Aktuelle Rezensionen
Birgit Angerer (Hg.)
Kultur Erben. Historische Kulturlandschaft & ihre Nutzungsformen
(Schriftenreihe des Oberpfälzer Freilandmuseums Neusath-Perschen und des Oberpfälzer Kulturbundes 7), Regensburg 2018, Morsbach, 143 Seiten mit zahlreichen AbbildungenRezensiert von Helmut Groschwitz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.09.2019
Was versteht man unter „historischer Kulturlandschaft“, woran lässt sie sich festmachen, inwieweit lässt sie sich als Kulturerbe begreifen, welche Bedeutungen hat sie, wie kann sie bewahrt werden und welche Rolle spielt hierbei zeitgenössisches Bauen? Diesen und weiteren Fragen widmete sich das fünfte Symposium der Reihe „Heimat, deine Bauten“ im Oberpfälzer Freilandmuseum Neusath-Perschen unter dem Titel „Kultur Erben. Historische Kulturlandschaft & ihre Nutzungsformen“. Die Frage nach der Bewahrung der Kulturlandschaft, sei es aus ästhetischen Gründen oder als Zeugnis historischer Lebenswelten, ist alles andere als neu, gilt sie doch als eines der zentralen Anliegen der „Heimatschutzbewegung“ um die vorletzte Jahrhundertwende. Gleichzeitig findet sie in den internationalen Übereinkommen zum Schutz von Kulturerbe auf Ebene der UNESCO oder des Europarates zwar Beachtung, aber nicht jene Aufmerksamkeit, die das Weltkulturerbe oder das immaterielle Kulturerbe genießen. Und gerade auf regionaler Ebene fehlen häufig die entsprechenden Nominierungen beziehungsweise die nötige Aufmerksamkeit. Dieser Bewusstseinsbildung widmet sich der Tagungsband in zwölf Beiträgen mit einem interdisziplinären Blickwinkel.
Den Rahmen beschreibt die Herausgeberin und Museumsleiterin Birgit Angerer in der Einleitung, wenn sie nach den Wechselwirkungen von Mensch, Landschaft und Bauten sowie dem Umgang mit der Kulturlandschaft fragt. Wie lassen sich diese weiter und neu nutzen, was bedeutet der Verlust der Kulturlandschaft für Mensch und Natur? Das Freilandmuseum bot für das Symposium die ideale Umgebung, da dort exemplarisch historische Kulturlandschaften rekonstruiert wurden und in der Pflege selbiger Wissen und Können im Umgang mit der Natur bewahrt werden.
Was genau sich in Bezug auf die Kulturlandschaft unter dem meist diffus verwendeten Begriff des Kulturerbes verstehen lässt, fragt Helmut-Eberhard Paulus: „Kann man Kultur vererben? Eine Tabu-Frage zum Kulturerbejahr 2018“. Wenn Kulturlandschaft das Ergebnis einer Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur ist, was ist dabei das Kulturerbe? Der materiellen Seite der Landschaft voraus gehen Interaktionen, Prozesse und Wandlungen, weswegen eine Kulturlandschaftspflege, die nur den Schutz der jetzigen Form im Blick hat, scheitern muss. Die Bedrohungen sind schnell genannt: (agrar-) industrialisierte Landwirtschaft, Verstädterung und „Veränderung der Dörfer zu Stadtrandsiedlungen mit toten Ortskernen“ (9) sowie eine „Überspitzung des ökonomischen Denkens bis tief hinein in den öffentlichen Raum, dort zu Lasten des früheren Gemeinwohl-Denkens“ (10). Als Lösung, zumindest als Desiderat, schlägt Paulus vor: „Es geht um Vererben und Ererben, also um Weitergabe und Annahme, um Wiederaufnahme und Fortführung, um Rezeption und Erneuerung, letztlich um ein lebendiges Tradieren im Wege von Erinnerung und Gestaltung zugleich.“ (11) Landschaft ist nicht einfach nur da, sondern stets prozessual und bedarf dabei einer ständigen Weitergabe von Wissen und Werten. Dies bedarf neben landschaftspflegerischen Maßnahmen vor allem des Transfers von Kultur (hier im Sinne einer Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur) in Form von Erinnerung, Bildung und der Aushandlung und Vermittlung von Werten. Denn die Weitergabe bleibe nutzlos, wenn es keine entsprechende Aneignung gebe: „Kann man Kultur vererben? Die Antwort lautet: Im Sinne der gegenwärtigen Vorstellungen von Erbschaft und Erben sicher nicht! Doch ein Erben im Sinne des Erwerbens und Erarbeitens von Kultur ist sicher möglich. Es erfordert die besondere Fähigkeit zur Rezeption, zur inhaltlichen Aneignung, und diese will erlernt sein. Ein Vererben von Kultur – und das ist unser Part – funktioniert also nur, wenn es gelingt, die nächsten Generationen zum Erben zu befähigen.“ (18)
