Aktuelle Rezensionen
Nele Maya Fahnenbruck/Johanna Meyer-Lenz (Hg.)
Fluchtpunkt Hamburg. Zur Geschichte von Flucht und Migration in Hamburg von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
(Histoire 124), Bielefeld 2018, transcript, 259 Seiten mit 2 TabellenRezensiert von Tim Schumacher
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.09.2019
Seit dem ‚Sommer der Migration‘ 2015 ist eine ausgeprägte gesellschaftliche Polarisierung zu beobachten: Auf der einen Seite zeigt sich eine Formierung der neuen Rechten sowohl im Wahlerfolg der AfD, wie in dem Zustrom zu rassistischen und zunehmend auch antifeministischen Demonstrationen und dem Anstieg rassistisch motivierter Gewalt. Auf der anderen Seite lässt sich eine – in der deutschen Geschichte beispiellose – Mobilisierung von Menschen beobachten, die sich mit Geflüchteten solidarisieren. Angestoßen von diesen Auseinandersetzungen, begann die Kooperation zwischen dem ‚Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge‘ und dem ‚Forschungsverbund zur Kulturgeschichte Hamburgs‘ schon 2016 erste Früchte zu tragen: In der gemeinsamen Ringvorlesung „Migration in Hamburg: Flucht und Exil von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ an der Universität Hamburg wurden Vorträge zur Geschichte von Flucht und Migration in Hamburg zur Diskussion gestellt. Die Herausgeberinnen Nele Maya Fahnenbruck, Projektbeauftragte und Bildungsreferentin beim ‚Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge‘, und Johanna Meyer-Lenz, Koordinatorin beim ‚Forschungsverbund zur Kulturgeschichte Hamburgs‘ haben eine Auswahl der Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen der Kultur- und Geisteswissenschaften, ergänzt durch einzelne Artikel aus den Bereichen Journalismus und Literatur, zu dem Sammelband „Fluchtpunkt Hamburg. Zur Geschichte von Flucht und Migration in Hamburg von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart“ zusammengestellt, der 2018 erschienen ist. Damit ist ein lesenswerter Beitrag zur Debatte um Flucht und Migration vorhanden, der neue Perspektiven auf das Thema in der Hansestadt wirft und durch eine Historisierung des Gegenstandes zur „Versachlichung der Diskussion“ (8) beitragen will. Dafür beleuchtet der Sammelband, um den lokalen Fokus Hamburg gruppiert, einen Zeitraum von fast 400 Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Band lässt sich in einer aktuellen Entwicklung innerhalb der Migrationsforschung verorten, die Grenzen, Staaten und Territorien unter den Bedingungen ihrer zunehmenden Fragilität in den Blick nimmt und transnationale Netzwerke fokussiert. Damit rücken auch die länderübergreifenden Praktiken von Migrant*innen, ihr Beitrag für die Entwicklung von Räumen und sozialen Praktiken und damit eine spezifische Form des alltäglichen Konvivialismus [1] in das Zentrum des Erkenntnisinteresses. Außerdem weist Fahnenbruck auf das Spannungsverhältnis hin, das sich aus den fehlenden gemeinsamen Grundlagen von Genderstudies und Migrationsforschung ergibt. Der Sammelband versucht dieses mit einer praxistheoretischen Grundierung, die sich an Konzepten des ‚Doing Gender‘ und ‚Doing Ethnicity‘ orientiert, zu vermitteln.
Die 14 Beiträge sind in vier thematische Blöcke eingeteilt, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen. Von den einzelnen Artikeln werden nur diejenigen Punkte erwähnt, die deutlich machen, was sie zu den formulierten Zielen des Sammelbandes beitragen. Durch die Aufsätze im ersten Teil zieht sich der Fokus auf spezifische Medien und ihre aktive Rolle in der Vermittlung und Verarbeitung von Migrationsprozessen. Alina Laura Tiews wertet das Radioprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks zum Thema Flucht und Vertreibung zwischen 1945 und 1960 aus. Sie stellt fest, dass die Vielschichtigkeit der massenhaften Migration nach Deutschland nach 1945 in den Sendungen immer wieder auf die Erzählung des ‚(Flüchtlings)Trecks aus dem Osten‘ verkürzt wird. Astrid Henning-Mohr wendet sich vier zeitgenössischen Hamburger Filmproduktionen zu, die das Sprechen über Migrant*innen, „die dargestellte Homogenität aller Nichtdeutschen und die Betonung des Anpassungswillens nicht mehr hinnehmen“ (42), wodurch die „Logik[en] des Ausländerdiskurses“ (42) sichtbar werden. Sie arbeitet dabei die jeweiligen transnationalen Netzwerke und Identifikationsprozesse heraus, die jenseits der „bürgerlichen Kulturen des Sesshaften“ (51) verlaufen und damit dem kulturellen Bildrepertoire neue Bestände hinzufügen. Mit seinem starken Schwerpunkt auf die Erörterung eines ‚guten Journalismus‘ fällt der Beitrag von Oliver Schirg ein Stück weit aus dem Rahmen.
