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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Ute Holfelder/Klaus Schönberger/Thomas Hengartner/Christoph Schenker (Hg.)

Kunst und Ethnografie – zwischen Kooperation und Ko-Produktion? Anziehung – Abstossung – Verwicklung: Epistemische und methodologische Perspektiven

(Kulturwissenschaftliche Technikforschung 7), Zürich 2018, Chronos, 196 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Christiane Heibach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 19.08.2019

Künstlerische Forschung – ist das nicht eine contradictio in adjecto? Widerspricht nicht eine forschende Absicht der seit Ende des 18. Jahrhunderts hart erkämpften und verteidigten Autonomie der Künste, die sich jeder extraästhetischen Instrumentalisierung erwehren? Und steht nicht das Adjektiv „künstlerisch“ im Gegensatz zum Prinzip der Intersubjektivität und Nachvollziehbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse? Kurz: Prallen hier nicht völlig unterschiedliche Erkenntnissysteme aufeinander? Ja, das tun sie – das zumindest ist die Antwort des Sammelbandes „Kunst und Ethnografie – zwischen Kooperation und Ko-Produktion?“, der das Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft auslotet. Doch genau diese Spannung ist auch der Boden, auf dem neue Erkenntnisse über Alltagspraktiken gewonnen werden können; Praktiken, die ohne die Verbindung von künstlerischem und wissenschaftlichem Zugang möglicherweise so nicht erforscht werden könnten – auch das ist eine Kernaussage des Bandes und vor allem seiner vorgestellten Beispiele. So wird, wie es in der Einleitung heißt, im aktuellen Diskurs um künstlerische Forschung den Künsten die Kompetenz zugeschrieben, durch ihren sinnlichen, interaktionsintensiven und mehrdeutigen Zugang zu Phänomenen unter anderem „implizites Wissen evident zu machen“ und „emotionale und ästhetische Wissensbestände zu aktivieren“ sowie „Reflexionen anzuregen und Handlungen zu provozieren“ (8, mit Rekurs auf Dieter Mersch, Gabriele Klein und Christoph Schenker). Die Wissenschaften liefern idealerweise das entsprechende methodische Instrumentarium, das zur Datenerhebung und ‑interpretation dient. Dass dabei die Ethnografie in den Mittelpunkt rückt, kommt nicht von ungefähr: Sie weist in mehrfacher Hinsicht eine Überschneidung mit künstlerischen Herangehensweisen auf, wenn sie darauf abzielt, mittels Interviews Implizites aufzudecken und in der teilnehmenden Beobachtung die Forscher_innen zum sich beständig selbst reflektierenden Part des Forschungsprozesses werden zu lassen (10 f.).

Das Explizitwerden von implizitem Wissen und verborgenen Handlungsmotivationen sowie die Reflexion des eigenen Tuns verbinden also ästhetische Verfahren und Ethnografie, allerdings trennen sie unterschiedliche soziale, kommunikative und institutionelle Rahmungen (12 f.) – das Selbstverständnis von Künstler_innen und Wissenschaftler_innen driftet in mehrfacher Hinsicht zwangsläufig auseinander: Kunst darf mehrdeutig sein und ihren Entstehungsprozess verbergen, die Wissenschaften dagegen sind zur Eindeutigkeit ihrer Aussagen und zur größtmöglichen Transparenz ihrer Arbeit verpflichtet. Die institutionellen Ansprüche an Kunst und Wissenschaft tragen das ihrige zu diesen Grenzziehungen bei.

