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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Anette Blaschke

Zwischen „Dorfgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“. Landbevölkerung und ländliche Lebenswelten im Nationalsozialismus

(Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘. Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung 8), Paderborn 2018, Schöningh, 458 Seiten mit 6 Tabellen
Rezensiert von Thomas Naumann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2019

Untersuchungsgegenstand des als Dissertation vierer niedersächsischer Universitäten im Rahmen eines Forschungskollegs „Nationalsozialistische Volksgemeinschaft?“ entstandenen Werks von Anette Blaschke sind die „landwirtschaftlichen Interaktionsräume“, „die Interaktion in sozialen Räumen lokaler Ebenen“ und die Interaktion dieser sozialen Räume mit den auf sie einwirkenden politischen Strukturen im Nationalsozialismus im genau festgelegten Gebiet von 24 ländlichen Gemeinden des ehemaligen Gaus Südhannover-Braunschweig (Region im heutigen Landkreis Hameln-Pyrmont). Damit ist umschrieben, dass es um keinen statischen Blick auf die „Landbevölkerung“ und deren „Lebenswelt im Nationalsozialismus“ geht, kein bloßes Sondieren der Ereignisse erfolgt, sondern das Hauptaugenmerk auf dynamischen Prozessen liegt, die die Methoden und Mechanismen der Nationalsozialisten auslösten, um einzudringen in die vorgegebenen ländlichen Lebenswelten, und um die Reaktionen und Verhaltensweisen der Landbewohner darauf. Hierbei wird, das sei vorweggesagt, sehr deutlich herausgearbeitet, dass die traditionellen sozialen Strukturen des Dorfes den nationalsozialistischen Führungsstrukturen und gesellschaftlich-ideologischen Vorstellungen größtenteils nicht sperrig im Wege standen, ja, mit Hilfe der Nationalsozialisten werden zum Teil auch ältere hierarchische Strukturen wiederhergestellt. Und auch das sei vorweggenommen: Es ist eine Untersuchung entstanden, die in ihrer Gründlichkeit und in der durchgehenden Einhaltung der gewählten Methodik vorbildhaft ist.

Auch wenn das Untersuchungsgebiet einen ländlichen Raum betrachtet, räumt die Autorin gleich in Kapitel I mit der Vorstellung auf, dass der ländliche Raum, dass ein Dorf eine in sich geschlossene Welt darstelle. Zwar sind Besonderheiten und Eigenarten zu konstatieren, die durch die landwirtschaftlich geprägten Strukturen und damit verbundene Lebensweisen selbstverständlich bestehen, doch seit jeher sind auch mehr oder weniger umfassende Einflüsse zu erkennen, die von der Stadt in die Dörfer hineinwirken. Auch wenn die Selbsteinschätzung so manchen Dorfes anders war (und vielleicht auch noch da und dort ist), so war es doch seit jeher dem Einfluss größerer Siedlungseinheiten, also umgebenden Städten, unterworfen, und so konnte folgerichtig auch der Nationalsozialismus über diese Einflüsse in Dörfern Fuß fassen. Auch wenn also schon immer Interaktionen stattfanden, hat aber (wie hinzuzufügen ist, als Nebeneffekt der Installierung eines Terrorregimes) „der Nationalsozialismus den Handlungs- und Deutungshorizont landwirtschaftlicher Akteure erweitert sowie lokale Interaktionen und die lokalen Sozialräume insgesamt verstärkt“ und „für außenstehende Akteure und übergeordnete Strukturen“ (431) geöffnet, so die Autorin in ihrem Fazit.

Hat man sich durch das notwendigerweise sehr fachsprachliche Kapitel I (9–36) gearbeitet, das ausführlich die Methodik und Vorgehensweise der Untersuchung, fußend auf einem sehr fruchtbaren „mikrohistorisch-praxeologischen Zugang“ (9), darlegt, wird man in Kapitel II belohnt mit reichlich konkretem Material durch Heranziehung von Quellen und klarer Analyse des Eindringens des Nationalsozialismus in fast alle Lebensbereiche des ländlichen Raumes des weit überwiegend protestantischen Untersuchungsgebiets, wobei auch vor-nationalsozialistische Entwicklungen einbezogen werden, etwa die ökonomischen Prozesse seit dem 19. Jahrhundert sowie die Agrarkrise und die Politisierung ländlicher Räume seit dem Ersten Weltkrieg (37–76).

