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Beate Althammer

Vagabunden. Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815–1933)

Essen 2017, Klartext, 716 Seiten mit Grafiken, Tabellen
Rezensiert von Hubert Kolling
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2019

Das Phänomen ist keineswegs neu und beschäftigt die Menschheit wohl seit Anbeginn bis in die Gegenwart: arme oder von Armut bedrohte Menschen, die ihr angestammtes Zuhause verlassen und ihr Glück in der Fremde suchen. „Was Besseres als den Tod findest du überall“, heißt es bekanntlich schon in dem berühmten Volksmärchen „Die Bremer Stadtmusikanten“, das von den Brüdern Grimm aufgezeichnet und 1819 in ihrer Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ erstmals veröffentlicht wurde.

Als besonders problematisch und daher im Fokus der jeweiligen Obrigkeit stehend beziehungsweise permanenter Strafandrohungen ausgesetzt, galten in Europa spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter soziale Gruppen, in denen sich Armut mit Mobilität verband; Menschen, die mittellos über die Straßen, von Haus zu Haus und von Ort zu Ort wanderten und versuchten, ihren Lebensunterhalt durch Bitten um milde Gaben zu sichern. Obwohl die Historiographie sich mit Bettlern und Vagabunden bisher ganz überwiegend in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kontexten beschäftigte, verschwanden das Betteln und Vagabundieren an der Schwelle zur Moderne keineswegs. Vielmehr erlebten diese Armutsphänomene während der krisenanfälligen Industrialisierung – trotz immer neuer behördlicher Anläufe, das Phänomen administrativ zu unterdrücken – immer neue Konjunkturen, wie Beate Althammer in ihrer beeindruckenden „Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815–1933)“ belegt. Bei der Arbeit, die im DFG-geförderten Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Trier entstand, handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift der Autorin, die im Sommersemester 2016 vom Fachbereich III der Universität Trier angenommen wurde.

Beate Althammer hat sich bereits durch eine Reihe einschlägiger Veröffentlichungen ausgewiesen. Neben zahlreichen Buchbeiträgen ist dabei insbesondere der von ihr herausgegebene umfangreiche Sammelband „Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform“ (Frankfurt am Main 2007) zu nennen, ebenso wie die von ihr zusammen mit Christina Gerstenmeyer erarbeitete, kommentierte und wahrlich fulminante, fast 700 Seiten starke Quellenedition „Bettler und Vaganten in der Neuzeit (1500–1933)“ (Essen 2013), die über 250 einschlägige Dokumente aus der Zeit von 1500 bis 1933 erschließt, von Edikten und Gesetzestexten bis hin zu zeitgenössischen Presseberichten.

Ausgehend von dem im Untersuchungszeitraum (1815–1933) insgesamt sehr lückenhaften Forschungsstand fragt Althammer in der vorliegenden Studie „nach den Erscheinungsformen, Hintergründen und gesellschaftlichen Deutungen von Bettel und Vagabondage in Deutschland vom Ende der napoleonischen Kriege bis zum Vorabend des NS-Regimes“, wobei sie insbesondere „die Kontinuitäten eines alten Phänomens, vor allem aber seine Wandlungen im Übergang zur Moderne“ (16) dezidiert nachzeichnet. Der Fokus ihrer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Thema liegt dabei nicht auf einer ökonomisch rückständigen Region, sondern im Gegenteil auf der relativ wohlhabenden preußischen Rheinprovinz, die in Teilen eine frühe und rapide Industrialisierung erlebte, was dynamische Migrationsbewegungen auslöste. „Ziel ist eine Geschichte der Vagabondage im Industriezeitalter, die einerseits exemplarisch soziale Praktiken und alltägliche Erfahrungen auf der Mikroebene rekonstruiert, andererseits danach fragt, wie gesellschaftliche Diskurse dieses Phänomen imaginierten und welche Funktionen ihm zukamen, wenn es um die Definition von Hilfsbedürftigkeit und Wohlfahrt, von Recht und Ordnung, von Freizügigkeit und ihren Grenzen ging.“ (16)