Diese Problemfelder, die die Einleitung schon auf wenigen Seiten sehr klar benennt, greifen die einzelnen Beiträge unter unterschiedlichen Voraussetzungen auf: teils aus einer Reflexion der methodischen Verflechtungen von Kunst und Ethnografie, die schon seit den 1920er Jahren beobachtet werden kann (vgl. die Beiträge von Judith Laister und Michael Annoff, die eine historische und synchrone Bestandsaufnahme der Verflechtungen zwischen Kunst und Ethnographie bieten und die übrigen Beiträge rahmen), teils anhand konkreter Projekte. So geht die Initiative zu der Publikation aus einem vom Schweizer Nationalfonds (SNF) geförderten Projekt zu Handyvideos von Jugendlichen hervor. Vier der neun Beiträge bewegen sich daher im direkten oder indirekten Umfeld dieses Projekts. Dabei werden zunächst die theoretischen Prämissen, Überlegungen und Schlussfolgerungen aus dem transdisziplinären Forschungsdesign dargelegt (Katharina Eisch-Angus, Christian Ritter), die durchaus verallgemeinerbaren Charakter haben und sich in die große Diskussion um die Bedingungen ethnografischer Forschung einordnen lassen. Denn es zeigt sich, dass bestimmte Diskursmotive immer wiederkehren, so zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis von Beschreibung und Konstruktion, die Motive der Diskussion um die „Writing Culture“ aufgreift, oder diejenige nach der medialen Verfasstheit der Forschung (visuell/textbasiert) und deren unterschiedlichen Funktionen. Genauso geht es immer wieder um den Status der teilnehmenden Beobachtung zwischen Subjektivität und Intersubjektivität – eine Frage, die sich im Verbund mit künstlerischer Arbeit nochmals potenziert (vgl. Katharina Eisch-Angus, 43). Gerade diese Uneindeutigkeiten zwingen zu hoher Selbstreflexivität bei der Darlegung des eigenen Vorgehens und der Kommunikation mit den Künstlern (vgl. den Text von Christian Ritter). Konkretisiert werden die Probleme in den projektbezogenen Beiträgen: So schildert Ute Holfelder das Forschungsdesign des Handyvideoprojekts, während Tine Nowak sich in die klassische Beobachterinnen-Position begibt und die künstlerische Arbeit mit dem Handyvideoarchiv anhand einer Ausstellung näher unter die Lupe nimmt. Darüber hinaus werden noch drei weitere Projekte vorgestellt: eine Studie über die Arbeit im Zürcher Zoo mit Fokus auf die Frage, welche Interaktionen hinter den „Zookulissen“ zwischen Menschen und Tieren stattfinden (Priska Gisler); ein Archivprojekt, das den Nachlass von Serge Stauffer, dem Gründer der F+F-Schule für Kunst und Design in Zürich, untersucht (Michael Hiltbrunner) sowie ein künstlerisches Projekt, das sich mit der Geschichte von österreichischen Vereinen im Nationalsozialismus befasst und zu dem der Künstler eine Historikerin und Kunstvermittlerin hinzuzog (Karin Schneider). Letzteres ist insofern bemerkenswert, weil zumeist die Wissenschaftler die Mitarbeit von Künstlern suchen, nicht umgekehrt.

Die Projekte sind gut ausgewählt, denn jedes für sich weist eine andere, für die Problematik künstlerischer Forschung aber durchaus charakteristische Anlage auf. Bei der Nutzung von Handyvideos durch Jugendliche geht es beispielsweise darum, ein entsprechendes Archiv zu erschließen und rückzubinden an die expliziten und impliziten Bewertungen und damit auch an die konkreten Praktiken der Jugendlichen im Umgang mit den spontan erstellten Videoclips. Die Künstlerinnen, die das Archiv angelegt haben, interessiert dagegen vielmehr die spezifische Ästhetik vor allem des Visuellen – eine direkte Verschränkung der ethnografischen und der ästhetischen Perspektive ist hier nicht zu beobachten. Diese erfolgt erst durch die Konfrontation der Jugendlichen mit der ästhetischen Verfremdung ihrer Filme, denn diese Erfahrung regt sie zur Reflexion ihres Tuns an, das sie zuvor nur als nicht-ästhetische ad hoc-Kommunikation aufgefasst hatten (Holfelder, 89 f.). Priska Gisler sieht in ihrem Projekt „Wir sind im Winterschlaf!“, das die Mensch-Tier-Beziehung hinter den Kulissen des Zürcher Zoos erkunden will, eine ähnliche Problematik des Auseinanderdriftens ethnografischer und künstlerischer Herangehensweisen: Während sich die Wissenschaftlerinnen mit der Erhebung und Sichtung des teils chaotischen Interview- und Aufzeichnungsmaterials herumschlugen, pickte sich die Künstlerin nach ganz anderen Kriterien das heraus, was sie am besten ästhetisch verarbeiten konnte. Ihre ästhetische Transformation zeigte dann sehr individuelle Aspekte des komplexen Mensch-Tier-Verhältnisses, während die beteiligten Soziologinnen nach Prozessmustern suchten, die den Zoo ganz allgemein als Heterotopie und Hybridort des Zusammentreffens von Mensch und Tier erklären sollten. Ganz anders wiederum das Projekt von Tal Adler, der österreichische Vereine mit dem Wunsch, sie fotografieren zu wollen, anschrieb; dahinter stand jedoch die nur angedeutete Absicht zu erkunden, wie diese sich zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit verhielten. Aus der Kommunikation mit den antwortenden Vereinen entwickelte sich eine hochkomplexe Interaktionsdynamik, die von der Historikerin, einer Spezialistin für Vereinsgeschichte, begleitet wurde. Die teils mehrjährig andauernden Ver- und Aushandlungen führten unter anderem dazu, dass die Wiener Philharmoniker die Zusammenarbeit schließlich ablehnten, während der Österreichische Alpinverein sich seiner unrühmlichen Vergangenheit – schon 1924 wurde der Ausschluss der jüdischen Mitglieder beschlossen – stellte und das Projekt unterstützte. Kunst wurde hier zum Katalysator für Prozesse der Vergangenheitsbewältigung. Von wiederum anderer Natur ist das Projekt der Erschließung des Archivs von F+F-Gründer Serge Stauffer, bei dem es vor allem darum geht, das dahinterstehende Verständnis von Kunst und Forschung aus einem Wust von Dokumenten zu erschließen. Dieses in seiner spezifischen Verflechtung von Theorie und pädagogischer Praxis zu rekonstruieren, erweist sich dabei als Herausforderung, weil unklar ist und bleibt, was in diesem Fall eigentlich als künstlerische Forschung zu gelten hat beziehungsweise als solche aufgefasst werden kann.