Den Vermittlungsauftrag führt Thomas Gunzelmann nach einer Vertiefung der Begriffsbasis weiter: „Kann man Kulturlandschaft vermitteln? Und wenn ja, welche?“ Anhand verschiedener Beispiele (u. a. dem Sharing Heritage 2018-Projekt „Vielfalt in der Einheit – Zisterziensische Klosterlandschaften in Mitteleuropa“) zeigt er die Kulturlandschaft als ein Handlungsfeld, als physisch-materielles Objekt, das greifbar und veränderbar, ebenso mit Bedeutungen und Repräsentationen aufgeladen ist und zugleich ein Produkt individueller Wahrnehmung und sozialer Interaktion (20). In diesem Sinne „ist zweifelsfrei zunächst jede Landschaft Kulturlandschaft, städtische ebenso wie ländliche Räume, eine Auffassung von Landschaft also, die das im allerweitesten Sinne kulturelle Wirken des Menschen im Raum und die dabei entstandenen materiellen Hinterlassenschaften in den Vordergrund stellt“ (21). Als historische Kulturlandschaft sieht er „jenen Teil der Kulturlandschaft [...], der ‚sehr stark durch historische, archäologische, kunsthistorische oder kulturhistorische Elemente und Strukturen geprägt wird.‘ Diese seien ‚dann historisch, wenn sie in der heutigen Zeit aus wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder ästhetischen Gründen nicht mehr in der vorgefundenen Weise entstehen, geschaffen würden oder fortgesetzt werden, sie also aus einer abgeschlossenen Geschichtsepoche stammen‘.“ (21) Damit beschreibt er eine der Grundspannungen in der Vermittlung von Kulturlandschaften: Dass sie einerseits historisch begründet sind, andererseits in der Gegenwart neu kontextualisiert und kreativ weiterentwickelt werden müssen. Gleichzeitig wird die Kulturlandschaft hierbei zum kulturellen Gedächtnis und Wissensspeicher, den es zu erschließen gilt.
Die besondere Rolle der Landschaft für das häufig genannte Empfinden von Beheimatung greift Christian Stiersdorfer auf: „Landschaft und Heimat – Brauchen wir dazu den Naturschutz?“ Haben Heimat-, Landschafts- und Naturschutz auch gemeinsame Wurzeln, so kommt dem Naturschutz eine ambivalente Rolle zu. Anhand des wiederkehrenden Motivs des Blicks von der Burgruine Donaustauf zeigt Stiersdorfer auf, dass „[d]er Naturschutz […] ein Vermittlungsproblem [hat]: Auch das gegenwärtige Landschaftsbild kann durchaus als attraktiv empfunden werden und Teil eines positiven Heimatempfindens sein. Wer die alte Vielfalt der Natur selbst nicht aktiv und bewusst erlebt hat, wird diese auch nicht vermissen.“ (34) Auch hier wird wieder die Frage nach Bewusstseinsbildung und Wertevermittlung sowie der damit verbundene Bildungsauftrag sichtbar, aus denen heraus Wahrnehmung und Bewahrung von historischer Kulturlandschaft gefördert werden können.
Drei Beiträge widmen sich der Frage, wie sich zeitgenössisches Bauen mit einer entsprechenden modernen Formensprache und Funktionalität kreativ und konstruktiv in eine historische Kulturlandschaft einfügen kann. Peter Brückner („Gestern – Heute – Morgen. Architektonische Antworten aus der Region“) verdeutlicht anhand von Beispielen anschaulich, wie Material, Struktur und Formgebung eine Vermittlerrolle zwischen historischen Beständen und modernen Ansprüchen ermöglichen. Susanne Waiz zeigt anhand „Der nicht mehr gebrauchte Stall – Eine Recherche in Südtirol“ wie sich ein obsolet gewordener Bestandteil eines Gebäudekomplexes geschickt umfunktionieren lässt, ohne die historische Formensprache zu beschädigen. Auch das verdeutlicht den Ansatz der Aneignung von Kulturerbe, die sowohl den vergangenen Wissensbestand in sein Recht stellt und gleichzeitig eine moderne Funktionalität ermöglicht. Dass dies auch im größeren Maßstab möglich ist, zeigt Vinzenz Dufter mit „De[m] Vetterhof bei Lustenau – Neues Bauen im landschaftlichen Kontext“. Wie kann eine moderne Hofanlage, die ganz andere Funktionen als ihr historisches Pendant benötigt, so gestaltet werden, dass sie sich gut in die historische Kultur- und damit Baulandschaft einfügt? Hier wird zum einen der Tatsache Rechnung getragen, dass funktionalistische Aspekte auch bei historischen Bauformen meist eine große Rolle spielten. Was ist hierbei das Kulturerbe – die historische Form oder ein konstruktives Aushandeln zwischen Funktionen und naturräumlichen Gegebenheiten? Ein angemessener Baukörper und naturnahe Materialien erlauben eine vermittelnde Lösung und zeigen konkret, wie sich Kulturerbe kreativ aneignen lässt.
