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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Peter Payer

Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914

Wien/Köln/Weimar 2018, Böhlau, 313 Seiten mit Abbildungen
Rezensiert von Michael Münnich
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.09.2019

Die Auseinandersetzung mit der klanglichen Dimension historischer und gegenwärtiger Alltagswelten hat Konjunktur. Ob in etablierten geisteswissenschaftlichen Fächern oder jungen transdisziplinären Feldern wie den Sound Studies oder Sonic Arts: Der komplexen Welt des Auditiven und ihrer Erforschung wird spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts interdisziplinär große Aufmerksamkeit zuteil. Auch im Bereich des Urbanen lässt sich in den letzten Jahren eine verstärkte Hinwendung zu Geräuschen und Klängen feststellen. Aspekte des Akustischen sind heute fester Bestandteil von Stadtentwicklung und Städtebau. Die klanglichen Eigenschaften von Baumaterialien und die akustische Gestaltung öffentlicher Räume werden ebenso diskutiert wie klangliche Auswirkungen von Eingriffen in städtische Infrastrukturen. Auch die (jüngere) ethnografische Stadtforschung hat die sinnliche Wahrnehmung und insbesondere das Hören als Instrument der Wissens- und Erkenntnisgenerierung für sich entdeckt. Neben der steigenden Zahl an wissenschaftlichen Publikationen zum Thema spiegelt sich dieser Trend auch in zahlreichen städtischen (Forschungs-)Projekten zwischen Kunst und Wissenschaft wider.

In seiner jüngsten Monografie spürt Peter Payer dem Klang Wiens um die Jahrhundertwende nach. Damit bleibt der Historiker und Stadtforscher sowohl geografisch als auch zeitlich auf vertrautem Terrain und knüpft an seine früheren Arbeiten an der Schnittstelle von Sinnes- und Stadtgeschichte Wiens zur Zeit der auslaufenden Donaumonarchie an. Payer fokussiert jene folgenreiche Epoche, in der sich die Stadt zur Metropole mit mehr als zwei Millionen EinwohnerInnen entwickelte und sich infolge rasanter industrieller und technischer Entwicklungen auch ihr akustisches Erscheinungsbild drastisch veränderte. Um auszumachen, wie der Wandel der klanglichen Bedingungen von den Menschen in der Stadt wahrgenommen beziehungsweise beurteilt wurde und welche Geräusche den Wiener Alltag zu jener Zeit prägten, ist der Rückgriff auf zeitgenössische Schriftquellen ebenso sinnvoll wie unumgänglich. Tonaufnahmen aus der Phase der Großstadtwerdung Wiens sind praktisch keine vorhanden. Stattdessen stützt sich Payer auf eine Fülle von Quellen, die eine indirekte Annäherung an die urbane Geräuschkulisse und ihre Rezeption erlauben, etwa literarische Beschreibungen, Reiseberichte, Zeitschriftenartikel, Gesetzestexte oder Beschwerdebriefe. Anhand der Dokumente zeichnet der Autor den intensiv geführten Diskurs um den „polyphonen Lärm der Großstadt“ (66) nach und legt dar, auf welche Weise den enormen akustischen Umbrüchen mit all ihren neuen und bis dato noch nicht dagewesenen Klängen und Geräuschen seinerzeit begegnet wurde.

Ausgehend von einem historischen Abriss über die Auseinandersetzung mit dem Hören und die Erforschung sinnlicher Wahrnehmungen, skizziert Payer in der „Annäherung“ (23) an die Thematik die wachsenden Gegensätze zwischen Stadt und Land im 19. Jahrhundert. Die rasch fortschreitende Urbanisierung, neue Verkehrsmittel und veränderte Arbeitstechniken bewirkten notwendigerweise einen steigenden Geräuschpegel und trugen somit zu einer zunehmenden Diskrepanz zwischen ruralen und urbanen Klanglandschaften bei. Der Autor umreißt die Fortschritte auf dem Gebiet der akustischen Forschung zu jener Zeit und macht deutlich, wie neue Erkenntnisse der Akustik, Physiologie oder Psychologie allmählich die Vorstellung und das Verständnis vom Hören veränderten.

