Aktuelle Rezensionen
Wolfgang Dahmen/Gabriella Schubert (Hg.)
Schein und Sein. Sichtbares und Unsichtbares in den Kulturen Südosteuropas
(Forschungen zu Südosteuropa. Sprache – Kultur – Literatur 14), Wiesbaden 2017, Harrassowitz, VII, 244 Seiten mit AbbildungenRezensiert von Oliwia Murawska
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 16.09.2019
Der Titel des von Wolfgang Dahmen und Gabriella Schubert herausgegebenen interdisziplinären Bandes zum gleichnamigen Symposium, das im Dezember 2015 an der Universität in Jena durchgeführt wurde, zieht die Aufmerksamkeit insbesondere eines Lesers auf sich, der sich von schwer objektivierbaren Kategorien angesprochen fühlt. Fernerhin weckt auch die Verortung der vermeintlichen Gegensatzpaare Schein/Sein und Sichtbares/Unsichtbares, denen das Irrationale anzuhaften scheint, in den Kulturen Südosteuropas die Neugier: Inwiefern alterieren ihre Erscheinungsformen und Lesarten in Südosteuropa im Vergleich zu Westeuropa? Worin besteht die explanative Kraft der Kategorien im Hinblick auf südosteuropäische Phänomene? Wie meistern die Autoren den Balanceakt zwischen Zuschreibung und Relativierung, Konstruktion und Dekonstruktion, Stereotypisierung und deren Überwindung?
Bereits die Offenheit der Fragen, die die Symposiums-Teilnehmer an den Gegenstand richteten, zeugen von einer nicht unproblematischen Handhabung der Begriffspaare: Was wird in welchen Formen wahrgenommen und dargestellt oder nicht wahrgenommen beziehungsweise unsichtbar gemacht? Welche Kräfte, Ideen und Vorstellungen wirken darauf ein? Welche kulturellen Traditionen, gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüsse produzieren Wahrnehmungsordnungen, Erkenntnisfelder und Machtstrukturen? (VII) Gleichwohl geben die einleitenden Bemerkungen der Herausgeberin eine erste Orientierungshilfe, indem sie dominante Motive und terminologische Zusammenhänge der im Sammelband enthaltenen Beiträge zusammenführt.
Erhellende Leitgedanken formuliert Klaus Roth im Keynote-Beitrag zur Kommunikation und zum Alltagshandeln in Südosteuropa. Offensiv geht er die Gretchenfrage des Bandes an: Inwiefern ist die Beziehung des Sicht- und Unsichtbaren in Südosteuropa anders geartet als in der westlichen Welt? Vorsichtig, zunächst kulturhistorisch und dann theoretisch, nähert er sich den Kategorien an, bevor er konkrete Beispiele aus den Bereichen der Sozialbeziehungen, Politik, Wirtschaft und Medien anführt. Hinsichtlich der in Südosteuropa vorherrschenden Interaktionsweisen mache sich noch immer das byzantinisch-osmanische Erbe bemerkbar: In Südosteuropa „spielt wegen des Geschichtspfads das Verbergen als Kulturtechnik [...] eine überaus wichtige strategische Rolle, musste man doch über Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart hinein gegenüber fremden Mächten alles verstecken, um seine Familie und sich selbst zu schützen, seine Integrität und Identität zu wahren“ (19). Freilich räumt Roth schließlich die Notwendigkeit einer idealtypischen Darstellung ein, um die von der „aufgeklärten“ westlichen Welt divergierende Gewichtung des Sichtbaren und Unsichtbaren herausstellen zu können (21).
Unter der Überschrift „Erinnern und Vergessen“ werden die folgenden drei Artikel zusammengefasst. Nicole Immig begibt sich auf eine Spurensuche nach den unsichtbaren Vergangenheiten Thessalonikis. Gemeint sind jüdische, muslimische und slawische Vergangenheiten, die keinen Eingang in die offiziellen, meist national gefärbten Stadterzählungen gefunden haben: „In diesem Kontext stellt die Sichtbarkeit im Sinne von Evidenz und politischer, moralischer und gesellschaftlicher Anerkennung also eine entscheidende Kategorie in der gesellschaftlichen Aushandlung um die Inklusion ‚anderer Vergangenheiten‘ in offizielle Narrative städtischer Vergangenheit dar.“ (31)
Peter Jordan befasst sich mit südosteuropäischen Kulturlandschaften, die heute zwar keine Verwaltungseinheiten mehr bilden, doch durch die symbolische Wirkung ihrer geografischen Namen noch immer identitätsstiftend wirkten. Obschon der Autor dies an Namen wie Galizien oder Dalmatien verdeutlicht, überzeugt sein Fazit, dass ein geografischer Name genüge, „um einen reichen und mit Gefühlen beladenen raumbezogenen Begriffsinhalt durch die Geschichte zu tragen“ (48), nicht vollends (vielleicht, weil ein Drittel der hierzu herangezogenen Literatur vom Autor selbst stammt?).
