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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Elisabeth Fendl/Werner Mezger/Saray Paredes Zavala/Michael Prosser-Schell/Hans-Werner Retterath/Sarah Scholl-Schneider (Hg.)

Ausprägungen der Jugendbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

(Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 58), Münster/New York 2017, Waxmann, 203 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Daniela Simon
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 02.09.2019

Der vorliegende Band kann in zwei Teile gegliedert werden. Der erste Teil versammelt fünf Beiträge zur gleichnamigen Tagung der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde und des Archivs der deutschen Jugendbewegung, die im September 2016 auf der Burg Ludwigstein/Witzenhausen stattfand. Dem Tagungsziel einer vergleichenden Perspektive auf die deutschen Jugendbewegungen im östlichen Europa seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts tragen die quellengesättigten Aufsätze auf eine äußerst lesenswerte Weise Rechnung. In deren Fokus stehen Fragen nach der Rolle von Jugendverbänden unterschiedlicher territorialer Provenienz bei der ethnischen und politischen Mobilisierung deutscher Minderheiten im östlichen Europa sowie ihren organisatorischen, politisch-ideologischen und alltagskulturellen Charakteristika. Der zweite Teil des Bandes beinhaltet sieben Projekt- und Tagungsberichte bzw. Projektskizzen sowie sieben Buchrezensionen und endet mit einem Autor*innenverzeichnis.

Der Aufsatz von Franziska Meier beleuchtet die Netzwerke der Jugendmusikbewegung und der bündischen Jugend zwischen 1918 und 1933 und macht ihre personellen und ideellen Verbindungen transparent. Die Autorin verdeutlicht, wie das deutsche Volks- und Chorlied und seine revisionistischen und expansionistischen Inhalte, darunter die gedankliche Vereinnahmung der Ostgebiete, für nationalsozialistische Ideen anschlussfähig wurden. Diese „Gemeinschaftsmusik“ sollte nach dem Ersten Weltkrieg dem „Zerfall des Volkskörpers“ (12) entgegenwirken. Einflussreiche Einzelpersonen der Jugendmusikbewegung wie Georg Götsch setzten sich zudem für die Stärkung des „volksdeutschen“ Einflusses im Osten durch die Musik ein. Die Frage nach der politisch-ideologischen Positionierung der Jugendmusikbewegung behandelt die Autorin insbesondere durch die Analyse der Vereine und Institutionen, wie z.B. des ‚Musikheim‘ in Frankfurt an der Oder, des Grenzvolkshochschulheims ‚Boberhaus‘ in Schlesien, des ‚Finkesteiner Bund‘ – für den sie biologistische und expansionistische Formulierungen beobachten konnte – und anderen.

Heinz Schmitt hebt in seinem Projektbericht hervor, dass die deutsche Jugendmusikbewegung – insbesondere die Wandervogelbewegung – in der Slowakei der Zwischenkriegszeit (1918–1938) unter den Karpatendeutschen ein musikalisches Erbe hinterließ, das noch bis in die heutige Zeit abrufbar blieb. Ebenso wie in anderen Ostgebieten sollte dort die deutschnationale Einstellung und kulturelle Erneuerung aufrechterhalten und angetrieben werden. Neben dem ‚Wandervogel‘ waren noch der ‚Bund der Staffelsteiner‘ und die ‚Finkensteiner Singgemeinde‘ in ähnlicher Weise tätig. Insbesondere die durch den Wandervogel geprägten sudetendeutschen Lehrer zeigten sich sehr einflussreich in der Ethnisierung der Karpatendeutschen, die schließlich eine nationalsozialistische Ausrichtung annahmen. In der späteren nationalsozialistischen ‚Deutschen Jugend‘ wirkten die Inhalte und Traditionen des Wandervogels weiter. Sowohl Meier als auch Schmitt verdeutlichen, dass die personellen Verflechtungen der Jugendbewegungen mit den musikpädagogischen Erneuerungen in den 1920er Jahren zusammenhingen und als der Anfang von mit Musik gebundenen, hoch emotionalisierten und gemeinschaftsbildenden Praktiken und Ritualen im östlichen Europa gelten können.