Öfters allerdings muss die Autorin angesichts hie und da fragmentarischer Quellenlage einräumen, dass ein Handlungsablauf nicht gänzlich aussagekräftig ist, unter Umständen gerade da, wo er zur Analyse des Geschehens gebraucht worden wäre, weil quellentechnisch nicht zu Ende zu verfolgen, so dass notgedrungen ähnliche Quellen innerhalb oder außerhalb des Untersuchungsgebietes oder Sekundärliteratur herangezogen werden müssen, um notwendige Schlüsse ziehen zu können. Dies ist kein Manko der Arbeit, sondern der Quellenlage geschuldet, die nun einmal gerade aus diesen Zeiten oft dem Zufall anheimgestellt ist.

Als größere Untersuchungseinheit stehen in Kapitel III (77–156) die Akteure im lokalen Sozialraum im Fokus und hier besonders die lokalen Vertreter des „Reichsnährstandes“, die Ortsbauernführer. Der „Reichsnährstand trug als staatlicher Akteur die ideologischen Dimensionen der NS-Agrarpolitik in die ländliche Lebenswelt“ (407), die dann im lokalen Sozialraum verhandelt wurde. Den unteren Vertretern, den Ortsbauernführern, wird wegen ihrer Bedeutung im Dorf folgerichtig ein eigenes Unterkapitel gewidmet: Sie sind grundsätzlich ehrenamtlich tätig, im Grunde mächtig, aber oftmals überfordert. Immerhin, so ergibt die Untersuchung, sind sie mehrheitlich prioritär am eigenen lokalen Umfeld interessiert und setzen sich für dieses ein, nutzen meist ihren Handlungsspielraum, ihren „Raum des Möglichen“ (417) innerhalb des NS-Systems. Wenige sind ideologische Nationalsozialisten. Es sind Landwirte (oder „Bauern“ als Ehrentitel, also „Erbhofbesitzer“ gemäß der nationalsozialistischen Ideologie) des Ortes, zur Konfliktvermeidung seit langem sozial etabliert. Sie sollen eigentlich keine Verwaltungstätigkeiten ausüben, müssen dies in Wirklichkeit aber ohne diesbezügliche Ausbildung dennoch – wie „Sammeln, Schulen und Dokumentieren, Kontrollieren, Begutachten und Stellungnehmen, Verteilen und Vermitteln [auch von Zwangsarbeitern] im Zweiten Weltkrieg“ (110 ff.). Sie fungieren in erster Linie als meist Alteingesessene im lokalen Sozialraum als eine „intermediäre Instanz“ (118) zwischen der Dorfgemeinschaft und den anderen Hierarchien des „Reichsnährstandes“. Ein Zwang zur Parteimitgliedschaft besteht für sie nicht. Erwartet wird, dass sie die örtlichen Konflikte im Sinne der nationalsozialistischen Ordnungsvorstellungen lösen. Ihre Beurteilung einer problematischen Sachlage im Dorf gab meist den Ausschlag für die Entscheidung nächsthöherer Instanzen, meist der „Kreisbauernführer“. An der Untersuchung der Ortsbauernführer, die je nach Robustheit und Charakter mehr oder weniger in Einklang mit Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter handelten, den beiden anderen Mächtigen im Dorf, wird sehr deutlich, wie sehr es in der lokalen Realität auf den Charakter der handelnden Personen ankam: ob sie ihr genaues lokales Hintergrundwissen eher gegen oder für einen Ortsbewohner im Falle einer Desavouierung und deren Beurteilung einsetzten.

