Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Lydia Maria Arantes

Verstrickungen. Kulturanthropologische Perspektiven auf Stricken und Handarbeit

Berlin 2017, Panama, 350 Seiten mit 28 Abbildungen, meist farbig
Rezensiert von Anna Katharina Behrend
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 05.08.2019

Auch wenn es sich eigentlich nicht gehört, muss bei dieser Publikation von Lydia Maria Arantes als Erstes erwähnt werden: Das Äußere des Buches ist optisch und haptisch eine Freude. Vom Berliner Panama Verlag herausgegeben, trägt es ein sattgrünes Cover aus rauem, festem Papier, das durch seine Schlichtheit wie Raffinesse gleichzeitig besticht. Neben dem Haupttitel, dem Namen der Autorin und dem Signet des Verlags findet sich darauf nur noch eine stilisierte Maschenreihe in silbernem Prägedruck. Diese gelungene Gestaltung macht umso neugieriger auf den Inhalt des Buches.

Die Kulturanthropologin Lydia Maria Arantes wendet sich mit dieser Arbeit, die zuvor als Dissertationsschrift an der Universität Graz vorgelegt wurde, dem Handstricken als Forschungsfeld und Handgestricktem als Forschungsgegenstand zu. Damit setzt sie sich mit einem aktuellen Phänomen auseinander, das auch in der sonst an jeglichen Alltagspraktiken interessierten Volkskunde/Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie ein Forschungsdesiderat darstellt – und tatsächlich war es anfänglich nicht leicht, für das, was die Autorin „Strickforschung“ nennt, Anerkennung „als legitimes kulturanthropologisches Forschungsfeld“ (18) zu bekommen.

An das Einführungskapitel, das ausführlich die Genese der Forschungsfrage sowie ausgewählte Forschungs- und Deutungsmethoden vorstellt, schließen sich vier inhaltliche Kapitel an. Insgesamt ist die Arbeit durch ein soziales Raummodell strukturiert und bewegt sich unter den Kapitelüberschriften „Innenräume“, „Beziehungsräume“, „Frauenräume“ und „Wirtschaftsräume“ von einer Mikro- zu einer Makroperspektive, bei der das Handstricken als aktuelle wie auch historische Handarbeit befragt wird.

Dabei finden sich vor allem, aber nicht nur im Einführungskapitel zum Teil sehr subjektive Formulierungen; die Frage, ob Autor_innen als „ich“ im Text erscheinen ‚dürfen‘, ist hier eindeutig mit Ja beantwortet. Arantes versteht ihre Arbeit ausdrücklich auch als auto-ethnografische Forschung, in der immer wieder verhandelt wird, wie eng die Forschende selbst mit ihrem Feld ‚verstrickt‘ ist.

Das Hauptfeld der Forschung, das alltägliche Stricken, kristallisierte sich durch Anwendung eines induktiven Ansatzes heraus, bei dem Arantes mit Hilfe von explorativen, narrativen Gesprächen in der ersten Forschungsphase versuchte zu bestimmen, „welche Schwerpunktsetzungen [...] der Feldlogik entsprechen würden“ (17). Ein entscheidender Punkt, der das weitere theoretisch-methodische Fassen von Forschungsfeld und Forschungsgegenstand betrifft, ist die Feststellung der Autorin, dass „Strickpraxis und gestrickte Dinge“ (25) nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Es handelt sich hierbei vielmehr um „zwei Pole eines Kontinuums“ (25). Ohne dies explizit auszusprechen, gelingt Arantes ein transdisziplinärer Zugriff auf ihr Thema; da es sich bei Gestricktem im Gegensatz zu anderen textilen Handarbeiten meist um Kleidungsstücke handelt, ist es nur konsequent, dass sie ihre „Strickforschung“ (28) auch als Kleidungsforschung einordnet. Außerdem betont sie, dass „Stricken nicht nur als Manifestation von Bedeutungssystemen“ (29) zu verstehen ist, sondern „auch der [strickende] Körper als Basis von Kultur und kultureller Erfahrung stärker berücksichtigt werden“ (30) soll, weshalb sie ihre Arbeit in Teilen auch den sensory studies verpflichtet sieht.

Das mit „Innenräume“ überschriebene erste Kapitel widmet sich dem Verwirklichen eines zuvor imaginierten und, wie die Autorin betont, auch vorgefühlten Strickstückes, dem dafür gewählten Material und den genutzten Techniken. Im Sinne einer an den Anthropologen André Leroi-Gourhan angelehnten „chaîne opératoire“ (87) werden hier nicht nur alle Stufen des Strickens als technischer Prozess betrachtet, auch die herstellenden Akteure sowie die soziokulturellen Bedingungen dieses Handelns und Herstellens kommen nach Möglichkeit zur Analyse. Dabei ist der Autorin in Bezug auf ihren theoretischen Zugriff wichtig, dass schon die Antizipation des Herstellungsprozesses nicht nur einen rationalen, kognitiven Prozess beinhaltet, sondern hier ein fühlendes, leibfundiertes Denken stattfindet.

