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Julia Mandry
Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300–1600)
(Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 10), Wien/Köln/Weimar 2018, Böhlau, 1052 Seiten mit 58 Abbildungen, zum Teil farbig, 5 KartenRezensiert von Hubert Kolling
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2019
In dem Maße, wie sich die Schere zwischen arm und reich ständig weiter auseinander bewegt, steht die heutige Sozialpolitik vor immer neuen Herausforderungen. Das Phänomen Armut und die damit etwa verbundene Versorgung der kranken und alten Bevölkerung ist unterdessen nicht neu, wie Julia Mandry in ihrem vorliegenden Buch anhand der öffentlichen Armenfürsorge im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Thüringen eindrucksvoll nachgezeichnet hat. Der mit über 1 000 Seiten sehr umfangreichen Veröffentlichung, die als Band 10 der Reihe „Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation“ erscheint, liegt die Dissertation der Autorin zugrunde, die sie von Oktober 2013 bis Ende 2017 als Stipendiatin des Projekts „Thüringen im Jahrhundert der Reformation“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena verfasste und die im April 2018 von der dortigen Philosophischen Fakultät angenommen wurde.
Einleitend verweist Mandry, die ihre Magisterarbeit über „Die Stiftungen für das Erfurter Predigerkloster von den Anfängen des Klosterbaus bis zur Reformation“ (Jena 2011) schrieb, darauf, dass in bisherigen Abhandlungen zur Armenfürsorge Thüringen „als ein Kernland der Reformation“ (20) nur am Rande einbezogen wurde beziehungsweise bisher noch keine „flächendeckenden Betrachtungen, die sich mit der Armenfürsorge im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Thüringen beschäftigen“, erschienen seien und die lokalgeschichtliche Literatur lediglich „eine zumeist dünne Forschungsbasis“ (22) lege. Davon ausgehend, dass der Einfluss der Reformation zu relativieren und längerfristig städtische Entwicklungen stärker zu berücksichtigen seien, hat sie in ihren Untersuchungsfokus die Kontinuitäts- und Entwicklungslinien sowie Wandlungsimpulse von Armenfürsorge, Hospitalwesen und Bettelentwicklung in Thüringen vom 14. bis 16. Jahrhundert gerückt. Die Wahl des Untersuchungszeitraums wurde dabei durch den Wunsch bedingt, „den Beginn des obrigkeitlichen Regulierungsprozesses einzufangen sowie die reformatorischen Einflüsse langfristig nachzuverfolgen“, während der Schlusspunkt der Arbeit „aus pragmatischen Gründen auf das Ende des Reformationsjahrhunderts“ (23) gesetzt wurde.
Gestützt auf die Auswertung von gedruckten und hauptsächlich handschriftlichen Archivmaterialien, darunter die relevanten Bestände von acht Staatsarchiven, 13 Stadtarchiven sowie acht Kirchen- und Kreisarchiven, die durch eine Analyse ausgewählter künstlerischer Armen- und Bettlerdarstellungen ergänzt werden (24), richtet die Autorin ihren Blick auf Entwicklungs- und Wandlungsprozesse, wobei sie als thematische Schwerpunkte „rechtliche Bestimmungen und obrigkeitliche Ordnungsmaßnahmen, die Fürsorgepraxis von Stadträten und Gemeinen Kästen, großangelegte Spenden bzw. Armenstiftungen, den Schutz und die Versorgung hilfsbedürftiger Kinder und Behinderter, die Hospitalstrukturen, Integrations- und Ausgrenzungstendenzen sowie das kriminelle Bettelmilieu“ benennt (25).