Die Artikel im zweiten Teil richten ihren Fokus auf vier verschiedene Biographien. Björn Siegel verfolgt die Geschichte des jüdischen Hamburger Reeders Arnold Bernstein, der vor dem ersten Weltkrieg als Arbeitsmigrant in die Hansestadt kommt und mit der Zeit die Repressionen des erstarkenden Antisemitismus zu spüren bekommt. An der Biographie wird erstens deutlich, wie wichtig wirtschaftliche „Expansion und internationale Vernetzung“ (80) als Gegenstrategien gegen die zunehmende gesellschaftliche Exklusion waren. Zweitens zeigt sich die enge Verknüpfung der Stadtgeschichte von Hamburg mit verschiedenen Migrationsprozessen und drittens lässt sich erkennen, dass Migration „Fragen des kulturellen Selbstverständnisses aufwerfen“ (87) kann. Monica Rüthers hingegen untersucht die autobiografischen Erzählungen von Mary Antin über ihre Reise von Hamburg in die USA Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kontrollen in den Quarantänestationen der Schiffsgesellschaften, denen Antin ausgesetzt war und die sie traumatisierten, verfestigten den Diskurs über Migrant*innen als chronische Überträger*innen von Krankheiten. An dieses Wissen konnten die Nationalsozialist*innen später anknüpfen, indem sie Jüd*innen erst zu Migrant*innen machten und sie dann unter dem Vorwand der notwendigen Desinfektion vernichteten. Lilja Schopka-Brasch vollzieht die Geschichte von Wilhelm Ernst Beckmann nach, der vor den Repressionen gegen die Sozialdemokratie 1934 aus Hamburg geflohen ist. An seiner Fluchtgeschichte wird deutlich, welche Ressourcen ihm bei der Flucht und dem darauffolgenden Leben in Island geholfen haben: seine familiären und parteipolitischen Kontakte, die Hochzeit mit einer Isländerin, sein relativ erfolgreicher Beruf und seine „‚arische‘ Abstammung“ (114). Björn Laser arbeitet heraus, inwiefern die Erfahrungen der eigenen Flucht aus Hamburg vor Verfolgung durch Nationalsozialist*innen die Romane der Exilautorin Alice Ekert-Rotholz beeinflussten. Neben den Motiven des Exils, Asyls und der Fremdheit funktioniert das Bild des fernen Paradieses bei ihr nur ohne Politik, als Zustand des Stillstands und damit als Zuflucht vor der mörderischen europäischen Geschichte.