Der „Hörraum Wien“ (61) ist Gegenstand des folgenden Kapitels, in dem Payer zunächst auf die einstigen Rahmenbedingungen des Hörens in der Stadt eingeht. Hier zeigt sich, wie relevant der rapide Ausbau der städtischen Infrastruktur und die damit einhergehenden Veränderungen im urbanen Gefüge Wiens auf akustischer Ebene waren. Die wachsende „steinerne Stadtlandschaft“ (63) mit immer neuen Häusern und die mit lautem Kopfsteinpflaster beschlagenen Straßen war prädestiniert, Schallimpulse vielfach zu reflektieren und zu brechen, was die sukzessive lauter werdende Klangkulisse noch verstärkte. Die Wandlung der städtischen Lautsphäre war zudem geprägt von veränderten Arbeitsbedingungen und neuen Tätigkeitsfeldern, die den Abend und die Nacht in steigendem Maße zur Zeit der Arbeit und Betriebsamkeit machten. Mit dem Versuch einer akustischen Topografie erarbeitet Payer anschließend ein „heterogenes Muster an unterschiedlichen Geräuschzonen“ (107), das sich um die Jahrhundertwende in Wien herausbildete. Das Klangbild der Stadt und seine Wahrnehmung werden anhand überwiegend bürgerlicher Stadtbeschreibungen rekonstruiert und mit Blick auf einzelne ‚Hörzentren‘ (z. B. Innenbezirke, agrarische Gebiete, Vergnügungszentren etc.) akustische Charakteristika der Bezirke aufgezeigt.

Dass das enorme Städtewachstum mit seinen vielfältigen akustischen Auswirkungen nicht ohne „Konfrontationen“ (122) vonstatten ging, liegt auf der Hand. Lärm wurde vom individuellen zum sozialen Problem und – ebenso wie die Nervosität der Zeitgenossen – zum Signum der modernen Großstadt. Als „schlimmer Feind der Gesundheit“ (127) rückte er ins Zentrum bürgerlicher Großstadtkritik und medizinisch-hygienischer Debatten. Stille und Distanziertheit wurden zur obersten BürgerInnenpflicht und dienten nicht zuletzt dazu, sich von dem als abgestumpft und prinzipiell zu laut geltenden Proletariat zu distanzieren. Von entsprechend großer Bedeutung waren bürgerliche Bemühungen um akustische Disziplinierung, die sich mitunter in einer neuen Hochachtung der Ruhe und des Schweigens als wesentlichem Kriterium für den zivilisierten Stadtmenschen äußerte.

Im Kapitel „Kampf und Flucht“ (141) verdeutlicht Payer, wie sehr sich der Diskurs um die Lärmproblematik im frühen 20. Jahrhundert intensivierte. Angestoßen durch Theodor Lessings 1908 veröffentlichtes Buch „Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“ formierte sich auch in Wien eine Lärmschutzbewegung, die in klassenkämpferischer Manier intensiv gegen die „Lärmplage“ (148) agitierte. Auch hier stand der vorgeblich mutwillige und überflüssige „Lärm des Pöbels“ (142) im Vordergrund, dem es – mehr noch als der verkehrsbedingt steigenden Geräuschdichte – entschieden entgegenzutreten galt. Der elitäre Habitus und die einseitige soziale Ausrichtung mögen ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die Bewegung letztlich scheiterte.

Woran sich die lärmbedingten Konflikte jener Zeit im Detail entzündeten, wird im Folgenden anhand einer Aufschlüsselung des „Wiener Lärms“ (154) gezeigt. An der Spitze stand – wie in anderen Großstädten auch – der zunehmende Verkehrslärm, der sich gleichermaßen in Motoren- und übermäßigen Hupgeräuschen wie im „Gekreisch von Straßen- und Stadtbahn“ (161) äußerte. Auch die wachsende Zahl der FahrradfahrerInnen trug durch intensive Nutzung der Fahrradklingeln ihren Teil dazu bei. Ebenso sorgte der Krach der vielen Baustellen und Pferdefuhrwerke sowie von tobenden Kindern und Straßenmusikern für Unmut und die Bandbreite an häuslichem Lärm in den hellhörigen Stadthäusern erregte besonders in den bürgerlichen Innenstadtbezirken die Gemüter. So zählten das häufig vernehmbare Klopfen von Teppichen und Kleidern, Grammophon- und Klaviermusik, Schreien und Rufen zu den am häufigsten beklagten akustischen Emanationen in einer der als am lautesten empfundenen Städte des Kontinents.