Um sich den dominanten Topoi der kollektiven Trauer und den Dynamiken der Trauerkultur in Kosovo und Oluja zu nähern, verwendet Snežana Stanković in ihrem Beitrag Konzepte aus den Theaterwissenschaften, der narrativen Psychologie, der Erzähltheorie und der Soziolinguistik. Damit stellt sie ihre „essayistische Betrachtung“ (58) und Argumentation auf ein gleichwohl stabiles theoretisches Fundament.
Der zweite Teil des Bandes ist dem „Sozialverhalten und Sozialem Handeln“ gewidmet. Den Auftakt macht Anton Sterbling, der südosteuropäische Beispiele für die „Ergänzungs- oder Nebenerscheinungsformen des Sehens“ – des „Gesehenwerdenwollen[s]“, des „Nichtgesehenwerden[s]“ oder des „Nichtgesehenwerdenwollen[s]“ (67) – unter Verwendung der Theoreme Sozialprestige, soziale Ehre oder soziale Kontrolle einer soziologischen Analyse unterzieht. Er illustriert seine Überlegungen anhand mehrerer Beispiele, unter anderem einer rumänischen Hochzeit.
Eine sehr gut recherchierte Studie liefern Martin Mlinarić und Dragan Šljivić zum Familismus in Ex-Jugoslawien, in der die Autoren einen Vergleich zwischen einer serbischen orthodoxen Zivilgesellschaft und einer kroatischen neokonservativ inspirierten Initiative durchführen. In ihrem pro-familiären Kurs richteten sich beide Bewegungen gegen die institutionelle Gleichstellung sexueller Minderheiten. Ohne dass die Leitkategorien des Bandes explizit zur Anwendung kämen, gelingt es den Autoren, die Verwobenheit der Motive der familistischen Bewegungen abzubilden; spannend ist hier auch der Vergleich zu populistischen Bewegungen in Deutschland.
Zentrale Begriffe im dritten Teil des Bandes sind „Glaube und Brauch, Imagination und Performanz“. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive untersucht Walter Puchner Sichtbares und Unsichtbares in der Volkskultur Südosteuropas. Nachdem er in einem theoretischen Vorspann den Zusammenhang zwischen Oralkultur, Imagination und Performanz erläutert, geht er auf die kulturellen Manifestationen des Performativen in Griechenland ein. Auffällig ist auch hier die Selbstreferenzialität des Beitrags (die Hälfte der angeführten Literatur stammt vom Autor).
Wörtlich nimmt die Herausgeberin Gabriella Schubert Bezug zum Tagungsthema, wenn sie den serbischen Brauch Slava im Spannungsfeld von sichtbar/unsichtbar und Schein/Sein untersucht. Die Präsenz der Begriffspaare zeige sich im Hauptpatronatsfest Slava, das im „Familienbrauchtum der Serben eine zentrale Rolle spielt“ (121). Die Autorin beschreibt nicht nur die historische Entwicklung, den Ablauf und die dominanten Motive der Slava, sondern fragt zudem, ob das Fest als „ethno-kulturelle[r] Marker für das Serbentum“ (123) gelte. Problematisch ist die Verortung der Slava zwischen Schein und Sein: Es werde ein „übertriebener Luxus und unangemessener finanzieller Aufwand in Kauf genommen, um den Schein der gesellschaftlichen Pflicht bzw. der Erwartungshaltung des sozialen Umfeldes und dem Diktat der nationalen Identifikation Genüge zu tun“ (129). Dem Fazit, Schein und Sein klafften hier weit auseinander, hängt freilich ein wertender Klang an, allemal, da nicht deutlich wird, ob es sich dabei um emische oder etische Kategorien handelt.
Der Magie im südslawischen Lied im Wandel widmet sich Petra Himstedt-Vaid. Der Glaube an den Bösen Blick und das Amulett als magisches Mittel spiele auf dem Balkan im „Volksglauben“ und somit auch im Volkslied eine große Rolle. Zwar liefert die Autorin hierfür viele Belege in Gestalt von Liedtexten, doch stammen diese meist aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Volkskundlich relevant wäre sicherlich auch die Offenlegung der Transformationen des „Volksglaubens“ bis in die Gegenwart.
