Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Eva-Maria Richter

Osteuropäische „Armutszuwanderung“ in München. Eine ethnografische Grenzregimeanalyse

(Münchner ethnographische Schriften 23), München 2017, Utz, 144 Seiten mit 1 Abbildung
Rezensiert von Manuel Liebig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 12.08.2019

Eva-Maria Richter

legt mit ihrem Büchlein eine Auseinandersetzung mit Diskursen, Praktiken und Aushandlungen um die Migration von rumänischen und bulgarischen Staatsbürger_innen vor. Dabei fokussiert sie die Zeit des EU-Beitritts der beiden Länder in der sogenannten EU-Osterweiterung 2007 bis zum Eintreten des Freizügigkeitsrechts 2014. Die Studie bleibt auch heute noch aktuell, entfachen sich doch stetig ähnliche Diskurse, Argumentationsmuster, Zuschreibungen, Stereotype und Problemfelder um die Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland. Richter zeigt auf Basis einer regimetheoretischen Herangehensweise das komplexe Regieren von einer als ‚Armutszuwanderung‘ klassifizierten Migrationsbewegung auf, an dem eine Vielzahl an Akteur_innen beteiligt ist und in dem in einem reziproken Mechanismus stets neue Problemlagen wie Restriktionen auftreten. Darauf aufbauend geht sie der „Verhandlung der osteuropäischen Armutsmigration“ (21) im Migrationsregime, der daraus produzierten Ausschlüsse sowie den Folgen für die Migrant_innen nach.

Die Studie basiert auf einer Masterarbeit, die 2015 am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht wurde. Dabei wird Richter den Ansprüchen einer Qualifikationsarbeit durchaus gerecht: Akribisch reflektiert sie ihre eigene Positionierung, verortet sich in fachlichen und theoretischen Kontexten und erläutert ihre methodische Herangehensweise sowie das Material, auf das sie sich bezieht. Dabei vermag sie auf strukturierte Weise zwei Desiderata aufzeigen, zu deren Schließung ihre Arbeit beitragen will: Zum einen erweitert sie die Ansätze einer Grenzregimeforschung auf den städtischen Raum, um hier anhand ihrer empirischen Erkenntnisse eine konkrete Materialisierung aufzuzeigen; städtische Politiken spielen eine zunehmende Rolle in der Implementierung des Grenzregimes. Zum anderen stellt die Beschäftigung mit der Zuwanderung aus Osteuropa und der „differentielle[n] Inklusion“[1] hierarchisierter Migrationsbewegungen im Fachkontext ein Novum dar – handelt es sich doch um ein relativ neues Phänomen.[2]

Zu Beginn referiert Richter den Forschungsstand und setzt sich mit neueren Entwicklungen in der (kritischen) Migrationsforschung auseinander. Hier skizziert sie kurz die Perspektive einer reflexiven Wende der Migrationsforschung, die sich insbesondere in der Abkehr vom Container-Modell des Nationalstaats zeigt. Im Zuge dessen hätte eine differenzierte Ausarbeitung des Transnationalismus-Ansatzes der Arbeit eine zusätzliche Tiefe verliehen, beschreibt die Autorin doch im weiteren Verlauf immer wieder am Rande zirkuläre und reziproke Praktiken in den Migrationsprojekten, wie beispielsweise das Verschicken von Geld und Gütern, die temporäre Rückkehr zur Familie etc.

In der weiteren Darstellung der Erforschung von Migrations- und Grenzregimen wendet sie sich gegen ein „reines Subjekt-Objekt-Verhältnis“ (13) von Migrant_innen und Strukturen der Kontrolle. Mit dieser Perspektive verortet sie ihre Arbeit auf der Grundlage des Konzeptes der „Autonomie der Migration“[3], das die Migration selbst als Akteurin der Geschichte begreift, die neben einer Vielzahl an Akteur_innen an der Konstituierung des Grenzregimes beteiligt ist. Diese theoretische Konzeptualisierung stellt die Grundlage ihrer Arbeit dar, mittels derer Richter ihr empirisches Material aufeinander bezieht und das „beständige[] wechselseitige[] Aufeinander-Reagieren von grenzüberschreitender Mobilität und Überwachungspolitiken“ (14) in den Fokus nehmen kann. Dies setzt sie in Bezug zum Komplex Stadt und Migration, an dem sich ein Regime exemplarisch erforschen lässt. Hier zeigt sie neuere theoretische Punkte auf, die sie sogleich für ihre Arbeit produktiv zu machen weiß. Dies verzahnt sie auch mit Ansätzen einer Anthropologie des Politischen, die im jüngsten Fachkontext zunehmend an Relevanz gewinnen.[4]

Richters Anspruch ist – der „ethnographischen Grenzregimeanalyse“[5] folgend – ein „ganzheitliches Bild des Migrationsregimes in München“ (25) zu zeichnen. Hierzu greift sie auf eine Bandbreite an qualitativen, ethnographischen Methoden und dadurch gewonnenes empirisches Material zurück. Durch die Arbeit ziehen sich insbesondere lange Interviewausschnitte mit Initiativen, Beratungsstellen, städtischen Einrichtungen und anderen Expert_innen. Ergänzend zieht Richter mediale Darstellungen in Bild und Text sowie politische beziehungsweise städtische Veröffentlichungen zum Themenfeld hinzu und ergänzt dies durch situative Beschreibungen und informelle Gespräche mit Obdachlosen.

