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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Kurt Luger/Franz Rest (Hg.)

Alpenreisen. Erlebnis, Raumtransformationen, Imagination

(Tourismus: transkulturell & transdisziplinär 11), Innsbruck/Wien/Bozen 2017, StudienVerlag, 695 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Karlheinz Wöhler
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.10.2019

Der Sammelband umfasst 35 Beiträge, die in vier Kapitel unterteilt sind. Die beiden österreichischen Herausgeber nehmen einleitend „Eine Standortbestimmung mit Rück- und Fernblick“ der Alpenreisen und des Alpentourismus vor. Für beide sind die Alpen der Möglichkeit nach ein Resonanzraum in der beschleunigten Welt: Sie sprechen Reisende/Touristen zutiefst innerlich an; sie affizieren beziehungsweise berühren, ohne dass ein Gefühl der Fremdbestimmung aufkeimt. Subjekt und (Alpen-)Welt befinden sich in einem responsiven Beziehungsverhältnis. Diese mit Simmel und Rosa vorgenommene rückblickende Ortsbestimmung des leiblichen Erlebens der Alpen wird durch Kommerzialisierung, Industrialisierung und Infrastrukturalisierung brüchig. Anhand einer datenreichen Analyse des Zeitraums von 2002–2017 wird belegt, wie das touristische Erleben der Alpen nicht nur verdinglicht wird. Darüber hinaus führen die touristischen Praktiken der Alpenaneignung insbesondere während der Wintersaison dazu, dass Alpenlandschaften zu Techniklandschaften mutieren. Dadurch wird jeder entfernteste und höchste Ort („touristische Hinterbühne“) mit der Konsequenz erreichbar, dass die Alpen so sehr ökologisch belastet werden, dass sie nur noch in den Bildern der Werbung als Naturschönheit existieren. Erst wenn diese Entwicklung reflektiert und in das Bewusstsein der raumpolitisch Verantwortlichen gelangt, dann sehen Kurt Luger und Franz Rest in der Ferne eine Umkehr hin zu einem extensiven nachhaltigen Alpentourismus.

Im ersten Kapitel „Erlebnis erfahren – Höhe gewinnen – Berge überwinden“ wird wie in den folgenden Kapiteln der von Luger und Rest entworfene Rahmen beispielhaft untermauert und verfeinert. Ein wiedergegebenes Gespräch der beiden Herausgeber mit Kurt Diemberger, der auf eine sechzigjährige Bergsteigerkarriere zurückblicken kann (rund 30 Expeditionen zu den Hochgebirgen der Welt), demonstriert emblematisch, dass Bergsteigen körperlich und leiblich erlebt wird. Immerfort wird es von einem unsichtbaren Ungewissem begleitet, das aber nicht lähmt, sondern Antrieb ist, hinauf zum Gipfel zu gelangen und von dort abzusteigen. Diemberger fühlte sich zum Bergsteigen berufen. Einst spürte er, dass ihn Berge rufen und er antworte darauf damit, dass er immer wieder zu ihnen hinaufstieg. Wenngleich er dabei erfuhr, dass er weder über sie verfügen noch sie beherrschen kann, so erlebte er aber stets eine Selbstwirksamkeit: Berge zu meistern als durch Handeln Bewirktes und eigenen Anforderungen gerecht zu werden. In dem Gespräch hebt er immer seine soziale Eingebundenheit hervor. Ohne von seinen Nächsten und Seilpartnern akzeptiert und anerkannt zu werden – und dies wechselseitig –, hätte er nichts erreicht. Ein Lob spricht er insbesondere den Frauen aus, seien es Sherpani oder Frauen, die seine Bergtouren begleiteten. Ingrid Runggaldier zeichnet eine weibliche Alpingeschichte im langen 19. Jahrhundert analytisch nach. Diese Geschichte erfährt eine Einheit, indem der Kapiteltitel in vier programmatische Prozesse aufgeteilt wird. Statt „Berge überwinden“ verwendet Runggaldier „Distanzen überwinden“. Zum einen gemeint als ein Ausbrechen, um ein- und aufsteigen zu können, und zum anderen als Spuren hinterlassen; „Erlebnis erfahren“ meint das Bewusstsein eines eigenen Körpers und „Höhe gewinnen“ steht für Gipfel als Symbol weiblicher Emanzipation und die Hose ist ihre Wegbereiterin. Dieses analytische Werkzeug lässt sich gut und gerne auf das Frauenreisen in diesem Zeitraum anwenden. Die Pionierinnen des Bergsteigens mussten eine steinige horizontale Wegstrecke zurücklegen. Es ist das beständige Widersetzen gegen Heteronomien und somit das Streben, selbst zu entscheiden, was zu tun ist. Es ging also um Selbstbestimmung. Sie äußerte sich nicht zuletzt darin, dass sich die Bergsteigerinnen als Ursache ihrer körperlichen Leistungen erlebten. Verbunden ist damit eine Kompetenzerfahrung, das Gefühl, dass sie ebenfalls wie Männer den Anforderungen des Bergsteigens gerecht werden können. Die skeptische und moralisierende Öffentlichkeit kam mit der Zeit nicht umhin, ihnen Anerkennung zu zollen. Erklommene Gipfel erhielten einen nichtrepräsentationalen Inhalt, die Autorin sieht darin die Emanzipation der Alpinistinnen.