Die Bemühungen, wirksame Strategien zur Eindämmung des Lärms zu entwickeln, fanden Ausdruck in einer Reihe von baulichen, technischen und juristischen Gegenmaßnahmen. Das holprige und laute Kopfsteinpflaster wich allmählich dem weit geräuschärmeren Asphaltbelag und die bisher üblichen Fahrzeugreifen aus Vollgummi, Metall oder Holz wurden durch luftgefüllte Gummireifen ersetzt. Auch lärmreduzierte Elektroautos und -busse waren in dieser frühen Periode der Automobilisierung bereits vereinzelt auf den Straßen Wiens unterwegs, konnten sich aufgrund ihrer Störungsanfälligkeit und der hohen Kosten letztendlich jedoch nicht etablieren. Wenngleich es etliche gesetzliche Regelungen zur Lärmminderung gab (z. B. Geschwindigkeitsbeschränkungen, die Einschränkung akustischer Warnsignale im Straßenverkehr oder Erlasse gegen unbotmäßige Nachbarschaftsgeräusche), blieb deren Wirkung aufgrund des zurückhaltenden Einschreitens der Behörden eher bescheiden. Mit der Zeit nahmen sich Stadtplanung und Städtebau Fragen der Bauakustik an und begannen, sich mit Lärmschutztechniken und Möglichkeiten der Schallisolierung zu befassen. Allerdings sollte sich die junge Disziplin erst nach dem Ersten Weltkrieg etablieren, so dass die Lärmfrage auch in der damaligen Stadtplanung eine noch deutlich untergeordnete Rolle spielte. So blieb dem lärmgeplagten Stadtmenschen mitunter nur die kurzzeitige Flucht in die Sommerfrische, deren akustischer Erholungswert allerdings schon zum damaligen Zeitpunkt angezweifelt wurde.

Knapp beleuchtet Payer im Anschluss die „Apologien“ (223) der zunehmenden Vielfalt der urbanen Geräuschkulisse. Obwohl in ungleich geringerem Maße, hat es – insbesondere aus Kreisen der künstlerischen Avantgarde – durchaus auch positive Reaktionen auf die veränderten akustischen Konditionen um die Jahrhundertwende gegeben. Allerdings fehlte es in Wiens KünstlerInnen- und Intellektuellenkreisen an der Euphorie, wie sie etwa die italienischen Futuristen um Russolo und Marinetti oder die russische Revolutionsmusik dem neuen „Getöse der Welt“ (224) in Zeiten des industriellen, gesellschaftlichen und politischen Umbruchs entgegenbrachten.

Im folgenden „Ausblick“ (227) zeichnet der Autor Tendenzen im Umgang mit Lärm vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart nach und betont die steigende Anerkennung des Akustischen als elementarer Bestandteil unseres Lebensalltags auf unterschiedlichen Ebenen (Wissenschaft, Politik, Stadtplanung etc.). Payer resümiert, dass das Bedürfnis nach Ruhe – wenn auch unter veränderten Vorzeichen – heute ebenso Teil öffentlicher Diskurse und Aushandlungsprozesse ist wie vor einhundert Jahren. Damit bekräftigt er seine eingangs formulierte These, dass neue Strategien im Umgang mit Lärm, wie sie die Modernisierung und Metropolwerdung Wiens einforderte, im Wesentlichen bis heute aktuell sind.

Mit „Der Klang der Großstadt“ legt Peter Payer eine fundierte Analyse der akustischen Dimension Wiens zwischen 1850 und 1914 und des damit einhergehenden Hör- beziehungsweise Lärm-Diskurses vor. Der Autor zeigt anschaulich, wie eng Städtewachstum, technischer und gesellschaftlicher Wandel und tiefgreifende Veränderungen der urbanen Klanglandschaft verflochten waren und sich gegenseitig bedingten. Die Herangehensweise über Schriftquellen von ‚Ohrenzeugen‘ wird durch sorgfältig recherchierte Zahlen und Fakten zur Stadtentwicklung Wiens ergänzt. Dieser Ansatz erlaubt es, Handlungskontexte und Strategien im Umgang mit den veränderten akustischen Bedingungen zu rekonstruieren sowie die Historizität von Hörgewohnheiten und akustischer Wahrnehmung vor dem Hintergrund der ungeheuren Dynamik dieser Zeit herauszuarbeiten. Ausführlich nimmt die Arbeit die auditive Kultur einer der wichtigsten europäischen Metropolen um 1900 in den Blick und stellt somit einen wertvollen und überaus lesenswerten Beitrag zur Stadtgeschichte Wiens aus akustischer Perspektive dar.