Unter dem Stichwort der „Transnationale[n] Migration“ (133) sind im dritten Teil Artikel versammelt, die den Fokus auf größere migrantische Zusammenhänge richten. Jorun Poettering vergleicht die Situation portugiesisch-jüdischer Kaufleute in Hamburg im 17. Jahrhundert mit den zeitgleich in Portugal tätigen Hamburger Kaufleuten. Dabei wird deutlich, dass Erstere als Gegenstrategien auf den gesellschaftlichen Ausschluss, mit dem sie konfrontiert waren, gut organisierte Gemeinden entwickelten und Wert darauf legten, „sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen und diese damit nicht nur bewahrten, sondern auch weiterentwickelten“ (155). Friedemann Pestel untersucht die Lebensrealität französischer Emigranten im Hamburg des späten 18. Jahrhunderts, die vor den revolutionären Truppen geflohen waren. Die Frankophilie der Hamburger Oberschicht erleichterte gerade den Wohlhabenden unter ihnen die Ankunft und bildete eine zentrale Voraussetzung zur Herausbildung zahlreicher emigrantischer Unternehmen, die „gleichermaßen emigrantische wie einheimische Nachfrage“ (176) bedienten. Anhand ausgewählter Dokumente von 1800 bis 1848 unterschiedlicher Exilhamburger verfolgt Claudia Schnurmann Äußerungen bürgerlich-männlichen Heimwehs als zentrales Motiv. Das Heimweh tritt dabei einerseits als Chiffre für familiäre Solidarität auf, andererseits werden in den Erinnerungen Elemente der kollektiven Selbstwahrnehmung Hamburgs sichtbar, die sich bis heute finden lassen: Die Betonung der Flusslage des Hafens sowie die „Türme der fünf Hamburger Hauptkirchen“ (194). David Templin fokussiert die Erfahrungen politischer Flüchtlinge aus der Türkei in den 1980er Jahren, die sich mit den Ressentiments in öffentlichen Debatten konfrontiert sahen, in denen selbst rassistische Morde wenig Beachtung fanden. Gleichzeitig waren die Ablehnungsquoten hoch und Abschiebungen an der Tagesordnung. Erst nachdem sich aufgrund der erfolgreichen Selbstorganisation der Migrant*innen, in Vereinen, als Gruppen zur konkreten Selbstverteidigung gegen rechte Gewalt und im „Bündnis türkischer Einwanderer“ (209), der öffentliche Druck erhöhte, änderte sich die Situation.
Im vierten Teil sind Artikel zusammengefasst, die Flucht in einer „persönlichen, das Individuum selbst tief berührenden Erfahrungsdimension“ (10) beleuchten. Rebecca Schwoch verdeutlicht anhand von Lebensgeschichten jüdischer Ärzte aus Hamburg zwischen 1933 und 1945, dass Flucht unterschiedliche Ziele haben kann: Flucht kann ins Exil angetreten werden, kann aber auch ein Leben im Untergrund als Ziel haben. Genauso kann die Situation als so aussichtslos empfunden werden, dass nur „die Flucht in den Tod“ (227) bleibt. Maja Momić schreibt über die „Lebens- und Wohnsituation von Geflüchteten“ (229), die in der Zeit um 2015 nach Hamburg gekommen sind. Sie kann zeigen, dass sich in dem Zweckrationalismus, der die Unterkünfte für Geflüchtete prägt, den eine „Kultur der Überwachung und Kontrolle“ (236) auszeichnet, die globale Tendenz der systematischen Aussperrung der Migration aus den Städten widerspiegelt. Der Sammelband schließt mit dem Bericht von Julie Lindahl über ihre 6-jährige Reise, in der sie versucht, die Verstrickung ihrer Familie in den Nationalsozialismus aufzudecken. Sie stößt auf eine „Post-Truth era“ (254), die Zeit, in der Leute sich entscheiden in einer alternativen Realität zu leben und die Vergangenheit zu verleugnen.
Der Sammelband ist ein gelungenes Beispiel für eine an einem lokalen Fokus verankerte Textsammlung zur Frage nach Migration, Flucht und Ankunft, die durch eine mehrere Jahrhunderte umfassende Auswahl an Themen dem Alarmismus in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen viele Beispiele für die Historizität von Migrationsprozessen entgegenhält. Eine der zentralen Erkenntnisse dabei ist, dass „Migration in transnationale Räume [...] ein bestimmender Faktor in der Geschichte Hamburgs, umgekehrt [...] Hamburg ein wirkmächtiger Akteur transnationaler Migration“ (11) war und ist. Für die aktuelle Situation besonders interessant erscheint mir der Artikel von David Templin, der zeigt, wie sich politische Konstellationen durch die Selbstorganisation von Migrant*innen verändern können. Man darf außerdem auf weitere empirische Ergebnisse der Untersuchungen von Maja Momić gespannt sein. Unklar bleibt, warum der Sammelband sich zwar dem „sozialkonstruktivistischen Ansatz [...] von Doing Gender“ (20) verschreibt, gleichzeitig durchgängig explizit allein „die männliche Schreibweise“ (10) für die Beschreibung aller Geschlechter wählt.
Anmerkung
[1] Frank Adloff u. Volker M. Heins (Hgg.): Konvivialismus. Eine Debatte. Bielefeld 2015.