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Katharina Eisch-Angus

Absurde Angst – Narrationen der Sicherheitsgesellschaft

(Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen), Wiesbaden 2019, Springer VS, 670 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Bernd Rieken
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.10.2019

Die Autorin befasst sich in ihrer monografischen Habilitationsschrift mit der Dynamik zwischen Sicherheit und Unsicherheit, kurzum mit dem Stellenwert der Angst im alltäglichen Handeln, Erleben und Erzählen. Sie geht davon aus, dass der Begriff Sicherheit, welcher immer auch das Unsichere mit beinhalte, dazu führe, „dass alltägliche Kommunikation beständig zwischen Sicherheit und Unsicherheit changiert“ (14). Denn je mehr man sich um Sicherheit bemühe, desto mehr scheine Verunsicherung um sich zu greifen (15). Ein illustratives Beispiel ist der vom lebensmüden Copiloten hervorgerufene Flugzeugabsturz des Germanwings-Flugs im März 2015 im südfranzösischen Département Alpes-de-Haute-Provence: Der Flugkapitän, der kurz außerhalb des Cockpits war, wurde vom Copiloten nicht mehr hereingelassen, was dadurch ermöglicht wurde, dass aus Angst vor Terroristen, die Piloten bedrohen könnten, seit geraumer Zeit Cockpits hermetisch abgeriegelt werden (46–51).

In der die Gegenwart charakterisierenden Sicherheitsgesellschaft gehe es nicht mehr um das Alternieren zwischen Normalität und Veränderung, sondern um die ständige Ambivalenz zwischen Sicherheit und Unsicherheit, weswegen „die liminale Übergangssituation, die ebenso zur Kultur gehört wie die strukturierte Ruhe des Alltäglichen, [...] totalisiert und auf Dauer gestellt“ werde (32). Das sei „absurde Angst“, wobei die Autorin Bezug nimmt auf Albert Camus‘ Begriff des Absurden. Im Hintergrund stehe „die Subjektivierung gouvernementaler Sicherheitsregime“ (308), die „historische und ideologische Basis“ seien die „neoliberalen Kontroll- und Subjektivierungsregimes“ und deren Anforderungen an „Flexibilität und Mobilität, Sichtbarkeit, Individualisierung und Subjektivierung“ (59).

Doch existierten auch Gegenstrategien, die Katharina Eisch-Angus indes weniger bei Camus verortet, dessen Buch ja bekanntermaßen mit dem Satz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ endet, denn die Autorin sieht in ihm einen Vertreter neuzeitlicher Rationalität und damit von Gewalt, weswegen er in den „Zumutungen absurder Paradoxien [...] selbst affirmativ [...] gefangen“ sei (598). Vielmehr betrachtet sie die Kraft des Humors als Gegenkraft, er sei „das Schmiermittel des Widerstands und der kleinen Revolten des Alltags, wobei das Lachen sich am Paradoxen entzündet und Momente seiner Überwindung erlebbar macht“ (618).

Wichtige theoretische Bezugspunkte sind für die Autorin neben Michel Foucault der hierzulande wenig rezipierte Literaturwissenschaftler Jurij Lotman, der für Eisch-Angus deswegen bedeutsam ist, weil er Kultur von ihren Grenzbereichen beziehungsweise liminalen Übergangssituationen aus beleuchtet. Auch nimmt sie Anleihen bei Roland Barthes‘ „Mythen des Alltags“ und nicht zuletzt in der volkskundlichen Erzählforschung, die sich vor allem in Gestalt der Sage und der modernen Sage mit den Grenzbereichen zwischen „Innen“ und „Außen“, zwischen Sicherheit und Unsicherheit beschäftigt.

Als Quellen – die in der BRD und in Großbritannien erhoben wurden – dienen der Autorin Interviews, vor allem aber ihr Feldforschungstagebuch, das in seiner Ausführlichkeit seinesgleichen sucht und nicht nur deutlich macht, wie inspirierend derartige Aufzeichnungen sein können, sondern auch, dass man gewissermaßen nur vor die Haustür zu treten und mit „Leuten“ ins Gespräch zu kommen braucht, um „Material“ zu generieren, wenn man sich mit einem Gegenstand befasst, der für eine Vielzahl von Menschen bedeutungsvoll ist.