Zsolt Vitári thematisiert die Politisierung, Emanzipation und Mobilisierung der ungarndeutschen Kinder und Jugendlichen vor und während des Zweiten Weltkriegs und betont dabei das Verhältnis zwischen Krieg und ‚ethnic revival‘. Einflussreiche Akteure wie Jakob Bleyer und ab 1924 der ‚Ungarländische Deutsche Volksbildungsverein‘ konnten im Trianon-Ungarn zunächst nur mäßige Erfolge der ungarndeutschen Gruppenbildung vorweisen. Dementsprechend zeigte die ungarndeutsche Jugend – auch wegen entgegenlaufender staatlicher Initiativen und tradierter (ländlicher) Organisationsvorstellungen – noch keine Anzeichen einer ethnischen Gruppenbildung. Der schließlich Anfang der 1930er Jahre innerhalb des Volksbildungsvereins entstandene „Jugend“-Zweig begründete 1938 mit Hilfe Berlins den ‚Volksbund der Deutschen in Ungarn‘. Der Volksbund beherrschte ab 1939 in vielen Regionen, entgegen der Interessen des Staates und der Kirchen, die Erziehung und ihre Institutionen, die Dorfgemeinschaft und die Familie. Mit der Gründung der ‚Deutschen Jugend‘ im Juni 1941 teilte sich das ungarische Deutschtum in ein konservatives und an Kirche, Staat und die ungarische Gesellschaft gebundenes sowie in ein durch den Volksbund vertretenes Lager. Vitári attestiert dem Volksbund und der Deutschen Jugend jedoch kein glühendes Bewusstsein nationalsozialistischer Ausrichtung, sondern legt den Akzent auf die Entwurzelung ihrer Mitglieder durch den Zuspruch zu einem neuen Deutschtum. In organisatorischer Hinsicht, zumal der Führungskader ständig fehlte, und in der Erziehungstätigkeit blieb die Deutsche Jugend allerdings hinter ihren Erwartungen zurück. Einzig die Kinderlandverschickung war eine Form der intensiven nationalsozialistischen Indoktrination.

Hans-Werner Retterath widmet sich in seinem Beitrag der Volkstumsarbeit des katholisch geprägten ‚Bundes Neudeutschland‘ in Sathmar, seinen Inhalten, Vermittlungsformen und Folgen. Die ungarische Orientierung des katholischen Klerus und die ungarisch gesinnte Bevölkerung dienten als Anlass für den Beginn der Aktivitäten zur Stärkung der „Volksgemeinschaft“ in Sathmar. Sathmarer Jugendliche unternahmen ab 1927 Reisen nach Deutschland, während die Mitglieder des katholischen Neudeutschland bald regelmäßig und häufig nach Sathmar fuhren. Die breite Zustimmung der Mitglieder zum Nationalsozialismus verhinderte nicht sein Generalverbot 1939. Die Volksmusik, darunter auch der Volkstanz, spielte auch in dieser Jugendbewegung eine große Rolle. Hans-Werner Retterath benennt jedoch auch Loyalitätskonflikte und Probleme, etwa zwischen den katholischen Pfarrern und den „Neudeutschen-Reisenden. Unter dem späteren Germanistikprofessor Hugo Moser betrieb der Verband eine rege und auch durch die Mitwirkung von Caritas, dem Gauamt der ‚Deutsch-Schwäbischen Volksgemeinschaft Sathmar‘ und dem ‚Sathmarer Jungschwabenbund‘ gezielt organisierte und dissimilierende „Deutschtums- und Volksbildungsarbeit“.