Der vierte Teil des Bandes „Identität, Selbst- und Fremdwahrnehmung“ ist mit fünf Beiträgen der umfangreichste. Der erste stammt von Hans-Christian Maner, der sich mit der Darstellung südosteuropäischer Regionen der Habsburgermonarchie und ihrer Bewohner im „Kronprinzenwerk“ beschäftigt. Maner greift für seine Studie drei Bände des Werkes zu Dalmatien, Bosnien und Hercegovina, Croatien und Slavonien heraus und untersucht sie hinsichtlich der darin enthaltenen Einträge zur Landschaft, Geschichte und Volkskunde. In seinem informativen Beitrag fragt er nach den Motiven, den Charakteristika und den Intentionen der Darstellungsweisen im Kronprinzenwerk.
Aktuell, gehaltvoll und einschlägig im Hinblick auf die Leitkategorien ist der Beitrag von Alexander Kiossev, in dem er die Gebrauchsweisen bulgarischer Identitätssymbole im öffentlichen Raum untersucht. Ein recht abstrakter Einstieg dient der Schärfung des analytischen Instrumentariums, mit dem anschließend der visuelle Raum Sofias im Hinblick auf die nationalen Symbole außerordentlich überzeugend entschlüsselt wird. Dicht beschreibt Kiossev die visuelle Topografie der Stadt und fragt nach der Position und Funktion patriotischer Bilder, die „tief verwickelt [sind] in den Prozess permanenter Kämpfe und Re-Interpretationen. Dazu zerfällt die visuelle Umgebung von Sofia in verschiedene ‚Sphären‘ und Etagen, die nicht miteinander kommunizieren und dennoch einen homogen-bunten, belasteten Stadtbildschirm bilden.“ (182) Dieser herausragende Beitrag zeigt einmal mehr, dass Wissenschaftlichkeit auch ohne Selbstreferenz auskommt.
In ihrem englischsprachigen Text fragt Jelena Jorgačević Kisić nach der Rolle der Medien bei der Konstruktion von Stereotypen. Hierfür vergleicht sie die Berichterstattung der FAZ und des Spiegels über die Serbische Orthodoxe Kirche (SOK) in der Zeit von 2000 bis 2013. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Rolle der SOK in den Berichten zunächst neutral bis positiv und infolge der politischen Umbrüche zunehmend negativ bewertet worden sei. Die Färbung der Berichte hänge überdies von der Informiertheit des jeweiligen Journalisten ab.
Victoria Popovici und Wolfgang Dahmen hinterfragen Sein und Schein in der rumänischen etymologischen Forschung und demonstrieren, wie sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfolgung kulturpolitischer oder nationalistischer Interessen verwendet werden. Anhand konkreter Wortbeispiele belegen die Autoren die Frankophilie in der etymologischen Erforschung des Rumänischen. Der Rekurs auf das Französische sei dem Versuch geschuldet, „dem seit Jahrhunderten vorhandenen Gefühl der Zugehörigkeit zur (mittel-)europäischen Geistes- und Kulturwelt, für die die französische Sprache und Kultur stellvertretend stehen, sichtbaren Ausdruck“ (226) zu verleihen.
Christian Voss nimmt im letzten Beitrag die visuellen Repräsentationen von Religion und Ethnizität der Pomaken West-Thrakiens in den Blick. Er stellt die im griechischen Teil des Rhodopengebirges ansässige Minderheit vor und zeigt auf, wie sie sich heute im Territorialkonflikt zwischen Griechenland, Bulgarien und der Türkei positioniert.
Resümierend lässt sich festhalten, dass der Band zahlreiche gehaltvolle Beiträge enthält, die dem Leser tiefe Einblicke in diverse lebensweltliche Bereiche südosteuropäischer Kulturen erlauben. Die gesellschaftspolitische Aktualität und Relevanz der darin angesprochenen Themen liegt in Anbetracht der europäischen Nachbarschaft bei gleichzeitig vielfach bestehenden Wissensdefiziten auf der Hand. Auch wenn die AutorInnen Schein/Sein, Sichtbares/Unsichtbares auf kreative Weise in ihre Argumentation einflechten, stellt sich am Ende noch immer die Frage, ob gerade diese Kategorien – zumal mit einer geografischen Fixierung – erkenntnisbringend sind und es vermögen, eine Klammer um die heterogenen Studien zu legen. Diesem Problem gehen die AutorInnen elegant aus dem Weg, indem sie die Kategorien weniger als scharfe Analyseinstrumente, denn vielmehr als inspirierende Leitmotive verwenden, die nicht begrenzen und einengen, sondern freie Interpretationsräume eröffnen, um sich ihren in Südosteuropa verorteten Themen zu nähern. Es bleibt anzumerken, dass dem Sammelband mit Blick auf den uneinheitlichen Satz sowie die Flüchtigkeitsfehler eine Endredaktion sicherlich nicht geschadet hätte.