Aktuelle Rezensionen
Alex G.Papadopoulos/Aslı Duru (Hg.)
Landscapes of Music in Istanbul. A Cultural Politics of Place and Exclusion
(Urban Studies), Bielefeld 2017, transcript, 189 Seiten mit Abbildungen, zum Teil farbigRezensiert von Sebastian Gietl
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.10.2019
Alex G. Papadopoulos und Aslı Duru, die Herausgeber des vorliegenden Bandes sind beide Geographen. Ersterer lehrt als außerordentlicher Professor an der DePaul University in Chicago. Eines seiner Fachgebiete ist im Rahmen einer „Urban and political geography“ die urbane Raumaneignung, in deren Kontext auch diese Publikation entstand. Aslı Duru ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der „School of Geography and the Environment“ der University of Oxford. Ihr Fachgebiet sind die Materialisierung sowie Praktiken von Inklusion, Exklusion und das Wohlfühlen in Städten vor dem Hintergrund von wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen und in einer Gender-Perspektivierung.
Der vorliegende in englischer Sprache veröffentlichte Band sammelt interdisziplinäre Beiträge zu „Volksmusik“ und ihrer geografischen Verbreitung innerhalb der Stadt, der 20 Millionen Einwohner zählenden Weltmetropole Istanbul, die Europa und Asien sowie das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer verbindet. Dabei will sich der Band der Geschichte und dem kulturellen Erbe der Stadt über Musik- beziehungsweise Klanglandschaften annähern. Die Beiträge wurden herausgegeben und verfasst von einer Gruppe von Lehrenden aus dem türkischen und dem griechischen Kulturkreis. Dabei begibt sich der Band auf die Spuren der multikulturellen Vergangenheit der Stadt, die damit zusammenhängende religiös-ethnische Diversität, urbane Transformationsprozesse, soziale Zusammenhänge, Phasen des politischen Widerstands und neoliberale Entwicklungen. Im forscherischen Fokus stehen historische Volksmusiken wie Rembetika, Aşık oder Alevi und moderne Formen popularkulturellen Protests am Beispiel des Hip-Hop. Der Forschungshorizont umfasst die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zu den Gezi Park Protesten 2013 und damit Zeiten gewaltigen gesellschaftlichen Wandels in der Stadtgeschichte.
Wie Fariba Zarinebaf in ihrem Vorwort feststellt, war und ist die Musikproduktion eine wichtige „Dimension für das Stadtleben“. Istanbul war in vielen Phasen seiner Geschichte Sehnsuchtsort und Migrations-Destination in einem. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es sich zu einem Schmelztiegel nicht nur der Musikkulturen entwickelte. Ob Migranten von der iberischen Halbinsel, wie die sephardischen Juden, ob vom Balkan, aus Anatolien, den arabischen Ländern oder Afrika, die Einflüsse sind riesig. Dies führte über Jahrhunderte hinweg zu starken Fusions- und Diffusionsprozessen, die in den Palästen, den Sufi-Klöstern, Kirchen, Tavernen oder Kaffeehäusern stattfanden. Die Akteure waren, wie Fariba Zarinebaf feststellt, meist weibliche und männliche Mitglieder der Istanbuler Minderheiten (Griechen, Armenier, Juden). Griechen und Juden spielten eine gewichtige Rolle in Galata und Pera, den Bereichen der Stadt, die für Entertainment und Unterhaltung bekannt (und berüchtigt!) waren.
Die Bewohnerschaft Galatas setzte sich aus den ebengenannten Minderheiten der Stadt, aber auch aus Muslimen, Italienern und Angehörigen westeuropäischer Handelsunternehmen zusammen. Hier entstand etwas, das man heute wohl am besten mit „Hafenmilieu“ bezeichnen würde: Unterhaltungs- und Rotlichtviertel in einem. Wie sich aus der von Fariba Zarinebaf zitierten Reiseliteratur ergibt, muss man sich das Setting zur damaligen Zeit folgendermaßen vorstellen: Direkt am Hafen gab es einen Straßenzug mit griechischen Tavernen. In diesen bot man eine gute Auswahl regionaler Weine an, die sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen genossen wurden. Dort trafen feiernde Einwohner auf ankernde Schiffsbesatzungen und Musik wurde zum verbindenden Element.
Diese Szenerie stammt nicht etwas aus der Zeit gegen Ende des Osmanischen Reiches. Nein, diese dem Bericht des weltberühmten osmanischen Reisenden Evliya Çelebi (1611–1683) entnommene Schilderung, ist aus dem 17. Jahrhundert und dient als kleiner Blick hinter die Kulissen eines stark stereotyp verstellten Bildes der Stadt. Fariba Zarinebaf versucht zur besseren Fundierung der einzelnen Beiträge in ihrem Vorwort sehr geschickt ein „ethno-musikgeschichtliches Netz“ zu spannen, was ihr ganz außerordentlich gut gelingt. Sie gibt so den Leser*innen den benötigten Kontext mit auf den Weg, um die Einzelbeiträge besser verstehen und einordnen zu können.
Diese beschäftigen sich schlaglichtartig mit einem breiten Forschungsfeld, wie etwa Rembetiko als Inkarnation Istanbuler Stadtlandschaften oder Hip-Hop als Motor für Akkulturationsprozesse und Stadterneuerung. Im Beitrag „Gezi Park and Taksim Square as Musical Landscapes of Exclusion and Inclusion“ gelingt es Alex G. Papadopoulos, dem Hauptherausgeber und maßgeblichen Autor des Bandes, dies unter ganz unterschiedlichen Perspektivierungen sehr gut darzustellen und er schafft es, über das Beispiel „Musik“ ein Tor in die Entwicklungsgeschichte der Stadt zu öffnen, das fernab allgegenwärtiger Stereotypisierungen die historisch bedingte Zerrissenheit Istanbuls und damit verbundene alltägliche Aushandlungsprozesse greifbar(er) werden lässt. Unbedingt lesenswert!