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Klaus Roth/Ioannis Zelepos (Hg.)

Klientelismus in Südosteuropa. 54. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in Tutzing, 5.-9. Oktober 2015

(Südosteuropa-Jahrbuch 43), Berlin 2018, Peter Lang, 246 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Marketa Spiritova
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.09.2019

Bereits der knapp-prägnante Titel des Sammelbandes „Klientelismus in Südosteuropa“, herausgegeben von dem Europäischen Ethnologen Klaus Roth und dem Byzantinisten Ioannis Zelepos, verheißt nichts Gutes: undurchsichtige Machenschaften, Vetternwirtschaft, Korruption in kleinem wie in großem Stil, die „Griechenlandkrise“ und „balkaneske“ Praktiken, die der EU-Integration zuwiderlaufen ‒ das sind die stereotypen westeurozentrischen Bilder, die hier geweckt werden. Obwohl zahlreiche der im Band vorgestellten kulturanthropologischen, ethnografischen, soziologischen, geschichts- und politikwissenschaftlichen Analysen auf Patron-Klient-Beziehungen und korrupte Praktiken fokussieren, gelingt es ihnen, kritisch-reflektiert und äußerst differenziert das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu behandeln.

Die grundlegende Frage des Sammelbandes, der auf eine interdisziplinäre Tagung in der Politischen Akademie Tutzing zurückgeht, lautet zunächst: Gibt „es tatsächlich einen spezifischen südosteuropäischen Klientelismus als Alltagspraxis sowie als politische Strukturbedingung“? (9) Die einzelnen Aufsätze geben zum Teil unterschiedliche Antworten darauf und zeigen, dass sowohl Anlass zur Sorge besteht als auch zur Hoffnung. Den Anfang macht der erhellende und kluge Beitrag „Klientelismus als Sozial- und Kulturphänomen“ vom kürzlich verstorbenen und in der Fachwelt schmerzlich vermissten Christian Giordano. Der Autor schärft die Begriffe und legt die historischen Entstehungsprozesse von Patron-Klient-Beziehungen in Europa im Allgemeinen und Südosteuropa im Besonderen dar. Er beschreibt die „Klientschaft und das Patronat“ als asymmetrisch verlaufend außerfamiliale Abhängigkeitsverbindungen, die „nahezu Züge anthropologischer Konstanten“ (14 f.) annehmen und nicht mit Korruption gleichzusetzen sind. Während Klientelismus auf gegenseitigen Tauschbeziehungen beruhe, gehe es bei Korruption um illegale Kauf- beziehungsweise Bestechungspraktiken (17). Das Spezifische an Patron-Klient-Beziehungen in Südosteuropa liege darin begründet, dass es sich hier um Gesellschaften mit ‒ vor allem subjektiv wahrgenommenen ‒ mehrfachen, „wenn nicht sogar permanenten Überlagerungserfahrungen“ handelt, die „Gesellschaften öffentlichen Misstrauens“ haben entstehen lassen (19). Giordano argumentiert, dass man den Klientelismus nicht auf „eine rückständige und statische Mentalitätsform zurückführen“ dürfe, sondern auf die „jahrhundertelang andauernde und fortlaufende scheiternde Staatlichkeit“ (23). Die Praxis der Patronage ist damit also vielmehr Ausdruck von Widerstand gegen die staatliche Hegemonie, eine Form kultureller „rational choice“ (26).

