Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Simona Boscani Leoni/Martin Stuber (Hg.)

Wer das Gras wachsen hört. Wissensgeschichte(n) der pflanzlichen Ressourcen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert

(Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2017), Innsbruck/Wien/Bozen 2017, StudienVerlag, 256 Seiten mit Abbildungen, Tabellen
Rezensiert von Michael Markert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 12.08.2019

„Wer das Gras wachsen hört“ – so eine mögliche Lesart des Haupttitels – macht Wissensgeschichte und setzt sich mit dem so spannenden wie komplexen Verhältnis von Mensch und Nutzpflanze auseinander. Dem zugrundeliegenden Workshop geht eine mehr als zehnjährige Auseinandersetzung der Autor*innen mit dem Themenfeld in unterschiedlichen Konstellationen und Formaten voraus, weshalb der Untertitel mit seinem weiten Zeithorizont weniger überambitioniert gemeint ist, als er beim ersten Lesen wirkt. Dass diese Zusammenarbeit ausgesprochen fruchtbar war, macht die Qualität und Zusammenstellung der Beiträge mehr als deutlich. Die inhaltliche und konzeptionelle Rahmung, die damit verbunden sein dürfte, wird in einer leider viel zu kurz geratenen Einleitung mehr angedeutet als erklärt. Von vier Analyseebenen, namentlich „Perioden des Wissens, Objekte des Wissens, Orte und Akteure des Wissens und Formen des Wissens“ ist die Rede. Die darin jeweils benannten Kategorien jedoch werden als Vorschläge formuliert, ein explizierter Rahmen für die Beiträge – die zudem nicht alle im vorgeschlagenen Schema verortet werden – erscheint daher nur als Rudiment. Gerade weil ‚nützliche‘ und mehr noch ökonomisierbare Pflanzen ein so ubiquitäres Moment von Kulturentwicklung und ‑geschichte sind, reicht es nicht hin, einige bedeutungsvolle Stichworte in den diskursiven Raum zu stellen. Die Tatsache, dass es keine Wissensgeschichte pflanzlicher Ressourcen gibt, sondern diese mit und in den Beiträgen gewissermaßen erst entsteht, hätte Anlass zu starken Thesen sein sollen, statt als Rückzugsgelegenheit genutzt zu werden. So stellt die Einleitung vor allem eine implizite Aufforderung dar, die reichhaltigen, abwechslungsreichen und belesenen Beiträge wie auch die darin formulierten Schlüsse und Ideen weiterzudenken.

Doch was genau behandeln diese? Dorothee Rippmann Tauber widmet sich der frühneuzeitlichen Auseinandersetzung mit neuweltlichen Pflanzen und damit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, das sich in der Natur, im Botanischen Garten oder eben auf dem Feld zeigt. Anhand der Hausväterliteratur analysiert Ulrike Kruse die Nützlichkeitskonzepte zentraler Autoren in deren Darstellungen anbauwürdiger Pflanzen vom ausgehenden 16. bis ins späte 18. Jahrhundert. Eben dieses stellt auch den zeitlichen Schwerpunkt fast aller folgender Studien dar, was die im Untertitel proklamierten Aussagemöglichkeiten über eine longue durée des Nutzpflanzenwissens doch etwas einschränkt. Sophie Ruppel liest phythotheologische Schriften des 18. Jahrhunderts als protoökologische Konzepte von Naturverhältnissen, deren Tradition in ‚modernen‘ Ökologiekonzepten des 20. Jahrhunderts durchscheint. Wissenschaftliches Wissen als Basis ökonomischer Vorteilsnahme und damit die Umwandlung von intellektuellem in monetäres Kapital hat Simona Boscani Leoni mit der Etablierung des Schweizer Torfabbaus insbesondere durch die Brüder Scheuchzer im Blick. Meike Knittel untersucht Wissen über Heilpflanzen als Spezialfall nützlicher Gewächse in Johannes Gessners (1709–1790) Phytographia sacra und die das Werk speisenden Wissensarten und Quellen. Gleich fünf Beiträge beschäftigen sich exemplarisch mit dem Aufeinanderprallen und Verschränken von unterschiedlichen Expertiseformen im Umfeld ökonomisch bedeutsamer Anbaukulturen und sind damit stark auf praktisches Wissen ausgerichtet: Regina Dauser widmet sich dem Tabakanbau in der Kurpfalz, Sarah Baumgartner diskutiert die Strategien der Züricher Ökonomischen Kommission zur Verfeinerung und Verbreitung praktischen Wissens über den Klee als Futterpflanze und Gerrendina Gerber-Visser sondiert entsprechende Strategien für Bern und die Textilpflanzen Hanf, Flachs und Brennnessel. Erst mit dem folgenden Beitrag treten wir aus dem 18. Jahrhundert wieder heraus. Martin Stubers Erzählung, die vom 17. bis ins 19. Jahrhundert reicht, spielt ebenfalls in Bern und zeigt anhand des Obstbaus die immer komplexere Institutionalisierung entsprechender Wissensbestände. Abschließend wird von Juri Auderset und Peter Moser ein Blick in das frühe 20. Jahrhundert geworfen und ausgehend von der damals gerade wiederentdeckten Mendel-Genetik die Verschränkung von wissenschaftlichem und bäuerlichem Wissen zum Getreideanbau und damit von Labor und Freiland aufgezeigt. Im Anschluss an die Workshopbeiträge findet sich ein übergreifender Kommentar von Marcus Popplow, der in seiner Anlage – den Forschungsstand aufzeigend, die einzelnen Beiträge einordnend und daraus Perspektiven für die weitere Arbeit entwickelnd – wunderbar als Erweiterung der Einleitung geeignet gewesen wäre und auch gleich zu Beginn gelesen werden kann.