Das Fahrtentum war auch für die ‚Sächsische Jungenschaft‘ (ab 1922), später eine regionale Gruppierung der ‚Deutschen Freischar‘ (ab 1926), immens wichtig. Friederike Hövelmans veranschaulicht in ihrem Projektbericht die Aktivitäten der Sächsischen Jungenschaft in Ungarn und Jugoslawien zwischen 1921 und 1935. Die Auseinandersetzung mit dem Auslandsdeutschtum erfolgte zunächst parallel mit den Kontakten zu anderen ethnischen Gruppen, so dass es z. B. zwischen der Jungenschaft und den jugoslawischen Pfadfindergruppen zum transnationalen Austausch und gegenseitigen Besuchen kam. Die Hitlerjugend vereinnahmte später gerade diese Erfahrungen und personelle Ressourcen. Personelle Kontinuitäten und ideelle Verflechtungen in den Jugendorganisationen waren seit der Weimarer Zeit typisch und zeigten sich – so die Beiträge in diesem Band insgesamt – trotz der gesellschaftspolitischen Umbrüche.

Über die Kontinuitäten der Interessenpolitik, des Selbstverständnisses und der Organisation schreibt Anne-Christine Hamel, und zwar in Bezug auf die von jungen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland organisierte ‚Deutsche Jugend des Ostens‘ (DJO). Die Autorin ist insbesondere auch an den Spezifika der schwierigen Integration der DJO-Mitglieder in Westdeutschland interessiert und beschreibt Probleme, wie z. B. die Spannungen zwischen einheimischen und vertriebenen Jugendlichen, den „deutschen Rassismus“ oder die familiäre Entwurzelung und den Verlust des Elternhauses. Hamels Untersuchung zeigt, dass die erfahrene Ausgrenzung der vertriebenen Jugendlichen in der BRD die Anpassung der Jugend in Dialekt und Kleidung beschleunigte. Doch die Stigmatisierung wirkte sich auch auf die verstärkte Binnensolidarisierung aus und begünstigte so ebenfalls den organisierten Zusammenschluss der vertriebenen Jugend. Die Rückkehr in die verlorenen Heimatgebiete und die Bewahrung von Traditionen bildeten die politischen und kulturellen Hauptinteressen der DJO. Die DJO konzentrierte sich in ihrer Arbeit auch auf die Jugend in den ehemals von Deutschland besetzten Ländern, verpasste aber den Anschluss an die westdeutsche Nachgeborenengeneration, die ab den späten 1960er Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit forderte. Anhand von Beispielen verdeutlicht die Autorin, wie die DJO immer wieder mit revanchistischen und rechtsextremen Aktionen auffiel und vom Jugendverbandswesen beinah ausgeschlossen wurde. 1974 passte sich die DJO schließlich dem gesellschaftlichen Wandel an, änderte ihren Namen in ‚Deutsche Jugend in Europa‘ und strukturierte sich inhaltlich um.

Auch Lars Busch ist an der Integrationsfrage interessiert und beleuchtet in seinem Projektbericht am Beispiel der Vertriebenen aus Schlesien ihre schwierige Integration in Bayern und Westfalen und die damit einhergehende Abgrenzung der Schlesier als Vertriebenengruppe. Silke Findeisen weist im selben Zusammenhang mit ihrem Bericht zur Ausstellung „Zu Hause und doch fremd“ im Haus Schlesien in Königswinter auf die Notwendigkeit nach neuen Perspektiven auf Flucht, Vertreibung und Integration hin. Deutsche und polnische Vertreibungsschicksale in derselben Ausstellung nebeneinander zu zeigen, ist vor dem Hintergrund der Verwobenheit der Aspekte Vertreibung und Integration dieser beiden Gruppen wichtig, wenn auch provokant. Der wachsende Nationalismus im (östlichen) Europa zeigt bereits seit einigen Jahren geschichtsrevisionistische Tendenzen, welche von der Wissenschaft beobachtet werden. So widmete sich auch eine im vorliegenden Band besprochene Tagung der Fachkommission Volkskunde des Herder-Forschungsrates in Zusammenarbeit mit dem Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie in München und dem Georg Schroubek Fonds Östliches Europa, die im Dezember 2016 in München stattfand, dem Thema „Neuer Nationalismus im östlichen Europa“.

