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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Elke Kollar

Aufbruch in die Moderne. Nürnberger Geschäftsbriefe im 19. Jahrhundert

(Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 74), Nürnberg 2016, Ph. C. W. Schmidt, 703 Seiten mit 53 Abbildungen
Rezensiert von Cornelia Oelwein
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2019

Die Kultur des Verfassens privater Briefe war und ist einem Wandel unterworfen. In ganz besonderer Weise trifft dies jedoch für Geschäftsbriefe im 19. Jahrhundert zu. Mit der Industrialisierung bildeten sich neue wirtschaftliche Geschäftsformen heraus; der Umfang der Korrespondenzen stieg enorm an. Als einzige Kommunikationsform (neben dem persönlichen Gespräch) kam den Briefen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Wie im persönlichen Gespräch versuchte man schriftlich einen besonders günstigen Eindruck zu vermitteln: durch eine schöne Handschrift, die Wahl der Worte und des Satzbaus sowie einen logischen Aufbau der Gedanken. Zunehmend rückte auch die graphische Ausgestaltung in den Vordergrund, begünstigt durch neue Drucktechniken, allen voran der Lithographie. Das neue Selbstbewusstsein der Unternehmer spiegelte sich in der Gestaltung von Geschäftsbriefen wider. Brief- und Rechnungsköpfe mit Fabrikanlagen, rauchenden Schloten und Eisenbahnanschluss sowie in späterer Zeit auch die Abbildung von Automobilen sollen die Leistungsfähigkeit der einzelnen Betriebe ebenso verdeutlichen wie die Darstellung der stattlichen Kontorhäuser und prachtvollen Fabrikantenvillen in barocken Gartenanlagen. Die Abbildungen von verliehenen Medaillen und die Nennung von Auszeichnungen bezeugten die Qualität ihrer Produkte. Vereinzelt wurde auch mit der Abbildung der Produkte, etwa derjenigen der „Nürnberger Schrauben-Fabrik und Façon-Dreherei“ oder den Küchengeräten der Firma „Gebrüder Bing“, geworben, während die „Schwan-Bleistift-Fabrik“ oder die „Kohlen- und Kokes-Grosshandlung Christoph Teufel“ mit der Darstellung eines Schwans beziehungsweise eines schreibenden Teufels auf sich aufmerksam machen wollten.

Bisher war das Medium Geschäftsbrief nur sehr unzureichend betrachtet worden. Briefe als kostbare Autographen, als philatelistische Objekte oder als historische Dokumente waren immer wieder in Ausstellungen oder speziellen Publikationen zu finden. Vereinzelte regionale Untersuchungen konzentrierten sich vorwiegend auf den topographischen Aspekt der Briefköpfe. Elke Kollar dagegen untersuchte im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes die Entwicklung des Mediums Geschäftsbrief anhand von Nürnberger Beispielen im historischen Kontext. Ausgangspunkt war eine textanalytische Untersuchung konkreter Briefe, geleitet von der These, dass das 19. Jahrhundert in der historischen Entwicklung des Geschäftsbriefes als maßgebliche Epoche zu betrachten sei. Zu dieser Zeit bildeten sich grundlegende Spezifizierungen und Standardisierungen heraus, die bis in die Gegenwart nachwirken.

In ihrer Untersuchung nähert sich die Autorin, die die Arbeit auch als Inaugural-Dissertation in der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg vorgelegt hat, dem Thema von verschiedenen fächerübergreifenden Seiten, zu denen neben kulturhistorischen auch biografische, sprach- und literaturwissenschaftliche, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche sowie kommunikationswissenschaftliche Ansätze zählen. Breiten Raum nimmt die Kulturgeschichte des (Geschäfts-)Briefs seit dem Mittelalter bis zu den Briefstellern im 18. Jahrhundert ein, gefolgt von einer kurzen Darstellung der wirtschaftlichen und normativen Rahmenbedingungen im 19. Jahrhundert, bevor Kollar die (Geschäfts-)Briefsteller des 19. Jahrhunderts analysiert, allen voran den „Allgemeinen Handels-Briefsteller“ des Nürnberger Kaufmanns und Magistratsmitglieds Johann Michael Leuchs, der erstmals im Jahr 1823 als vierter Band der „Vollständigen Contorwissenschaft“ erschien.

Ab Seite 189 folgt in der Untersuchung von Elke Kollar dann die umfangreiche Analyse einzelner Nürnberger Geschäftsbriefe des 19. Jahrhunderts aus den verschiedensten Blickwinkeln sowie deren Auswertung hinsichtlich Inhalt, Stil, Aufbau oder Gestaltung, auch im Vergleich zu anderen Briefen. Dabei ergab sich neben vielen anderen Aspekten, „dass sich grundlegende Standardisierungsprozesse der Nürnberger Geschäftsbriefe zwar aus der lokalen kaufmännischen Tradition speisten, aber auch in den zeitgenössischen Neuerungen und Entwicklungen des 19. Jahrhunderts bedingt waren“ (570). Auf der Basis der kaufmännischen Tradition, die bis ins ausgehende Mittelalter zurückreicht, prägte sich zudem ein geschäftstypisches Grundlayout mit festen Elementen aus, das sich im untersuchten Zeitraum beständig weiterentwickelte und tendenziell strukturierter und übersichtlicher wurde und schließlich zu einer Standardisierung der brieflichen Außenkontakte führte, die noch durch die zunehmende Verwendung von Musterbriefen und Vordrucken unterstützt wurde. Anhand von Abbildungen aussagekräftiger Bespiele von zum Teil namhaften und bis heute bekannten Nürnberger Firmen wird dies verdeutlicht. Auch Papierqualitäten und ‑maße, Schreibgeräte oder Fragen des Postversands wurden in diese Betrachtungen mit einbezogen. 

Ein umfangreicher Anhang rundet diese äußerst akribische Analyse der Nürnberger Geschäftsbriefe ab. Entstanden ist nicht nur ein Standardwerk zur Geschichte des (nicht ausschließlich Nürnberger) Geschäftsbriefes im 19. Jahrhundert, sondern auch ein äußerst interessanter Blick auf einen Teilaspekt der Nürnberger Wirtschaftsgeschichte.