Die Zusammenstellung der Artikel erscheint vielleicht auf den ersten Blick etwas willkürlich, exemplarisch und bestenfalls der Chronologie der dargestellten Fallstudien geschuldet. Liest man aber hinein, so werden schnell Aspekte sichtbar, die über die Einzelbeiträge deutlich hinausreichen. So wird die über den Band hinweg beschriebene Professionalisierungstendenz von der frühen Neuzeit bis zur Moderne und die damit verbundene Differenzierung in institutioneller und textueller Hinsicht regelmäßig von der zweckgebundenen Verschränkung der neu entstandenen Wissensarten und ‑formen eingeholt. Deutlich wird damit auch – und dies ist gerade ohne einen entsprechenden und ausgeführten konzeptionellen Rahmen besonders bemerkenswert – nicht nur eine Gleichzeitigkeit der vielfältigen Expertiseformen aus bäuerlichem, administrativem oder auch wissenschaftlichem Alltag, sondern mehr noch deren Gleichwertigkeit als Weltzugänge. Präsentiert werden sie dabei nicht nur als vernetzt, sondern auch einander bedingend, beeinflussend und erweiternd.

Gerade wegen dieses breiten, ausgesprochen überzeugenden Ausweises einer dichten Wissenskultur und ‑geschichte pflanzlicher Ressourcen überrascht die mediale Beschränkung auf gedruckte Werke und seltene Archivquellen. Dinghafte Quellen und damit auch dingbezogene, etwa gestische Wissensformen, werden ausgeblendet, wo doch in der Einleitung des Bandes gleich zu Beginn der „material turn“ als ein zentrales Moment des neuen und hier ja auch umgesetzten wissen(schaft)shistorischen Blicks angesprochen wird. Bezeichnenderweise findet sich ein entsprechender Beitrag in der vorliegenden Publikation, jedoch hinter den Workshopbeiträgen als Rezension verfasst von eben jener Dorothee Rippmann Tauber, die in ihrem Aufsatz textuelle Umgangsweisen mit neuweltlichen Pflanzen beschreibt. In der Rezension bespricht sie ein Werk zu einem der ältesten Herbarien der Welt, dem des Basler Arztes Felix Platter (1536–1614). Die Belege darin reichen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zurück und damit in eben jene Zeit, die Rippmann Tauber in ihrem Artikel behandelt. Herbarien als Medium der Wissensgenerierung, ‑speicherung und ‑kommunikation sowie Botanisieren als Wissensform spielen dort allerdings nur eine sehr untergeordnete Rolle gegenüber gedruckten Büchern, obwohl sie aus einer Kulturgeschichte der Pflanzen nicht wegzudenken sind. Eine Verdinglichung könnte auch dabei helfen, das Thema für ein breites methodisches Arsenal aufzuschließen und vielleicht sogar jene domänenübergreifende Verbindung von fachbotanischem, (agrar-)ökonomischem, administrativem und gärtnerischem mit wissens- und wissenschaftshistorischem Wissen etablieren, wie sie in vergleichbarer Intensität auch den Untersuchungszeitraum prägte und damals ausgesprochen fruchtbar war.

In der Breite der behandelten Themen und Fragestellungen kann der Band deshalb sicher nicht nur von Vertreter*innen der Kulturwissenschaften mit Gewinn gelesen werden. Gerade die Anerkennung sehr unterschiedlicher gleichzeitiger Wissensbestände prädestiniert diese Wissensgeschichte als Ausgangspunkt weitreichender transdisziplinärer Überlegungen.