Diesen Prämissen weitgehend folgend, widmen sich die drei anschließenden Beiträge von Milena Benovska-Săbkova, Anton Sterbling und Jutta Lauth Bacas dem „Klientelismus als Alltagspraxis“. Die Ethnologin Milena Benovska-Săbkova zeichnet anhand von biografischen Interviews mit Vertretern der technischen Intelligenz nach, wie sich die Patron-Klient-Beziehungsstrukturen in Bulgarien im Zuge der Systemtransformation vom Klientelismus hin zur Korruption gewandelt haben. Für die Gegenwart konstatiert sie, dass es besonders der Gesundheits- und der Bildungsbereich sind, „that affect every family and every person in Bulgaria“ (41). Habe man im Sozialismus die Dienstleistung wie beispielsweise medizinische Beratung oder einen guten Kindergartenplatz mit „Gefälligkeiten“ belohnt, würde man heute dafür, zum Beispiel für bestandene Prüfungen, bezahlen müssen, was die Reziprozität ‒ ein Wesensmerkmal von klientelistischen Tauschbeziehungen ‒ hinfällig werden lässt. Dass Bestechungen gerade in den Bereichen Gesundheit und Bildung stattfinden, ist dem „brain drain“ von Ärzten, Akademikern und Studierenden in westeuropäische Staaten geschuldet. Diese Form der massenhaften „petty corruption“, schlussfolgert die Autorin, würde zuweilen größeren Schaden anrichten als die „grand corruption“. Im anschließenden Beitrag von Anton Sterbling geht es um die strukturellen Formen des parteipolitischen Klientelismus und der Korruption vor allem in Rumänien. Der Soziologe geht von einem modernisierungstheoretischen Ansatz aus und sieht den politischen Klientelismus vor allem durch „Strukturelemente wie ‚Partikularismus‘, ‚öffentliches Misstrauen‘, ‚Informalität‘ und ‚neopatrimonialer Etatismus‘ gestützt“ (62). Diese würden schließlich auch die Durchsetzung „universalistischer normativer Systeme“ durch die EU in hohem Maße behindern (63). Griechenland steht im Zentrum der Arbeit der Sozialanthropologin Jutta Lauth Bacas. Auch sie zeichnet in ihrer eindringlichen Fallstudie zur Persistenz klientelistischer Strukturen in Griechenland kein allzu optimistisches Bild. So kann sie am Beispiel der sogenannten Lagarde-Liste minutiös die systematische Nicht-Verfolgung von Steuersündern trotz immenser Staatsverschuldung rekonstruieren und als ein „eingespieltes kulturelles Muster“ identifizieren sowie die Beständigkeit und Kontinuität von politischer Patronage zwischen politischen Eliten und „einflussreichen“ Wählern dokumentieren (85).

Eine historische Perspektive auf das Phänomen des Klientelismus im Osmanischen Reich und in Serbien richten Anna Vlachopoulou und Klaus Buchenau. Anna Vlachopoulou thematisiert in ihrem quellengesättigten Beitrag die „Konkurrenzen, Kooperationen und Konflikte“ zwischen muslimischen und christlichen politischen Eliten auf der Peloponnes im 18. und 19. Jahrhundert. Dabei kann sie (zumindest für ihr Fallbeispiel) überzeugend das gängige Paradigma infrage stellen von der „‚Fremdherrschaft‘, die zu einem Misstrauen in den Staat und dem Wunsch nach Freiheit geführt haben soll“ (106). Im Gegenteil, argumentiert die Autorin, die christlichen Eliten „erscheinen [...] als integraler Bestandteil des Systems, nicht als Fremd-Beherrschte“ (107). Klaus Buchenau analysiert den Wandel der Korruption und der Diskurse darüber in Serbien beziehungsweise Jugoslawien in den letzten zwei Jahrhunderten. Dabei kann er darlegen, wie sich in den wandelnden Korruptionsdiskursen auch ein Wandel soziokultureller Werte abzeichnet.

„Wirtschaftlichen Dimensionen“ von Patronage und Korruption sind die nächsten vier Beiträge gewidmet. Die Wirtschaftswissenschaftler Thomas Steger und Stiven Tripunovski plädieren in ihrem Beitrag dafür, vermehrt die Akteure aus der Wirtschaft in Untersuchungen zu Klientelismus und Korruption einzubeziehen. So legt ihre Studie für Serbien der letzten 20 Jahre nahe, dass das Phänomen der Korruption in der Wirtschaft in medialen und auch wissenschaftlichen Diskursen durch Praktiken der „Normalisierung“, „Simplifizierung“, „Externalisierung“ und „Invertierung“ marginalisiert werde. Ebenso wenig erfreuliche Befunde liefern auch die anderen Autoren. Gudrun Steinacker, 2014 bis 2016 Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in Montenegro, beschreibt ihre Erfahrungen als Diplomatin mit klientelistischen Beziehungen zwischen politischen und Wirtschaftsakteuren. Die neuen Eliten, so Steinacker, würden es „ausgezeichnet [verstehen], Demokratie und Rechtsstaat zu fingieren, hinter deren Fassade klientelistische Beziehungen blühen und gedeihen“ würden (143). Die Europäische Ethnologin Katerina Gehl widmet sich unter dem Schlagwort „Oligopolisierung“ den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen politischen Eliten und den Massenmedien im heutigen Bulgarien. Interviews mit Journalisten lassen folgende Befunde zutage treten: ein zunehmender Boulevard- beziehungsweise Skandaljournalismus, der investigative Recherchen und Analysen zugunsten eines „medialen Komforts“ vermissen lasse (151), ein „geradezu serviles Verhalten gegenüber der Macht“ (153), schwindende Medienfreiheit. „Berufliches Ethos, moralische Verpflichtungen oder ethische Standards“ würden, führt Gehl aus, „im Grunde als leere Floskeln [existieren], da sich kaum Journalisten mit dem Beruf in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform identifizieren“ (156). Die Autorin geht noch weiter und hält fest, die Medien würden vor allem der „Legitimität der (Macht-)Eliten“ dienen, schlimmer noch: Nicht die Rolle einer vierten Gewalt haben sie inne, sondern seien „weitestgehend gleichgeschaltet“ (159), was sie zu „unmittelbare[n] Nachfolger[n] der patriarchalen kommunistischen Strategie“ mache (160). Um klientelistische (Macht-)Beziehungen zwischen Akteuren aus Politik und dem Musikbusiness geht es im Beitrag von Eckehard Pistrick, der an nationalen und internationalen Beispielen (Eurovision Song Contest) zeigt, wie notwendig klientelistische Netzwerke für den Erfolg von Künstlern sind.