Vier Beiträge ermöglichen praxisbezogene Einblicke in das Agieren mit und in Kulturlandschaften. Bettina Kraus verdeutlicht Konzeption, Aufbau und Pflege rund um „Die rekonstruierte Kulturlandschaft des Oberpfälzer Freilandmuseums Neusath-Perschen“. Damit markiert sie auch die Erweiterung der Aufgaben von Freilichtmuseen, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend immaterielles Kulturerbe in das kulturelle Gedächtnis der Museumslandschaft integriert haben. Gerade vor dem Hintergrund des Bildungsauftrages ermöglicht ein solches Inventar von Kulturlandschaftselementen, das Wissen um die naturräumlichen Gegebenheiten und die zugehörigen Handwerkstechniken einen vielschichtigen Zugang, der so nur im Museum möglich ist. Eingebunden in die Pflegemaßnahmen sind lokale Landwirte, womit im partizipativen Austausch das Kulturerbe auch über das Museum hinaus gesichert wird. Welchen Herausforderungen sich eine moderne Landwirtschaft stellen muss, verdeutlicht Fritz Heiß: „Wie hat sich die Kulturlandschaft verändert? Aus der Sicht eines Landwirts“. Den akademischen, landschafts- und kulturpolitischen Konzepten setzt er anschaulich die Notwendigkeiten eines agrarökonomischen Betriebes zur Seite, der auf seine Weise um den richtigen Weg ringt. Im Sinne eines Gute-Praxis-Beispiels verdeutlicht Thomas Schwarz mit „Land aus Bauernhand – Erhalt der Kulturlandschaft im Oberpfälzer Jura durch das Juradistl-Projekt“, wie die Pflege einer historischen Kulturlandschaft inklusive Fauna und Flora sowie die damit verbundenen Kulturtechniken auch ökonomisch erfolgreich sein können. Entscheidend dabei sind mehrfache Innovationen in Wirtschaftsweise und Marketing, über die historische und „traditionelle“ kulturelle Ausdrucksformen kreativ für die Zukunft weiterentwickelt werden können. Das Beispiel steht ebenso für die Möglichkeiten eines nachhaltigen Landschaftsmanagements, in dem historisches Wissen aufgegriffen wird, als auch für die Frage, welche neue Kulturlandschaft dadurch entsteht. Ebenfalls im Sinne eines Landschaftsmanagements und konkret auf eine politische Agenda hin ausrichtet fragt Marianne Badura: „Wohin verschwindet die Kulturlandschaft? Ökologische und gesundheitliche Aspekte beim Umgang mit Kulturlandschaft.“ Sie verdeutlicht, dass es bei der historischen Kulturlandschaftspflege über ästhetische und historische Zugänge hinaus vor dem Hintergrund eines Gemeinwohlverständnisses sehr konkrete Anforderungen an die Politik gibt.
Abschließend werden zwei Inventarisierungsprojekte vorgestellt, die schon über viele Jahre wertvolle Arbeit geleistet haben. Alfred Wolfsteiner behandelt „Kulturlandschaft und Altstraßen – Das Projekt Andiamo“ und Peter Morsbach „Flur- und Kleindenkmäler. Wegmarken der Kulturlandschaft“. Sie widmen sich den nötigen erfassenden Arbeiten und der damit verbundenen, oft kleinteiligen Wissensproduktion mit historischen Quellen. Eben diese Landmarken bieten eine wertvolle Möglichkeit, das Gedächtnis einer Landschaft sichtbar zu machen, Geschichte zu verorten und historische Lebenswelten (auch und gerade in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur) anschaulich zu vermitteln.
Die versammelten Beiträge machen deutlich, dass die Kulturlandschaftspflege ein konstruktives Zusammenspiel verschiedener Akteure und Konzepte benötigt, um gelingen zu können. Konsequent ist von daher der interdisziplinäre Zugang des Bandes, der auch die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zwischen den Nutzungsansprüchen und Wertzuschreibungen sichtbar macht. Kulturlandschaft ist kein Bestand, vielmehr ein Handlungs- und Aushandlungsraum, in dem sich verschiedene Interessen überschneiden. Historische Kulturlandschaften stellen auch das Ergebnis kulturellen Handelns in Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft dar, bilden darin einen Wissensspeicher, der für Fragen der Gegenwart nutzbar gemacht werden kann: Was lässt sich jenseits der Erhaltung aus der alten Kulturlandschaft für die neue lernen? Die Beiträge des Bandes machen die enorme Bedeutung von Wissen, Bildung und Wertevermittlung für das Verstehen und das Erhalten einer Kulturlandschaft sichtbar, der Fokus als Kulturerbe lässt sich damit unmittelbar als Bildungsauftrag verstehen; das erlaubt eine kreative und wertschätzende Weiterentwicklung einer historischen Kulturlandschaft. Für eine Begriffsschärfung und für anschauliche Beispiele sei der vorliegende Band wärmstens empfohlen.