Neben Archivalien, etwa aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, dem Bundesarchiv Berlin, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin Dahlem, dem Landeshauptarchiv Koblenz und den Stadtarchiven Aachen, Duisburg, Düsseldorf und Trier, stützt sich die Autorin in ihrer Darstellung auf zeitgenössische Veröffentlichungen, darunter auch Zeitungen, Jahresberichte und amtliche Publikationsreihen. In Ermangelung von Gerichtsakten des 19. Jahrhunderts, da im rheinischen Rechtsraum im besagten Zeitraum zumeist nur mündlich verhandelt wurde, kommt dabei dem umfangreichen Verwaltungsschriftgut der Kommunen, Bezirksregierungen, des rheinischen Oberpräsidiums und der rheinischen Provinzialverwaltung, preußischen Ministerien und Reichsinstanzen eine große Bedeutung zu, indem es neben allgemeinen Instruktionen, Lageerörterungen und statistisch auswertbaren Daten auch immer wieder Materialien zu Einzelfällen enthält, einschließlich Egodokumenten wie Gesuche und Beschwerden der von behördlichen Maßnahmen Betroffenen.

Unter Rückgriff „auf dieses lückenhafte und heterogene, aufgrund seines Umfangs aber letztlich doch nur selektiv auswertbare Quellenmaterial“ (39) hat Beate Althammer ihre Arbeit in zehn große, „grob chronologisch und zugleich nach thematischen Gesichtspunkten“ angeordnete Kapitel gegliedert. Nach der „Einleitung“ (11–42), unter anderem mit einem Überblick zu Thema und Forschungsstand sowie zentralen Begriffen und theoretischen Konzepten, umreißt Kapitel 2 „Die Rechtsordnung“ (43–86) zunächst die Entwicklung des rechtlichen Rahmens von der Epochenschwelle um 1800 bis zur Reichsgründung von 1871, als er seine für die nächsten 60 Jahre bestimmende Form erhielt, wobei die Autorin insbesondere danach fragt, welche Position die Delikte Bettelei und Landstreicherei im Entstehungsprozess des modernen Strafrechtssystems einnahmen und in welcher Relation sie zur Armengesetzgebung standen.

Während Kapitel 3 „Armendisziplinierung zur Zeit des Pauperismus“ (87–179) den Umgang mit Armut, Bettelei und Vagabondage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand von drei Fallstudien – der frühindustriellen Fabrikstadt Aachen, des kleineren Bezirkszentrums Trier und der ländlichen Bürgermeisterei Kastellaun im Hunsrück – analysiert, untersucht Kapitel 4 „Gründerkrise und Vagabundenfrage“ (180–247) die Folgen der Gründerkrise, die nach zwei Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs wieder massive Notlagen hervorbrachte. Nach einem kurzen Blick auf die Historiographie zu diesem bislang mangelhaft erforschten Konjunktureinbruch stellt Beate Althammer die nationale Debatte um die „Vagabundenfrage“ vor, die sich in Deutschland um 1880 entfaltete.

Im Anschluss an Kapitel 5 „Die Arbeitsanstalt“ (248–358), in dessen Mittelpunkt die Entwicklung der rheinischen Arbeitsanstalt Brauweiler und ihrer Insassen von der Gründung unter Napoleon bis in die Weimarer Zeit steht, thematisiert Kapitel 6 „Die Ausweisung“ (359–445) diverse Abwehrinstrumente nach der Reichsgründung. Wenngleich aufgrund verschiedener Faktoren wie etwa zwischenstaatliche Verträge dazu beitrugen, dass die Ausweisung unerwünschter Personen im 19. Jahrhundert nicht mehr ohne Weiteres möglich war, blieb sie, so die Autorin, insbesondere gegenüber Armen, Bettlern und Landstreichern in diversen Varianten zulässig – auf lokaler, einzelstaatlicher und auf Reichsebene.

