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Aktuelle Rezensionen


Thomas Thiemeyer

Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken

Köln/Weimar/Wien 2018, Böhlau, 299 Seiten mit 13 Abbildungen
Rezensiert von Thomas Schindler
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 26.08.2019

Mit Thomas Thiemeyer widmet sich einer der profilierten Museumsforschenden einem in doppeltem Wortsinn oft nicht im Fokus öffentlicher und politischer Wahrnehmungen stehenden Museumsbereich, der allerdings in den vergangenen Jahren immer wieder und oft kontrovers diskutiert wurde und nach wie vor wird, dem Depot. Ausgangspunkt des Interesses des Autors sind nicht die Depots an sich, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in großem Stil als Lagerräume für nicht in publikumswirksamen Schauen gezeigte Museumsobjekte aufkamen. Thiemeyer interessieren vielmehr die lehrsammlungsartig minimalistischen, jedenfalls spezifisch arrangierten, in segmentierte Wissensstände darin angeordneten Dinge, die es der Schaulust und dem Wissensdurst, den Erwartungshaltungen des breiten Publikums in Depotausstellungen und Schaudepots wieder oder überhaupt zugänglich zu machen gilt.

Er gliedert seinen Band in die fünf Abschnitte „Anfänge“, „Depotausstellungen – Vier Portraits“, „Die Macht der Ideen: Episteme der Depotausstellungen“, „Die Transformation der Dinge: Werk, Exemplar, Zeuge“, „Die Logik der Räume: Ausstellung und Depot“ und „Das Depot als Versprechen“, um die „dunkle Seite des Museums“, „den lichtlosen Sperrbezirk der Kompaktusanlagen“ (11) zu beleuchten und zu erklären. Und dies erscheint umso dringlicher, weil seiner Ansicht nach das Depot beziehungsweise die Grenzziehung zwischen Ausstellung und Depot „noch nicht gründlich untersucht“ (11) sei. Sein Ansatz ist es, diesen aus seiner Sicht bisher fast ungedeuteten Raum am Beispiel von Schaudepots hinsichtlich aktueller Depotanordnungen und Inszenierungsstrategien zu fokussieren. Die leitende These ist dabei, dass die seit den 1970er-Jahren aufkommenden Depotausstellungen als Resultate von „Inwertsetzungsstrategien und vor allem als Bruch mit heutigen Darstellungskonventionen“ (13) zu deuten sind. Thiemeyers Quellen sind insbesondere die Depotausstellungsmachenden, die „Kulturagenten“ (14), deren „Konzepte, Korrespondenzen, Berichte und Protokolle“ (14), aber auch die in Presseberichten usw. dokumentierten RezipientInnenperspektiven.

Der Band setzt mit vier Porträts von Museen mit Depotausstellungen ein, in denen Thomas Thiemeyer deren jeweilige konzeptionelle Ansätze für Standortwechsel einzelner Objekte zwischen Depot und Ausstellung beziehungsweise Unterbringung in Depotausstellungen nachzeichnet und bewertet. Diesem empirischen Teil folgt das zweite inhaltliche Kapitel, in dem der Autor die Ideengeschichte(n) hinter den konzeptionellen Ansätzen der „Kulturagenten“ aufzeigt, um deren Sichtweisen auf die Gegenwart von Museum zu verstehen. Die spezifischen Deponierungs- und Präsentationsanliegen der von ihm ausgewählten vier Beispielmuseen, dem Literaturmuseum der Moderne (Marbach am Neckar), Museum der Dinge (Berlin), Übersee-Museum (Bremen) sowie Museum für Angewandte Kunst (Wien), schildert der Autor chronologisch. Hierdurch werden gleichermaßen die jeweilige Kontextgebundenheit und die individuell unterschiedlichen Haltungen der „Kulturagenten“ nachvollziehbar. Thiemeyer entwickelt so eine Vorstellung von den individuellen wie gemeinsamen Leitlinien, dem Generalisierbaren, und vermeidet dabei zugleich eine zu eingeschränkte Argumentation.

Zur Klassifizierung der aufgrund „kuratorischen Zugriffs [...], jene[n] Akte[n] symbolischer Gewalt“, durch „Räume und Zeiten“ migrierenden Museumsobjekte schlägt Thomas Thiemeyer eine Einteilung der Sammlungsbestände in die heuristischen Kategorien „Werk, Exemplar, Zeuge“ (211) vor, um die ihnen zugrunde liegenden Präsentationslogiken sichtbar zu machen. Wichtig ist ihm hierbei, den Objekten endgültig ihre „Originalität bzw. Authentizität“ als „ersten und wichtigsten Wert“ abzusprechen (211), denn diese Werturteile sind als wandelbare soziale Kategorisierungen von und für ExpertInnen und Laien ungeeignet. Er fragt damit insbesondere auch nach der Legitimität von Festsetzungen oder Aushandlungen der Museumswürdigkeit von Dingen. In vier Punkten unterscheiden sich „Werk, Exemplar, Zeuge“, in ihrer jeweiligen Referenz, ihrer Funktion, dem jeweils spezifischen Wertmaßstab und der „Art und Weise, wie Museen Werke, Exemplare und Zeugen (ideal)typischerweise ausstellen“ (230).