Den Abschluss des Sammelbandes machen Aufsätze zu den „politischen Dimensionen“ der Phänomene Klientelismus und Korruption. In gewisser Weise knüpfen sie an die bisherigen Beiträge an. So behandelt Heinz-Jürgen Axt wie Lauth Bacas den Wandel des Partei-Klientelismus in Griechenland, der sich dort vor allem durch die Tauschbeziehung „Beschäftigungen im öffentlichen Dienst gegen Wählerstimmen“ auszeichnet ‒ und bislang auch mit der Syriza-Regierung nicht verschwunden ist. Der Beitrag von Ruslan Stefanov, Boyko Todorov und Stefan Karaboev richtet den Blick auf den „Westbalkan“ und stellt Ergebnisse der SELDI-Initiative (Southeast European Leadership for Development and Integrity) zur Überwachung und Bekämpfung von Korruption vor. Zwar sei ein leichter Rückgang bei korrupten Praktiken zu beobachten, doch müsse die Justiz konsequenter gegen Korruption vorgehen (vor allem im Energiesektor und bei staatlichen Investitionsprojekten) und es müssten (weitere) zivilgesellschaftliche, vom Staat völlig unabhängige Überwachungsinstrumente implementiert werden. Um verschiedene Facetten des (partei-)politischen Klientelismus geht es im Beitrag von Dimitrios A. Sotiropoulos auf dem westlichen Balkan. Sotiropoulos sieht das Phänomen des Klientelismus in erster Linie als ein Herrschaftsinstrument der politischen Eliten über die „Massen“ und weniger als einen Modus politischer Teilhabe. Dabei identifiziert der Autor drei Ebenen dieser hegemonialen Praxis: a) auf der Ebene der höchsten politischen und Wirtschaftseliten (in Serbien etwa in Vergaben öffentlicher Aufträge in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung), b) auf der mittleren Ebene, indem beispielsweise „unqualified government party cadres“ Managerposten bekommen, und c) auf der unteren Ebene, wo es um Beförderungen in den öffentlichen Dienst im Tausch für Wählerstimmen geht. Auf allen drei Ebenen, schlussfolgert Sotiropoulos, gehe es nicht um „a fair patron-client exchange, where the former offers protections and the latter political support, but rather unequal relations, where the patron has the power to elevate or downgrade a client“ (232).

Den Band beschließt, klug gewählt, der Beitrag der Sozialanthropologin Sonja Schüler, der nach den zahlreichen Beiträgen zu politischen und Wirtschaftseliten den Blick auf die NGOs legt. Zunächst knüpft Schüler an Giordanos konzeptuelle Überlegungen zu klientelistischen Strukturen in den Gesellschaften öffentlichen Misstrauens an, um dann zu fragen, „ob und inwiefern der Bereich der Nichtregierungsorganisationen als Sphäre gesellschaftlicher Interessen(selbst)organisation bezeichnet werden“ könne. Durch die Wahl des Begriffs der Interessen(selbst)organisation problematisiert sie sogleich die Verwendung „westeuropäischer“ Konzepte von Zivilgesellschaft für die Regionen Südosteuropas. Zunächst thematisiert Schüler den Missbrauch von NGOs in Bulgarien und deren mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung. Die NGOs würden als „inszenierte“, „zensierte“ Öffentlichkeiten, als „Pseudo-NGOs“, „ad hoc zur Absorption von Projektmitteln gegründet“ werden (237). Doch gleichzeitig stimmen manche Befunde auch optimistisch, vor allem im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes. Hier würden, so Schüler, demokratische Öffentlichkeiten hervorgebracht, die ein gewisses Vertrauen seitens der Bevölkerung genießen, das „Umweltengagement ist eine kreative ‚Gegensphäre‘, die durchaus ‚Unruhe ins System‘“ bringe (244).

Es sind keine völlig überraschenden Ergebnisse, die der Sammelband liefert. Doch er überzeugt durch die Qualität der einzelnen methodisch wie theoretisch reflektierten Fallstudien, die einen differenzierten und vor allem auch verstehenden Blick auf das Sozial- und Kulturphänomen Klientelismus liefern.