4] Wie Anm. 2, S. 8.