Nachdem sich Kapitel 7 „Offensiven der Wohltätigkeit“ (446–513) mit den Anfängen der „Wandererfürsorge“ (Friedrich von Bodelschwingh der Ältere) auf nationaler Ebene und sodann mit deren Ausprägung bei ihren rheinischen Ablegern auseinandersetzt, geht Kapitel 8 „Auf der Suche nach dem wahren Vagabunden: Neue Blicke um 1900“ (514–575) dem Wandel der kollektiven Repräsentationen des Vagabunden um die Jahrhundertwende nach, wobei nicht nur die beiden Psychiater Karl Bonhoeffer (1868–1948) und Karl Wilmanns (1873–1945), sondern auch der amerikanische Journalist Josiah Flynt (1869–1907) und der Kulturhistoriker Hans Ostwald (1873–1940) ausführlich zu Wort kommen.

Wie Beate Althammer in Kapitel 9 „Reformströmungen des frühen 20. Jahrhunderts“ (576–639) zeigt, kreuzten sich in den seit der Jahrhundertwende geführten Debatten um Bettelei und Wanderarmut „Zielvisionen, die von einer umfassenden inklusiven Arbeitsmarktpolitik bis hin zur exkludierenden Dauerinternierung von ‚Asozialen‘ reichten“.

In Kapitel 10 „Schluss“ (640–654) weist die Autorin zunächst darauf hin, dass „der Dualismus von strafenden und fürsorgenden Ansätzen“ die Geschichte des Kampfs gegen Bettel und Vagabondage seit dem Mittelalter durchzieht: „Der Aufbau einer organisierten Armenpflege und strafbewehrte Verbote stellten über Jahrhunderte zwei Seiten derselben Medaille dar, und mit dem Arbeitshaus kam in der Frühen Neuzeit ein Instrument von hoher Symbolkraft hinzu, das den Dualismus durch den Besserungsgedanken quasi sublimierte.“ (644)

Und wer waren nun die Bettler, Vagabunden und Wanderarmen, über die Behörden und Experten sich fortlaufend den Kopf zerbrachen? Aufgrund ihrer Studie kann nach Ansicht von Beate Althammer „von einer festen Randgruppe nicht die Rede sein. Zwar gab es immer Menschen, die dauerhaft von Almosen lebten und/oder keinen festen Wohnsitz hatten. Doch jenseits solch permanenter Fälle, die dem Klischee des Gewohnheitsbettlers oder Tippelbruders entsprachen, waren die Vagabunden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein hochgradig vielgestaltiges und wandelbares Phänomen. Das Gabenbitten und Wandern waren Verhaltensweisen, zu denen ganz unterschiedliche Typen griffen: Ortsarme, Handwerksburschen, Arbeitslose, jugendliche Herumtreiber, abenteuerlustige Reisende.“ (650)

Das vorerst endgültige Ende der „Vagabunden“ sei unterdessen erst mit dem präzedenzlosen Wohlstandsgewinn und der Massenmotorisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekommen. „In den Städten europäischer Wohlfahrtsstaaten gab und gibt es zwar weiterhin Obdachlose und Straßenbettler“, so die Autorin. „Aber das Wandern Mittelloser von Tür zu Tür und von Ort zu Ort hat praktisch vollständig aufgehört. Endlich, so scheint es, hat sich ein jahrhundertealter Traum der Sozialpolitik erfüllt. Dass dies dauerhaft so bleiben wird, ist nicht garantiert.“ (654)

Mit ihrer ungemein detailreichen und quellengesättigten Studie, die durch einen „Anhang“ (656–716) mit Verzeichnis der Abkürzungen, Tabellen und Grafiken, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Orts- und Personenregister ergänzt wird, hat Beate Althammer Maßstäbe gesetzt, indem es ihr vortrefflich gelungen ist, die Geschichte des Bettelns und der Vagabondage im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowohl auf der Mikroebene alltäglicher Erfahrungen (mit einem geographischen Fokus auf die preußische Rheinprovinz) als auch auf der Makroebene gesellschaftlicher Reformdebatten eindrucksvoll zu rekonstruieren. An dem in jeder Beziehung beeindruckenden Buch, das über einen profunden Anmerkungsapparat mit rund 1400 Fußnoten verfügt, als Standardwerk werden künftige Untersuchungen nicht vorbeikommen.