Um die Kontinuitäten und Veränderungen in Hinblick auf die Reformation aufzuzeigen, geht Mandry unter anderem der Frage nach, „seit wann und wie thüringische Herrschaftsträger und vornehmlich städtische Obrigkeiten auf die Armen und Bettelnden reagierten und von welchen Sichtweisen, Motiven und Umgangstönen die zwischenmenschlichen Beziehungen und Kontakte geprägt waren. Untersucht werden die Relationen von Nächstenliebe und Pflichtgefühl, Reglementierung und Kontrolle, Unterstützung und Stigmatisierung, Integration und Ausgrenzung sowie moralischer, sozialer und rechtlicher Konformität und Nonkonformität.“ (28) Darüber hinaus wendet sie sich der Rechtssetzung, den Strukturen und Praktiken des Almosenwesens, der Findel- und Waisenkindbetreuung, den Hospitälern und Siechenhäusern sowie den im Reformationszeitalter allerorts eingerichteten Gemeinen Kästen zu: „Ziel ist es, ein repräsentatives Bild über Wandlungsprozesse, Anlaufpunkte und Möglichkeiten, Personal und Organisation sowie Handlungsfähigkeit und Probleme des thüringischen Armenwesens entstehen zu lassen.“ (32)
Nach einer ausführlichen Einleitung (15–32) gliedert sich die Arbeit in elf weitere Kapitel. An das zweite und dritte Kapitel „Armut“ (33–56) und „Armenfürsorge“ (57–109), in denen die Autorin unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes zunächst eine allgemeine und grundsätzliche Einordnung von Begriffen, Organisationsweisen und Institutionen bietet, schließen sich sieben Kapitel an mit Detailstudien zu ausgewählten Städten: „Reichsstadt Nordhausen“ (111–172), „Reichsstadt Mühlhausen“ (173–278), „Das Mainzische Erfurt“ (279–378), „Die ernestinische Stadt Altenburg“ (379–450), „Die albertinische Stadt (Langen-)Salza“ (451–490), „Arnstadt und die Schwarzburger“ (491–530), „Greiz und die Reußen“ (531–548). Die besagten Kapitel zeigen dabei einen ähnlichen Aufbau, indem zunächst die Armenfürsorge in vorreformatorischer Zeit zusammengefasst wird, bevor dann Einblicke in verschiedene Institutionen des nachreformatorischen Armenwesens folgen einschließlich der Darlegung rechtlicher Bestimmungen und obrigkeitlicher Ordnungsmaßnahmen sowie die konkreten Instrumente der Armenfürsorge, wie beispielsweise die Praxis des Gemeinen Kastens oder die Hospitäler und Siechenhäuser der betrachteten Orte.
Das elfte Kapitel „Aspekte der Armenfürsorge in Thüringer Städten und Landgebieten“ (549–770) führt die dargelegten Einzelfälle zusammen und ergänzt diese durch weitere Orte samt einer vergleichenden Analyse der Versorgungsstrukturen. Vorgestellt werden dabei auch Befunde zur Volksgruppe der Sinti und Roma, ebenso wie künstlerische Armutsdarstellungen in Thüringen, wobei 80 Darstellungen in den Bereichen Skulptur, Plastik, Relief, Siegelbild, Skizze, Holzschnitt, Buch-, Tafel-, Wand-, Decken- und Glasmalerei, Intarsie, Glocken- sowie Kelchverzierung erfasst wurden.
Wie Mandry im zwölften Kapitel „Schlussbetrachtung“ (771–783) festhält, ist die Geschichte der Armenfürsorge in Thüringen „von Kontinuität geprägt, wenngleich deren enge gesellschaftliche Verknüpfung zur Rezeption von moralischen und religiösen Wandlungen führte. Von integrierten Gesellschaftsmitgliedern wurden die Armen und Bettler durch die kommunalen wie moralischen Entwicklungen des Spätmittelalters und des 16. Jahrhunderts zu einer nach den Kriterien der Bedürftigkeit wahrgenommenen, separaten Bevölkerungsgruppe mit unterschiedlichen Bewertungsstufen.“ Als wesentliche Triebkräfte hält sie dabei auch für Thüringen „die Prozesse der Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und disziplinierenden Pädagogisierung“ (771) fest. Zusätzlich habe die körperliche Arbeit wie der persönliche Fleiß eine deutlich größere Wertschätzung erfahren und sei nach und nach neben anderen Moralvorstellungen – wie Ehrlichkeit, Sparsamkeit oder Gottesfurcht – zur allgemeinen Lebensmaxime geworden. Untätigkeit sei entsprechend mit Argwohn und zunehmender Ablehnung betrachtet worden.
In Hinblick auf das reformatorische Gedankengut Martin Luthers konstatiert die Autorin für Thüringen, „dass die Reformation keinen Umbruch oder gar Neuanfang der Armenfürsorge darstellt“ (772). „Als neues Element“ sei „im Zuge der Reformation und durch deren strukturelle und finanzielle Einwirkungen auf die kirchlichen Finanzen [...] der Gemeine Kasten flächendeckend in Thüringen in der Stadt und auf dem Land eingeführt“ worden (722).
Hinsichtlich der Spital- und Siechenanstalten, die – wie die Gemeinen Kästen auf dem Land – von der historischen Forschung bisher nicht gebührend zur Kenntnis genommen wurden, konnte Mandry nachweisen, dass in Thüringen „ein beachtliches Netz an Einrichtungen bestand“ (776). Dabei verfügten 135 Standorte über eine oder mehrere Versorgungsanstalten, von denen 56 in ländlichen Gemeinden zu verorten sind. Insgesamt könne „von weit über 200 Spitalanstalten im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Thüringen ausgegangen werden, die ein dichtes Versorgungsnetz bildeten und Stadt- wie Landbewohnern nahegelegene oder direkt zuständige Unterbringungs- und Fürsorgemöglichkeiten anboten“ (777). Auch ohne eine zentrale Verwaltungsstruktur im Sinne von Landeshospitälern seien feste Einzugsgebiete abgedeckt und fehlende Kapazitäten vor Ort durch benachbarte Anstalten abgefedert worden. Der thüringische Hospitalalltag sei unterdessen auch im 16. Jahrhundert maßgeblich religiös geprägt gewesen, während eine medizinische Betreuung der Insassen zur Genesung nicht im Fokus stand. Die Hospitaliten wurden mit Nahrung und einem sauberen Umfeld versorgt, erhielten Bäder und wurden im Krankheitsfalle gewartet sowie im Sterben begleitet.