Gerade Letzteres kommt etwas zu kurz und schwächt die ansonsten dichte, erkenntnisreiche und durchweg überzeugend argumentierende Arbeit ab. Die Fülle an empirischem Material, die den Großteil der Arbeit ausmacht, wäre dadurch um eine wichtige Perspektive erweitert worden. So vermittelt die Arbeit zwar ein differenziertes Bild in der chronologischen beziehungsweise „genealogischen“ Darstellung um die ‚Armutszuwanderung‘, Migrant_innen erscheinen aber meist nur über Fürsprecher_innen vermittelt. Dies hat sicherlich mehrere nachvollziehbare Gründe: Neben der Sprachbarriere erscheint auch der alltägliche Überlebenskampf wichtiger als ein Interview für eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit. Dennoch schafft Richter es, anhand von herausgearbeiteten Kategorien die Problemkomplexe und strukturelle Formen von Ausschluss aufzuzeigen. Dadurch zeichnet sie ein differenziertes Bild, dass den defizitären Blick auf diese Form von Migration nicht reproduziert, sondern strukturelle Problemlagen herausstellt und Diskurse, Stereotype und Negativerzählungen dekonstruiert. Die Herangehensweise einer „chronologischen Genealogie“ (45) ist für das Aufzeigen einer Herausbildung des „Regime[s] der Armutszuwanderung“ (93) mit all den beteiligten Akteur_innen, wechselseitigen Bedingungen und Aushandlungen sowie der tragenden Rolle der Migration selbst äußerst produktiv.

Insgesamt eine gelungene Arbeit, die sich anhand des Regierens von ‚Armutszuwanderung‘ den Ausschlussmechanismen städtischer Politiken widmet und aufzuzeigen vermag, wie sich das europäische Migrationsregime in das Innere des EU-Territoriums und den alltäglichen Raum der Städte verlagert. Die Studie beleuchtet, dass sich trotz Entwicklungen rechtlicher Gleichstellungen in der europäischen Freizügigkeit weiterhin „stratifizierte Rechte“[6], also Unterschiede im Status von Subjekten vorherrschen und die Klassifikation nach Herkunft weiterhin wirkmächtig bleibt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund anderer Migrationen aus dem EU-europäischen Raum – wie beispielsweise im Zuge der Finanzkrise [7] – offensichtlich. Darüber hinaus liegt mit der Studie ein exzellentes Beispiel für eine anwendungsorientierte Umsetzung der häufig abstrakt bleibenden ethnographischen Grenzregimeanalyse vor. Dies basiert mitunter auf dem klar abgesteckten Feldzuschnitt sowie der Auswahl an empirischen Bezugspunkten. Dennoch hätte ein Einbezug von zusätzlichen Stimmen aus der Perspektive der Migration sowie von rassismustheoretischen Ansätzen die Arbeit um weitere Aspekte erweitert.

 

Anmerkungen

[1] Sandro Mezzadra u. Brett Neilson: Grenzen der Gerechtigkeit, differentielle Inklusion und Kämpfe der Grenze. In: Lisa-Marie Heimeshoff, Sabine Hess, Stefanie Kron, Helen Schwenken u. Miriam Trzeciak (Hgg.): Grenzregime II. Migration, Kontrolle, Wissen. Transnationale Perspektiven. Berlin/Hamburg 2014, S. 232–255.

[2] In diesem Kontext sind mittlerweile weitere Arbeiten erschienen. Vgl. Initiative Zivilcourage München: Towards a Workersʽ Center. (Selbst-)Organisierungsversuche von EU-migrantischen Arbeiter*innen in München. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 4 (2016), H. 2/3, S. 113–120; Mathias Fiedler u. Lee Hielscher: Aus den Kreisläufen des „Schweinesystems“. Die Fleischindustrie im Oldenburger Münsterland als Regime von Mobilität und Ausbeutung. In: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 3 (2017). URL: movements-journal.org/issues/04.bewegungen/12.fiedler,hielscher--kreislaeufe-schweinesystem.html [8.3.2019]; Lisa Riedner: Aktivierung durch Ausschluss. Sozial- und migrationspolitische Transformationen unter den Bedingungen der EU-Freizügigkeit. In: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 3 (2017). URL: http//movements-journal.org/issues/04.bewegungen/06.Riedner--aktivierung-durch-ausschluss.html [8.3.2019]; Lisa Riedner: Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration. Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus. Münster 2018.

[3] Sandro Mezzadra: Autonomie der Migration. Kritik und Ausblick. 2010. URL: www.linksnet.de/de/artikel/25757 [11.3.2019].

[4] Johanna Rolshoven u. Ingo Schneider (Hgg.): Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Berlin 2018.

[5] Vassilis Tsianos u. Sabine Hess: Ethnographische Grenzregimeanalyse. Eine Methodologie der Autonomie der Migration. In: Sabine Hess u. Bernd Kasparek (Hgg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin/Hamburg 2010, S. 243–264.

[6] Katrin Mohr: Stratifizierte Rechte und soziale Exklusion von Migranten im Wohlfahrtsstaat. In: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), H. 5, S. 383–398.

[7] Manuel Liebig: Die „Empörten“ in Bewegung. Soziale Proteste in Spanien und ihre Transnationalisierung durch Migration (Berliner Abschlussarbeiten der Europäischen Ethnologie 2). 2018. URL: edoc.hu-berlin.de/handle/18452/19927 [8.3.2019].