Man ahnt es schon: Es stellt sich an Einzelbeispielen heraus, dass die NS-Ideologie auch die Möglichkeit bot, alte Rechnungen, die bekanntermaßen in jedem Dorf zwischen alteingesessenen Familien bestehen, zu begleichen. Es „menschelte“, wie von vornherein anzunehmen, öfters gewaltig im Rahmen der neuen Machtverhältnisse und der nationalsozialistischen Agrar-Zwangswirtschaft, und es zeigt sich auch in diesem Untersuchungsgebiet, wie man sich im Rahmen der neuen Machtverhältnisse und mit Hilfe dieser Machtverhältnisse zwischen landwirtschaftlichen Familien und Höfen Geltung zu verschaffen suchte. Hier erweist sich überdeutlich, dass der propagierte und ideologisch angestrebte „völkische Gemeinsinn“ keineswegs eigennütziges Denken und Streben beseitigte. Im Gegenteil lieferte die NS-Ideologie in der Realität durchaus das Handwerkszeug, Eigeninteressen auf Kosten eines Mitbewohners beziehungsweise anderen Hofes im Dorf durchzusetzen. Mit welchen Mitteln und Methoden dies geschah, zeigt die Untersuchung, und das ist sehr aufschlussreich hinsichtlich der interagierenden Verhaltensweisen der Menschen in terroristischen Systemen. Noch einmal: Im Vordergrund, so wird herausgearbeitet, steht in den dörflichen Interaktionen, wenn auch „sprachliche Aneignungsformen“ (407) aus der NS-Ideologie feststellbar sind, erst einmal der Eigennutz, weniger die Ideologie, welche vielfach aber als eminentes Vehikel genutzt wird, „familienstrategische, den eigenen Besitz betreffende ökonomische Interessen“ durchzusetzen oder „eine Verschiebung sozialer Positionierungen und Machtbalancen im lokalen Raum“ (420) zu erreichen. Dies ist insofern tröstlich, als daraus geschlossen werden kann, dass die verquaste menschenfeindliche Ideologie der Nationalsozialisten sich nicht wirklich tief in den Köpfen festgefressen hat und dann auch, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, zum Verschwinden zu bringen ist.

Im umfangreichsten Kapitel IV (157–416) stehen die „Figurationen landwirtschaftlicher Akteure in ausgewählten landwirtschaftlichen Handlungsräumen im Mittelpunkt der Analyse“ (405), werden die landwirtschaftlichen Handlungsräume unter den Blickwinkeln von „Konfrontationen, Kooperationen, Verflechtungen“ (157 ff.) beleuchtet, insbesondere die Auseinandersetzungen um den Hof – „Erbhofstatus“ (161 ff.) als erstmals seit der Aufhebung der Grundherrschaft erfolgender Eingriff in die Verfügungsgewalt des landwirtschaftlichen Eigentums –, zwangsverordnete (Anerben-)„Hofvererbung“ (176 ff.), „Bauernfähigkeit“ (176 ff.), welcher Begriff wegen seiner Vermengung tradierter Elemente wie Fleiß und Ordnung mit völkisch-rassistischen Kategorien besonders gefährlich war und als besondere „Drohkulisse im innerörtlichen Auseinandersetzungsfeld“ diente und der deshalb der Denunziation Tür und Tor öffnete. Weiter wird untersucht „Individuelles Handeln“ in der von der NS-Ideologie ausgerufenen „Erzeugungsschlacht“ (226 ff.) zur (fehlschlagenden) Steigerung der darniederliegenden landwirtschaftlichen Produktion innerhalb der geltenden Zwangswirtschaft, „Landwirtschaftliche Interaktionen und lokale Interdependenzen“ (272 ff.) und schließlich der „Wandel lokaler Interaktionen im Zweiten Weltkrieg“ (326 ff.), in welchem Abschnitt die Dienstverpflichtung, der Einsatz von und der Umgang mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen und die Bewirtschaftung im Zweiten Weltkrieg dargestellt wird. Besonders gut herausgearbeitet sind auch diejenigen Fälle, in denen sich Ortsbewohner vehement wehren und geradezu renitent werden, etwa gegen die offiziell freiwillige Spende, jedoch in Wirklichkeit Zwangsabgabe zur sogenannten „Winterhilfe“, und wo sie, wenn sie nicht Folge leisten, entsprechend mit den unterschiedlichsten Methoden sanktioniert werden und nur selten Absolution erhalten; versuchter Aufstand erfolgt in der Regel, wenn die Eigeninteressen zu sehr verletzt werden.

Kapitel V (417–432) zieht ein Fazit der Untersuchung und bietet eine gute Zusammenfassung der Ergebnisse. Der Anhang bringt archivalische Quellen, zeitgenössische Publikationen und verzeichnet die umfangreich verwendete Sekundärliteratur.