Mit Katharina Schuchardt und den Identitätsaushandlungen der deutschen Minderheit in Polen endet der Band in der Gegenwart. Am Beispiel der Woiwodschaft Opole/Oppeln im Süden Polens veranschaulicht die Autorin, wie die Organisationen der deutschen Minderheit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Identitätsbildung der Jugendlichen eingriffen. Unter diesen „Identitätsmanagern“ (105) ist die größte und aktivste die ‚Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen‘ (SKGD) und auch der Dachverband aller regionalen deutschen Gesellschaften in Polen: ‚Verband der deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaften‘ (VdG). Ihre vordergründigen Ziele seit 2015 sind insbesondere die Förderung der deutschen Sprachkenntnisse und die Wiederbelebung einer deutschen Identität. Auf der Seite der Jugendorganisationen verortete die Autorin allerdings die Identitätsarbeit z. B. des ‚Bund der Jugend der deutschen Minderheit‘ (BJDM) als eine vage Vorstellung ohne konkreten Sinngehalt. Das Interesse der Jugend an der Mitgliedschaft im BJDM orientiert sich stark an den von ihm unterstützten beruflichen Interessen und Verbindungen nach Deutschland. Schuchardt beobachtete, dass das Selbstverständnis als eine andere kulturelle Gruppe oder Abgrenzung von anderen Bevölkerungsgruppen bei den Mitgliedern nur eine marginale Rolle spielen.

Insgesamt deuten die Beiträge auf das disziplinübergreifend weiterhin hohe Interesse nach Erhebung, institutioneller Bewahrung und transgenerationeller Weitergabe von Quellen und Zeugnissen zur Erforschung der Geschichte der deutschen Minderheiten in Ost(mittel)- und Südosteuropa. Davon zeugen auch der Projektbericht von Michaela Nowotnick zu Quellen der rumäniendeutschen Kultur und Literatur und die Projektskizze von Jana Noskowá, Sandra Kreisslová und Michal Pavlásek zu Mechanismen und Strategien der transgenerationellen Weitergabe von Familiengedächtnis.

Es handelt sich in diesem Band um ausgezeichnete und reflektierte Beiträge hinsichtlich der Rolle der bewegten Jugend bei den Gruppenbildungsprozessen der deutschen Minderheit im östlichen Europa. Sie sind ein willkommener Beitrag zur Erforschung der spezifischen Praktiken, die dem breiten gesellschaftlichen Interesse am Auslanddeutschtum in den 1920er und 1930er Jahren folgten. Gewiss hatten die beschriebenen Aktivitäten nicht immer eine geradlinige Entwicklung und stießen bei der ethnopolitischen und weltanschaulichen Mobilisierung der jungen „Deutschen“ in den ungarischen, polnischen, rumänischen usw. Staatsgebieten auf Grenzen. Diesen Grenzen und zusammenhängenden Konflikten sollte eine größere Beachtung zukommen. Zukünftig wäre die Einbeziehung der Perspektive der ost- bzw. südosteuropäischen Jugendverbände und ihrer Mitglieder, ihrer Aktivitäten und Beweggründe, so auch für den ideellen Austausch mit den (reichs-)deutschen Jugendverbänden, willkommen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Assimilation und Integration der „deutschen“ Jugend in den Herkunftsländern einerseits und ihrer ethnischen Mobilisierung und Politisierung andererseits ließe sich dann auch hinsichtlich ihrer späteren Integration in der BRD besser erklären.

Eine sinnvolle Ergänzung zu den Beiträgen wäre auch die Erörterung der Rolle und des Einflusses der Kirchen und ihrer Auslandsorganisationen auf die Arbeit der Jugendverbände. Die Frage nach den geschlechtsspezifischen Aktivitäten und Diskursen innerhalb der Jugendorganisationen wurde bis auf wenige Stellen in den Beiträgen ausgeblendet, was insbesondere im Hinblick auf die weiblichen Organisationen ein unschönes Desiderat bildet.