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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Marianne Heimbucher/Richard Kürzinger

„... da ist Im gnedigklich geholffen worden“. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Mirakelberichte aus Geisenfeld

(Abensberger Beiträge zur bayerischen Kulturgeschichte 3), Regensburg 2018, Pustet, 167 Seiten mit 17 Farbabbildungen
Rezensiert von Walter Pötzl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2019

Mirakelbücher sind nicht nur eine wichtige Quelle für eine bestimmte Wallfahrt, sondern auch für den gefährdeten Alltag (nicht nur) des einfachen Volkes, und in diesem Punkt sind sie oft die einzigen Quellen. Viele schrecken geradezu auf, wenn sie das Wort Mirakel (= Wunder) hören, aber es geht nicht darum, ob es überhaupt Wunder gibt und ob man (heute noch) daran glauben kann. Historisches Faktum bleibt auf jeden Fall, dass der, der in einem Mirakelbuch bekundet, dass ihm durch ein Wunder geholfen wurde, davon überzeugt war.

Die Edition eines bisher unbekannten Mirakelbuchs, das sich in Privatbesitz befindet, ist sicher verdienstvoll. Jede wallfahrtskundliche Untersuchung beschäftigt sich auch mit Mirakelbüchern und nimmt Auswertungen vor, doch Editionen eines ganzen Buches erfahren (in Faksimileausgaben) fast nur größere Wallfahrten wie Altötting, Tuntenhausen, Rankweil, Maria Steinbach, die Wieswallfahrt bei Steingaden. Eine Ausnahme macht die Edition des Mirakelbuches des Limburger Annaheiligtums aus dem Jahre 1511.[1]

Der Text des Geisenfelder Mirakelbuchs wird nach den üblichen Regeln transkripiert, wobei die einzelnen Mirakel durchnummeriert werden (001–994, S. 33–150). Sie stammen aus den ersten vier Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Vorangestellt werden, ohne Angabe des Archivs, jene 43 Mirakel, die die Äbtissin, um sie approbieren zu lassen, im Jahre 1517 an den Regensburger Bischof geschickt hatte.

In der den heutigen Schreibgepflogenheiten angepassten Form werden 16 Mirakel mit ausgewählten Vorkommnissen herausgegriffen (25–28), um in besonderer Weise Einblicke in die Lebensverhältnisse und in die Volksfrömmigkeit jener Zeit zu gewähren. In der üblichen Form (Einzugsbereich, Anlässe, Opfergaben) werden die Mirakel statistisch ausgewertet. Unter den Opfergaben findet sich auch relativ häufig die Zinsbarmachung, durch die rechtlich ein Untertanenverhältnis begründet wird. Fünzigmal werden Schleier geopfert, achtundzwanzigmal werden Körperteile mit Wachssträngen (wie bei den Wachsstöcken) umwickelt. Höchst selten sind Votivgaben aus Brot (d. h. wohl aus Teig geformt und gebacken). Die beiden Nacktwallfahrten sind nicht sonderlich ungewöhnlich. Wallfahrten mit einer bestimmten Zahl von Jungfrauen (3, 7, 9, 12) sollten dem Anliegen Nachdruck verleihen.

Nicht erfasst sind die an einem Dienstag (Erchtag) erfolgten Verlöbnisse (362 und 567). Die Frau von Jörg Wirsing verlobte „ain gantz Jar all Erchtag ainen haller“ und eine andere Frau verlobte sich an einem Erchtag. Wochentage werden sonst nicht erwähnt, der Dienstag aber war der hl. Anna geweiht. Als sehr negativ muss gewertet werden, dass Autorin und Autor nicht auf den Annakult eingehen, der damals sehr mächtig aufgeblüht war und Marias Mutter zur beliebtesten Volksheiligen werden ließ. Ein Blick in die allgemeinen Standardwerke hätte hier bereits geholfen, die Annawallfahrt in Geisenfeld richtig zu werten und der Griff zur Spezialliteratur hätte das bestärkt.[2] Typisch für die Kultgeschichte der Zeit ist wohl auch der Umstand, dass die an den Regensburger Bischof geschickten Mirakel mit vier Verlöbnissen an Maria beginnen und erst dann zu Anna übergehen. Kein Wort verliert die Arbeit zu dem etwas ungewöhnlichen Kultbild. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Anna präsentiere das Jesuskind. Dieser Eindruck wird gewissermaßen durch einen Trick erzeugt: Die wie üblich mädchenhafte Maria sitzt im rechten Winkel zu Anna auf deren Knie und präsentiert das Kind etwas abgerückt und gedreht auf ihren Knien.

Völlig irritierend ist der Satz: „Es hat zu keiner Zeit eine Wallfahrt zur Heiligen Anna im Kloster Geisenfeld gegeben.“ (14) Sind die in vier Jahrzehnten niedergeschriebenen über 1 000 Mirakel nicht Beleg genug? Argumentiert wird zunächst e silentio mit der angeblichen Ablehnung des Regensburger Bischofs. Argumentationen auf dieser Basis sind sehr problematisch, der Brief könnte einfach nicht mehr erhalten sein. Die Begründung, der Bischof habe die Bestätigung wegen des schlechten disziplinären Zustandes im Geisenfelder Konvent abgelehnt (15), ist von heute aus gedacht und betrifft zwei unterschiedliche Ebenen. Bei über 1 000 Votanten von einzelnen zu schreiben, ist gewagt gerechnet. Die Argumentation der Autoren erinnert dann an eine Diskussion, die in den 1960er Jahren über die Frage geführt wurde, was als Wallfahrt zu gelten habe. Dabei wurde vor allem von fränkischen Volkskundlern nur das Processionaliter-Gehen als Wallfahrt gewertet.[3] Dass im Mirakelbuch keine Gemeinschaftswallfahrt erwähnt wird, gilt nicht als ungewöhnlich. Sie sind am besten belegt, wenn sich ein Wallfahrtskalender oder ein Verkündbuch erhalten hat. Aus dem Umstand, dass sich in Geisenfeld keine derartigen Dokumente erhalten haben, darf man nicht folgern, dass es keine Gemeinschaftswallfahrten (und damit keine Wallfahrt) gegeben hat. Die zahlreichen Votationen im Mirakelbuch stehen dagegen.

 

 

Anmerkungen

[1] Angelika Dörfler-Dierken: Wunderheilungen durch das Limburger Annenheiltum; mit Edition einer Abschrift des Mirakelbuches von 1511. In: Kurtrierisches Jahrbuch 31 (1991), S. 83–107.

[2] Angelika Dörfler-Dierken: Die Verehrung der heiligen Anna in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 50). Göttingen 1992 (vgl. dazu die Rezension von Lenz Kriss–Rettenbeck im BJV 1994, S. 287–290); Virginia Nixon: Mary‘s Mother. Saint Anne in Late Medieval Europe. Pennsylvania 2004.

[3] Vgl. die Dissertation von Dieter Harmening: Fränkische Mirakelbücher. Quellen und Untersuchungen zur historischen Volkskunde und Geschichte der Volksfrömmigkeit. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 28 (1966), S. 25–240, hier S. 91–93 (zum Begriff „Wallfahrt“). – Ein Blick in die unter „Sekundärquellen“ aufgeführte Dissertation von Alois Döring aus dem Jahre 1979 über St. Salvator in Bettbrunn hätte genügt, um auch Einzelwallfahrer vollwertig in die Wallfahrt einzubeziehen.