Künstlerische Forschung ist also ein weites und nach wie vor schwach definiertes Feld, das als transdisziplinäres Unterfangen vorerst noch ein Nischendasein führt. Der vorliegende Band aber zeigt, welche Potentiale in ihr stecken: Die Unterbestimmtheit des Forschungsdesigns, die den Projekten zu eigen ist, fordert alle Beteiligten heraus, sich beständig selbst zu reflektieren. Gerade das dem künstlerischen Forschen innewohnende Unwägbare, das Experimentelle, oder, um es mit Claude Lévy-Strauss zu sagen, das „wilde Denken“, führt zu einem sehr selbstkritischen Blick auf das eigene Tun, ein Blick, der jedoch nicht lähmt, sondern ausgesprochen produktiv sein kann. Denn genauer betrachtet steht die künstlerische Forschung zwar auf den Schultern der Science and Technology Studies und der damit verbundenen Actor Network Theory, sie erweitert jedoch deren Blick auf komplexere Konstellationen, die nicht mehr durch Laborgrenzen definiert sind. Gerade das Nicht-Standardisierte in der Methodik und in der Kommunikation mit den Beteiligten ist das Spannende an solchen Unterfangen. Umso mehr bedürfen solche Projekte nicht nur der Offenheit der Beteiligten (und es ist kein Wunder, dass die Brutstätte künstlerischer Forschung in den Kunsthochschulen liegt), sondern auch entsprechender institutioneller Förderung. Das dürfte übrigens erklären, warum kein deutsches Projekt vertreten ist: Bei den großen deutschen Fördergesellschaften ist bisher noch keine Akzeptanz einer solchen zwar riskanten, aber auch im Fall des Scheiterns erkenntnisreichen Hybridforschung vorhanden. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass ein solcher Band wie der vorliegende die Probleme, aber auch die Potentiale künstlerischer Forschung sehr differenziert benennt. Es werden keine idealisierten potemkinschen Dörfer aufgebaut, sondern gerade durch die Benennung der Probleme unterstrichen, wie komplex transdisziplinäre Forschung ist – allerdings sprechen hier nur die wissenschaftlich Beteiligten. Und die Projektbeispiele, die sich alle durch großen Aktualitätsbezug auszeichnen (Handynutzung, Mensch-Tier-Beziehung, Sichtung eines Archivs, das zwischen Kunst und institutionalisierter Pädagogik angesiedelt ist, Vergangenheitsaufarbeitung von Heimatvereinen) stellen letztlich „Best-Practice“-Beispiele dar, ohne dies für sich zu beanspruchen. Wer also Inspiration und Ermutigung benötigt, neue gedankliche Wege in seiner Wissenschaft zu gehen, dem sei dieser Band sehr ans Herz gelegt.