Das Themenfeld Angst, Unsicherheit und Sicherheitsbedürfnis ist nichtsdestotrotz in der Europäischen Ethnologie bisher explizit kaum beackert worden, sieht man von Konrad Köstlins Dissertation „Sicherheit im Volksleben“ aus dem Jahre 1967 ab und von einigen neueren Arbeiten zur Katastrophenforschung, etwa den Dissertationen von Reinhard Bodner („Berg/Leute“, 2018, zum Beispiel S. 175: „Nach dem ersten Hineinfahren der Angst in die Glieder schien demnach in einzelnen Fällen so etwas wie ‚Kopflosigkeit‘ zu drohen.“) und Sandro Ratt („Deformationen der Ordnung“, 2018, zum Beispiel S. 203: „Zu diesen schmerz-, angst- und panikverursachenden Erfahrungen [...] kam vielfach auch eine beklemmende Furcht vor dem scheinbar nahenden Ende.“) oder der Habilitationsschrift des Rezensenten („‚Nordsee ist Mordsee‘“, 2005, zum Beispiel S. 342: „Die Angst vor dem Meer erweist sich somit als eine Struktur von langer Dauer.“).

Davon abgesehen, wird auch in Nachbardisziplinen der Gegenstand wenig behandelt, Ausnahmen sind vor allem Jean Delumeaus „Angst im Abendland“ (1985) und neuerdings Max Dehnes „Soziologie der Angst“ (2017) sowie das von Lars Koch herausgegebene interdisziplinäre Handbuch über Angst (2013). Daher leistet die Autorin durchaus Pionierarbeit; sie macht deutlich, wie sehr das Thema die Menschen beschäftigt, das sie unter anderem in der Nachbarschaft, im alltäglichen Erzählen oder bei Einbruchs-, Unfall- und Katastrophenerfahrungen vorfindet.

Einige kritische Anmerkungen seien dennoch erlaubt: Es wäre möglicherweise bereichernd gewesen, Literatur aus der Sicherheitsforschung und vor allem aus der Psychologie beziehungsweise Tiefenpsychologie zu rezipieren, denn Letztere ist jene Disziplin, in welcher Angst – im Gegensatz zu den meisten anderen Wissenschaften – einen zentralen Stellenwert einnimmt, etwa Fritz Riemanns Klassiker „Grundformen der Angst“ (1961) oder neuerdings Egon Fabians Habilitationsschrift über das nämliche Thema (2013). Auch steht sie bei einigen tiefenpsychologischen Theorien im Vordergrund, etwa als „Grundangst“ in der Neopsychoanalyse Karen Horneys oder als Wechselspiel zwischen dem „Minderwertigkeitsgefühl“ und dem „Streben nach Sicherheit“ in der Individualpsychologie Alfred Adlers. Doch dürfte Eisch-Angus gegenüber psychologischen Zugängen eine gewisse Skepsis hegen, versteht sie doch beispielsweise den Vulnerabilitätsbegriff als einen ideologischen, weil er auf „individualisierende Unterwerfung“ durch die „neuen Regime der Sicherheit“ hinauslaufe (566) und es bezeichnend sei, dass das „Paradigma der Resilienz“ mit seinem „Narrativ der solidarischen und widerständigen Gemeinschaft“ abgelöst worden sei durch das Narrativ des „psychisch geschädigten Opfer[s]“ (ebenda). Wenn man sich demgegenüber ein wenig mit der psychologischen Literatur zum Verhältnis von Resilienz und Vulnerabilität befasst, wird einem rasch deutlich, dass Eisch-Angus eine sehr einseitige Sicht vertritt, zumal gerade kritische Psychologen sich an einem Resilienz-Begriff stören, der im Sinne kapitalistischer Selbstoptimierung so tut, als könnten Widerstände jeglicher Art überwunden werden. Darüber hinaus weiß jeder, der als Psychotherapeut tätig ist, dass es Personen gibt, die vulnerabler sind als andere, und zwar vor allem deswegen, weil es in deren Kindheit zu schwerwiegenden Belastungen und zu seelischem Leid gekommen ist. Das alles abzutun, indem man es als bloßes Narrativ bezeichnet, ist ähnlich einseitig wie die unreflektierte Abwehr tiefenpsychologischen Wissens in Teilen breiter Schichten der Bevölkerung.

Auf der anderen Seite zeigt sich Eisch-Angus zwar aufgeschlossen gegenüber psychoanalytischen Zugängen, hat sie doch an der Tübinger Supervisionsgruppe für Feldforschende teilgenommen und bezieht sich dabei vor allem auf Georges Devereux, Mario Erdheim und Maya Nadig (62). Außerdem hat sie gemeinsam mit Jochen Bonz und anderen einen diesbezüglichen Sammelband herausgegeben („Ethnografie und Deutung“, 2017). Und dennoch: Sie spricht zwar von der eigenen Subjektivität und von der Wichtigkeit der Gegenübertragungsanalyse, doch erfährt man nur sehr wenig über sie selbst und ihre Motivationen, sich dem Thema zu nähern, anders als in klassischen ethnopsychoanalytischen Monografien.