Auf einer abstrakteren Ebene widmet sich das Kapitel „Beziehungsräume“ dem Stricken und Gestricktem als „Materialisierungen des Zeitlichen“ (148). Arantes schlägt vor, gestrickte Dinge als „Zeitnavigationsdinge“ zu verstehen, also als Dinge, in denen sich Zeit materialisiert und anhand derer folglich verstreichende Zeit wahrgenommen werden kann. Während beim Stricken verstreichende Zeit von handarbeitenden Frauen und Mädchen im 19. Jahrhundert durchaus als vergeudet wahrgenommen wurde und für „erste einschneidende Erfahrung[en] von Langeweile“ (148) sorgte, wird diese Zeit heute eher als „Zeit-für-sich-selbst-Haben“ (150) empfunden. Diese positive Umkodierung einer Zeiterfahrung liegt in erster Linie darin begründet, dass das Stricken heute eine frei gewählte, also selbstbestimmte Beschäftigung ist, im Gegensatz zu historischen Disziplinierungsversuchen, die für Mädchen und Frauen durchaus mit dem Handstricken einhergingen. Dabei ist den historischen wie den aktuell Handarbeitenden gemein, dass nicht nur materielle Dinge, sondern über das Verschenken dieser Dinge auch Beziehungen hergestellt und gefestigt wurden und werden. Diesem Herschenken von Gestricktem nähert sich Arantes, indem sie es unter Gesichtspunkten verschiedener Gabentheorien, wie etwa denen von Marshall Sahlins oder Marcel Mauss befragt und herausarbeitet, wie wichtig heute der Gedanke der Autonomie für die Strickenden ist, also wem freiwillig was geschenkt wird.

Im Kapitel „Frauenräume“ geht Arantes noch intensiver auf die historische Dimension weiblicher Handarbeiten ein beziehungsweise der Herausbildung dieser als klar weiblich konnotierten Arbeit seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, wobei sie sich zu einem großen Teil auf die gängige Sekundärliteratur zum Thema stützt. Während sich in unteren sozialen Schichten durchaus ein ambivalenteres Bild abzeichnete, wurden vor allem im Bürgertum des 19. Jahrhunderts weibliche Handarbeiten, gerade weil sie dem ökonomischen Kreislauf entzogen waren und im Gegensatz zur Männerarbeit keine ökonomische Funktion hatten, regelrecht mit kulturellem wie sozialem Kapital aufgeladen; über sie wurde eine normative Weiblichkeit konstruiert und verfestigt.

Im letzten Kapitel widmet sich Arantes wieder zeitgenössischen Handarbeiten und deren privatem Verkauf auf dem online-Marktplatz Etsy. Bei diesem Geschäftsmodell sieht die Autorin Ähnlichkeiten zum historischen Verlagswesen, nicht nur was die Kategorien der hergestellten Produkte betrifft, sondern auch bezogen auf die Strukturen von Herstellung und Verkauf, die sie als „dezentral“, „dereguliert“ und „flexibel“ charakterisiert (303). Auch wenn hier mit handgearbeiteten Dingen Geld verdient wird, knüpft der Verkauf auf Etsy ideologisch doch daran an, was von Arantes‘ Gewährspersonen im zweiten Kapitel in Bezug auf das Verschenken von Gestricktem berichtet wird: Im Vordergrund steht nicht ein klar definiertes ökonomisches Interesse (leben kann kaum eine Verkäuferin von ihren Etsy-Produkten), sondern der Gedanke der Selbstverwirklichung. Letztlich findet hier das Narrativ „von Handarbeit als Nicht-Arbeit“ (275), wie es historisch auch bei handarbeitenden bürgerlichen Frauen zu finden war, seine Fortsetzung, auch wenn das Selbstverständnis des online-Marktplatzes eher vorgibt, „Frauen über wirtschaftliche Partizipation an der Gesellschaft teilhaben zu lassen“ (318). Tatsächlich aber werden zu einem gewissen Grad „tradierte vergeschlechtlichte Machtbeziehungen und Raumzuweisungen [...] so perpetuiert“ (318).

Insgesamt liegt mit „Verstrickungen“ eine Arbeit vor, die nicht nur eine Alltagspraktik und ein Feld erforscht, sondern in der auch die Erforschung dieser Forschungsarbeit selbst parallel mitläuft. Dass dabei nicht nur die aus dem Forschungstagebuch und dem dafür genutzten Smartphone abgedruckten Einträge, sondern teilweise auch der reguläre Textteil sehr persönlich und fast in einem Erzählton gehalten sind, irritiert durchaus an mancher Stelle. Dies ist aber eine eindeutige (und auch nachvollziehbare) Entscheidung der Autorin, die sich einer selbstreflexiven Forschung verpflichtet sieht und die damit unter anderem deutlich machen will, „dass Feldforschung nicht in einem sozialen Vakuum passiert“ (34). Welchen tatsächlichen inhaltlichen Wert die Tagebucheinträge haben oder, anders gefragt, was der ansonsten sehr wissenschaftlich formulierten Arbeit fehlen würde, wären sie nicht im Originalton abgedruckt, erschließt sich allerdings nicht direkt. Insgesamt aber ist diese Arbeit sorgfältig und klar strukturiert, klug gedacht und geschrieben und die Autorin bewegt sich methodisch, theoretisch und fachlich äußerst souverän in ihrem Feld. Es ist daher erfreulich, wie selbstbewusst sich hier einer der vermeintlichen Nebensächlichkeiten gewidmet wird, der sich die Volkskunde/Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie verschrieben hat und an die sie sich dennoch manchmal nicht ran traut.