Die Zahl der Hilfsbedürftigen und Unterstützungsnachsuchenden auf Wanderschaft war laut der Autorin „ausgesprochen groß und vielfältig“. Erwerbslose, Arbeitsunfähige, Dienstsuchende, wandernde Handwerker, von Unglücksfällen Beschädigte und zwielichtige Gestalten hätten dabei „gemeinsam eine nicht zu überschauende Masse an Bittstellern“ gebildet. Der Bettel als Maßnahme zur Lebenserhaltung und ‑finanzierung habe in Thüringen nicht unterbunden werden können und auch während des 16. Jahrhunderts „eine lukrative Alternative für Arbeitsfähige wie erzwungene Überlebensmaßnahme für Unterversorgte und Ausgegrenzte“ (778) dargestellt.
Ergänzt wird die knapp 800 Seiten umfassende Darlegung, die über einen soliden Anmerkungsapparat mit über 3 300 Anmerkungen verfügt, durch einen sehr umfangreichen Anhang mit Tabellen (784–823), Katalogen der Visitationsergebnisse (824–867), der städtischen Hospitäler (868–877) und ländlichen Hospitalstandorte (878–882), einen Personenkatalog des kriminellen Bettlermilieus in Thüringen von 1488–1599 (883–898), Abbildungs- und Kartenteil (899–944) mit 58 Schwarzweiß- und Farbabbildungen künstlerischer Darstellungen von Bedürftigen und Bettlern, ebenso wie fünf Karten, auf denen die ländlichen und städtischen Standorte mit verschiedenen Einrichtungen der Armenfürsorge im Thüringer Raum veranschaulicht sind, ein Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis (945–948), Quellenverzeichnis (949–981), Literaturverzeichnis (982–1041) sowie ein Ortsregister (1041–1052).
Insgesamt betrachtet bietet die vorliegende Studie von Julia Mandry ein repräsentatives und umfassendes Bild des thüringischen Armen-, Hospital- und Bettelwesens, das tiefe Einblicke in die Lebensverhältnisse der Armen in Spätmittelalter und Reformation ermöglicht. Nachgezeichnet werden nicht nur die Facetten der Armenfürsorge, sondern auch diejenigen der Erfolge und Misserfolge sowie die Vielfalt der Bedürftigen und Bettler. Die Rolle und der Einfluss der Reformation auf das Fürsorgewesen nehmen dabei in der Gesamtbetrachtung von vier Jahrhunderten und multiplen Fürsorgeinstitutionen wie ‑anlaufpunkten eine wichtige, wenngleich keine alles andere überragende Position ein. Das mit über 1,5 kg im doppelten Sinne schwergewichtige Buch bietet eine unglaubliche Menge an Informationen, die künftig lokal- und regionalhistorische Studien bereichern dürften. Wenngleich die Drucklegung „großzügig finanziell“ durch die Thüringer Staatskanzlei gefördert wurde, dürfte der stolze Preis von 125 Euro die Käuferschaft allerdings abschrecken beziehungsweise in engen Grenzen halten.
Eine ganz andere Frage stellt sich dem Rezensenten unterdessen, ob so umfangreiche Arbeiten wie die vorliegende den Maßstab für (kultur-historische) Dissertationen nicht längst gesprengt haben. Dabei geht es nicht nur um den Vergleich mit anderen Fachbereichen, in denen Dissertationen – schon fast inflationär – vergeben und binnen eines halben Jahres geschrieben werden können, sondern auch um die gesellschaftliche Anerkennung, die Berufsaussichten und nicht zuletzt die damit verbundene, höchst unterschiedliche Bezahlung, die keineswegs mehr in Relation zueinander stehen. Betrachtet man sich den Inhalt, und dabei insbesondere die sieben integrierten Detailstudien zu den ausgewählten Städten der vorliegenden, über einen Zeitraum von mehreren Jahren gefertigten Arbeit näher, hätte er locker den Stoff für mehrere Bachelor- und Masterarbeiten abgegeben. Immerhin, ein kleiner Trost, konnte die Autorin ihre Arbeit im Rahmen eines Stipendiums verfassen.