Meines Erachtens hätte es jedoch für den Leser durchaus einen Erkenntniswert gehabt zu erfahren, von welchem subjektiven Standpunkt die Autorin ausgeht, nicht aus Gründen der Selbstbespiegelung, sondern um „gewissermaßen in einem Prozess der ‚Selbstobjektivierung‘ [...] seinen perspektivischen Standpunkt für andere transparent“ zu machen, weil Feldforschung nicht nur „eine kognitive Angelegenheit“ sei, „sondern auch eine sehr persönliche Erfahrung; emotionale Prozesse spielen in ihr eine wesentliche Rolle“ (Gerhard von Kutzschenbach: Feldforschung als subjektiver Prozess, 1982, S. 169) – wobei es vor allem Devereux ist, der auf den lebensgeschichtlichen Faktor bei jeder (Feld-)Forschung hinweist. Das hätte ich in dem Fall unter anderem deswegen für sinnvoll gehalten, weil die Perspektive, welche Eisch-Angus einnimmt, zwar eine mögliche und durchaus sinnvolle, aber auch eine einseitige ist: Ich bin nicht der Meinung, „dass alltägliche Kommunikation beständig zwischen Sicherheit und Unsicherheit changiert“ (14), denn die Menschen reden auch über andere Dinge, über freudige Erlebnisse zum Beispiel. Auch ist es einseitig zu behaupten, dass der „zentrale Auslöser von Gegenübertragungen [...] Angst oder Verunsicherung“ sei (90). Gegenübertragung manifestiert sich nämlich in ganz unterschiedlichen Stimmungen, Impulsen, Emotionen, und dazu zählt nicht allein die Angst, sondern es sind auch und genauso gut Mitleid, Freude, Liebe sowie Humor dabei. Nun kann man zwar argumentieren, dass auch bei anderen Emotionen Angst eine Rolle spielen mag, doch sollte man sich dann fragen, welche die dominierende ist.

Ferner könnte man sich überlegen, ob trotz gewisser Zuspitzungen in der Gegenwart – die Beispiele vor allem aus Großbritannien sprechen eine beredte Sprache – die Thematik nicht eine solche ist, welche auch für verflossene Zeiten und unter anderen Bedingungen, aber mit ähnlichen Machtstrukturen, bedeutsam war: Verunsicherung und Wunsch nach Sicherheit bedingen Selbstkontrolle und Kontrolle, doch diese existierten selbstverständlich auch in der Vormoderne, und zwar über sozialen beziehungsweise moralischen Druck. Dafür zuständige Instanzen waren vor allem die Kirche – das „Auge Gottes“ – oder die „Anderen“ – das „Dorfauge“ –, wie es Jeremias Gotthelf in einem seiner Romane formuliert („Leiden und Freuden eines Schulmeisters“, Teil 1, Ausgabe Erlenbach-Zürich 1978, S. 156). Man nahm das hin, weil man sich daran gewöhnt hatte, ähnlich wie sich Sisyphos daran gewöhnt hat, ständig einen Felsblock den Berg hinaufzuschleppen, der kurz vorm Gipfel wieder zurückrollt und von dem Camus sagt, er sei ein glücklicher Mensch. Das erscheint rätselhaft, aber möglicherweise erfordert die von Eisch-Angus kritisierte „Individualisierung und Subjektivierung“, die sich in Europa bis ins Zeitalter der Renaissance zurückverfolgen lässt, einen höheren Aufwand an Energie als alternative Gesellschaftsentwürfe – aber dafür erlaubt die Individualisierung und damit verbunden auch die psychologische beziehungsweise psychoanalytische Perspektive, sich bis zu einem gewissen Grad gegen Fremdbestimmung abzuschirmen.

Insgesamt betrachtet wirft die Arbeit aus meiner Sicht einerseits bestimmte Fragen auf, weil sie a) zu sehr die Angst als alles dominierendes Element betrachtet und darüber hinaus, obwohl es das Thema nahelegen würde, b) psychologische Aspekte vernachlässigt oder meines Erachtens zu einseitig betrachtet. Auf der anderen Seite handelt es sich um ein Werk, dass ich als Lektüre empfehlen würde: Das Buch behandelt a) ein wichtiges Thema, das bisher kaum untersucht wurde, und das sehr tiefschürfend. Und es hat b) quasi Lehrbuch-Charakter in Bezug auf die Frage, wie man Feldforschungstagebücher anlegt und ihre Inhalte interpretiert, wobei ergänzend hinzuzufügen ist, dass es zusätzlich einer stärkeren Reflexion des eigenen lebensgeschichtlichen Horizonts bedürfte, wenn man beansprucht, nach ethnopsychoanalytischer Methode vorzugehen. In Summe aber eine besondere Arbeit, an der man kaum vorbeigehen kann.