Das Kapitel „Die Logik der Räume: Ausstellung und Depot“ setzt mit einer Art Wahrnehmungsbeschreibung beim Betreten des Marbacher Archivdepots ein. Thomas Thiemeyer schildert in diesem Zusammenhang den Duft von „kompostiertem Holz“ usw. und die – aus konservatorischen Gründen notwendige – „Kälte“ sowie die ungewohnten Lichtverhältnisse (233); dabei vermisst er allerdings die unmittelbare Anwesenheit der Objekte, die in Kompaktusanlagen vorgehalten werden. Der Autor stellt fest, dass trotz unterschiedlicher olfaktorischer, akustischer, optischer usw. Wahrnehmungen die in den Depotanordnungen und ‑bestückungen gespiegelten Systematisierungen maßgeblich und pragmatisch von den darin gelagerten Objekten bestimmt werden. Er erkennt, dass in den Arrangements der von ihm untersuchten Museen Erwartungen an die konservatorisch ‚richtige‘, also funktionale Lagerung mit denen an die Zugänglichkeit und Erfahrbarkeit kombiniert sind. Daraus ergeben sich ihm zufolge „Raumsemantiken“ (237), die wiederum für das Verständnis der Inszenierungen von Schaudepots mit „szenografischer Askese“ (249) von großer Bedeutung sind – Schaudepots müssen auf Besuchende den Eindruck ‚echter‘ Depots machen. Dazu zählt auch, dass Besuchende den Eindruck vermittelt bekommen, als EntdeckerInnen durch bislang unerschlossene Bestände zu schreiten und hierdurch selbst die Rolle von Museumsinsidern oder ExpertInnen einzunehmen.

Im abschließenden Kapitel „Das Depot als Versprechen“ verhandelt der Autor die Depotausstellung, chronologisch kontextualisiert, als „politische Utopie, epistemische Methode und geheimnisvollen Ort“ (249). Er meint damit die mit dem weitgehend kommentarlosen Zeigen verbundene Demokratisierung der Objektbetrachtung und ‑deutung, die transparente Selbstreflexivität und gleichzeitig die mit der Zugänglichkeit verbundene Zuweisung von forscherischer Exklusivität an Besuchende. Durch alle drei Aspekte gewinnt ein Sammlungskorpus in mehrfacher Hinsicht an Legitimität. Thiemeyer betont, dass durch die zurückhaltende kuratorische Hand und die Massierung der Exponate gleichfalls aber die Trennlinie zwischen ExpertInnen und Laien umso deutlicher wird, Überforderung also zwangsläufig Teil des Konzepts von Schaudepots ist. Insofern findet in solchen Ausstellungen eine subkutane Verlagerung von Zugänglichkeit und damit von Transparenz statt. Inwieweit das Depot dadurch als „geheimnisvoller Ort“ (258 f.) aufgelöst oder erst dazu gemacht wird, bleibt etwas vage. Zuletzt diskutiert Thomas Thiemeyer „die Zukunft des Depots“ (266) vor dem Hintergrund der „Digitalmoderne“ (268). Seiner Meinung nach sind Depots Objekt-Datenbanken, die „Kulturagenten“ und RezipientInnen dialogisch vernetzt gemeinsam erschließen könnten, etwa bei der unkontrollierten Verschlagwortung von Archivalien als Folksonomy im Kontext des World Wide Web, kurzum: Thiemeyer stellt die Möglichkeit der (fast) grenzenlosen Teilhabe im WWW für die Bildung und Gestaltung von bisher professionell gestalteten Wissenskorpora in den Raum. Er betont, Museen würden sich in diese Richtung auch dadurch entwickeln, dass diese in Depotausstellungen längst didaktische Hilfsmittel, etwa Smartphone-Apps oder Multimediageräte, einbringen beziehungsweise Hybridinszenierungen aus klassisch kuratierter Schau und Depot anbieten. Der Autor fasst also zusammen, Depotausstellungen machen Museumsarbeit transparenter, bieten spezifische Teilhabemöglichkeiten und können dadurch Publikum wie Museumsfinanzierende neu oder zusätzlich ansprechen.

Thomas Thiemeyers Buch legt potentielle Funktionen von Museumsdepots beziehungsweise Depotausstellungen offen, die aus guten Gründen bislang keinen allgemeinen Zuspruch in der Museumscommunity gefunden haben und vermutlich auch nicht finden werden. Dies hängt meiner Ansicht nach weniger mit mangelnder Bereitschaft der „Kulturagenten“ (ein scheußlicher Begriff, wie ich finde) zusammen als mit fehlenden personellen und finanziellen Ressourcen und/oder in der Konsequenz beispielsweise mit ungeeigneten Netz-Infrastrukturen, konservatorischen Bedenken und – bei Thiemeyer für mich völlig unerklärlich leider kein Thema – der Verantwortung dem Gesundheitsschutz der Besuchenden gegenüber (was wäre wichtiger?). Letztgenannter Aspekt ist eben auch ein im Übrigen erst seit einigen wenigen Jahren drastisch an Bedeutung gewinnendes Thema hinsichtlich Zugangsbeschränkungen von Depotbereichen! Viele der dort massierten Objekte sind mittlerweile aus unterschiedlichen Gründen als Schadstoffemmitenten identifiziert worden (ist der oben erwähnte Duft „kompostierten Holzes“ vielleicht ein ausgasendes Holzschutzmittel oder ein Lösungsmittel?). So fällt mein Fazit denn auch – nicht nur deswegen – etwas gespalten aus. Einerseits liegen mit dem sehr eingängigen Buch ein wichtiger Beitrag zur Theoriebildung und eine grandiose, anregende Diskussionsgrundlage vor. Andererseits spiegeln zentrale Überlegungen kaum die museale Wirklichkeit in der Breite wider.