Das wertvollste Ergebnis dieser Arbeit ist zweifellos, dass anhand der handelnden beziehungsweise interagierenden Personen innerhalb und außerhalb der Dörfer aufgedeckt wird, auf welche Weise die nationalsozialistischen Strukturen nach und nach eingedrungen sind in die Dörfer, die sich diesen Strukturen aber auch nicht verschlossen haben. Hierbei haben die Regime-Instanzen durchaus vorgegebene traditionelle Strukturen und Gewohnheiten beachtet, um nicht zu sehr Unruhe zu verursachen. Es tritt klar zu Tage, wie die dörfliche Bevölkerung mit den neuen völkisch-rassistischen Vorgaben und der Hierarchie des Systems umgegangen ist, wie sie sich intern damit auseinandersetzte und wie sie sich gegenüber den außerdörflichen nächsthöheren Instanzen verhielt. Es sind durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen intern und nach außen festzustellen; immer wieder aber kommt es vor, dass mit Hilfe der nationalsozialistischen Strukturen und unter Zuhilfenahme von NS-Phrasen alte Rechnungen beglichen oder unliebsame Mitbewohner mittels Gerüchten und Geschwätz angeschwärzt werden, auch bezeichnenderweise, vor dem Hintergrund der verordneten „Exklusion des jüdischen Landhandels“ (420), antisemitische Begriffe ins Spiel gebracht werden, wenn es dienlich ist – unter Umständen einen Mitbewohner, den man ausschalten will, als „Judenknecht“ zu bezeichnen, wenn dieser geschäftliche Kontakte zu jüdischen Viehhändlern unterhielt.

Der „mikrohistorisch-praxeologische“ Ansatz der Arbeit Anette Blaschkes, der sich hinsichtlich der eingearbeiteten Sekundärliteratur auch auf weitere mikrohistorische sowie auf makrohistorische Erkenntnisse stützt und in Relation zu diesen gesehen werden muss, ist zweifellos ein richtiger und sehr ergiebiger Weg, der neue Erkenntnisse ermöglicht. Er stellt die Akteure aller Art und ihre Interaktion vor dem Hintergrund der lokalen und regionalen Szenerien in den Mittelpunkt. Im Rahmen der Möglichkeiten der Quellenlage genau recherchierter Lokalhistorie lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die dann auch in die Makrogeschichte einfließen können. Makrogeschichte gründet sich auf Mikrogeschichte und ist deren unabdingbare Voraussetzung, sonst wäre sie nur ein Geschwätz. Und es liegen hier keineswegs lokalgeschichtliche Einzelfälle vor, sondern die vorgelegten Einzeluntersuchungen im eingeschränkten historischen Untersuchungsgebiet reihen sich an Erkenntnisse anderer mikrohistorischer Forschungen an und tragen damit zu einem Gesamtbild der Geschichte des Nationalsozialismus allgemein und des nationalsozialistischen Eindringens in ländliche Räume im Besonderen bei. Anette Blaschke erweitert und verstetigt dieses Gesamtbild durch ein geradezu grelles Beleuchten der Interaktionen der handelnden Personen des Untersuchungsgebiets unter den Rahmenbedingungen der Installierung eines Terrorregimes.

So manche Feststellung der Untersuchung, etwa die Methode nationalsozialistischer Funktionäre, sich mit dem Ansprechen von vorhandenen Ängsten der Bevölkerung anzubiedern, diese Ängste ins Bodenlose zu steigern und damit Erfolg zu haben, ist leider durchaus aktuell, betrachtet man die derzeitigen rechtspopulistischen Akteure, die nichts anderes tun. Eine derartige Systematik perfider Infiltration und Agitation unter Ausnutzung, Okkupation und Umfunktionierung vorhandener Strukturen, und dann in der Folge Herrschaft eines Terrorsystems mit katastrophalem Ausgang, ist bisher zum Glück nur einmal in der deutschen Geschichte gelungen und wird sich hoffentlich nie wiederholen.

Eine kleine formale Schlussbemerkung, die die Leistung des Werks selbstverständlich in keiner Weise schmälern soll, sei noch erlaubt: Es nervt zeitweise ein bei Zitaten ständig kommentierendes „sic!“ hinter Schreibfehlern (auch historischen Schreibgebräuchen) oder ungeschickten Satzführungen, die sich beim Zitieren meist des Schreibens Ungeübter in historischen Quellen üblicherweise finden. Zitiert man, darf in wissenschaftlichen Arbeiten von vornherein angenommen werden, dass der oder die Zitierende wie vorgefunden zitiert, nicht Schreibfehler selbst verursacht, und das Zitierte eben so ist, wie es ist.