Touristen müssen nicht hohe Berge hinaufsteigen, um die Faszination der Alpen zu erleben beziehungsweise zu er‑fahren. Sie können fahren – auf Straßen mit dem Auto, mit Eisenbahnen und Seilbahnen. Auch damit gewinnt man an Höhe und überwindet Berge, vorausgesetzt Straßen und Trassen werden gebaut. Sie wurden gebaut. Sie brachten den Fortschritt in die Bergwelt. Diese Verkehrsinfrastrukturen waren und sind Bedingungen und Treiber sowie zugleich Lebensadern der nicht endenden touristischen Transformation des Alpenraumes. Sechs Beiträge des ersten Kapitels befassen sich mit der Geschichte und Gegenwart dieser Ingenieurisierung und Technisierung und damit Industrialisierung der Alpenwelt. Zusammen mit diesen Verkehrsinfrastrukturen sind Orte für den PKW-Verkehr erschlossen sowie mit Elektrizität, Wasser- und Kanalanschlüssen versorgt worden. Kurzum, die Alpenwelt trat in die Moderne ein. Schritt für Schritt wurde der Alpenraum touristifiziert. Der Alpenraum transformierte sich umfassend in einen Tourismusraum, der nicht zuletzt Einheimische im jeweiligen angestammten Ort hält. Eines belegen diese Beiträge: Ist einmal der Tourismuspfad verkehrsinfrastrukturell eingeschlagen worden, dann wird er ob der folgenden unterschiedlichen Anschlussinvestitionen nicht mehr verlassen. Er kann sich aber relaunchen beziehungsweise – wie es Martin Knoll für das Bundesland Salzburg ausmacht – politisch, wirtschaftlich, ökologisch und kulturell neu oder anders konfigurieren. So wird die Großglockner Hochalpenstraße als ein „Gesamtkunstwerk“ konfiguriert. Sie sei es wert – so der Beitrag von Bernd Paulowitz und Johannes Hörl, der sich auf das Nominierungsdossier bezieht – in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen zu werden. Ingenieurskunst und somit Technik erschlossen die alpine Natur- beziehungsweise Bergwelt, um den Menschen den Weg zu erleichtern. Solch eine Nobilitierung strebt die Schweiz nicht an. Gleichwohl – siehe Hanspeter Schneider – lobt sie 300 regionale Wanderrouten als „Kulturwege Schweiz“ aus. Fahren Touristen mit dem Auto an? Mit dem Fremdenverkehr, so hieß der Tourismus offiziell bis in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, kam der Automobilverkehr, das Verkehrsnetz für PKW. Bernd Kreuzer zeichnet diese Entwicklung beispielhaft an Straßen des Salzkammergutes, der Cote d’Azur und der Zentralschweiz nach. Katharina Scharf dokumentiert, wie das lokale Eisenbahnnetz im Bundesland Salzburg alpine Peripherien für den Fremdenverkehr erschloss. Kurt Wieser zählt auch die Seilbahnen zu den Verkehrsmitteln, ohne die kein Wintersport zu denken sei.

Insgesamt geben diese Beiträge einen kenntnisreichen und durchaus kritischen historischen Überblick über die infrastrukturellen Ermöglichungen des Alpentourismus. Sie veranschaulichen die von Werner Bätzing konzipierten sechs Entwicklungsphasen des Alpentourismus. Der Titel seines Beitrages im zweiten Kapitel lautet: „Orte guten Lebens. Visionen für einen Alpentourismus zwischen Wildnis und Freizeitpark.“ Gestützt auf beeindruckendes Zahlenwerk macht er den alpinen Freizeitpark in der Konzentration des Skitourismus aus. Diese Konzentration produziere stadtähnliche Ghettos, mache ihn von außeralpinen Kapitalgebern abhängig und führe trotz beziehungsweise gerade wegen des Klimawandels zu einer Beschleunigung der räumlichen Konzentration. Dem ist kaum etwas entgegenzuhalten. Für Bätzing sind die großflächigen Skigebiete quasi lost places. Ihnen kann aber mit der Realisierung dieser Visionen geholfen werden: Angebote und Nachfrage müssten tiefgreifend re-regionalisiert und wildwüchsig wachsenden ökologischen footprints Einhalt geboten werden. Demnach müsste ein umwelt-, ökonomie- und sozialverträglicher Tourismus implantiert werden. Bätzing hat auch schon eine Blaupause dafür: die Aufwertung eines nicht technischen Tourismus in vom gängigen Tourismus noch nicht kontaminierten Alpengemeinden. Dort ist die Modernisierung ausgeblieben. Einheimische leben von dem, was althergebrachte Wirtschaftsweisen und Handwerkstechniken hervorbringen. An diesem guten Leben könnten Touristen derart partizipieren, als darauf fußende kulinarische, kulturelle und gesundheitsfördernde Angebote entwickelt werden. Ohne sich mit anderen kohärenten Wirtschaftsaktivitäten anderswo zu vernetzen – so warnt Bätzing – gelinge dies ebenso wenig wie ohne aufgeschlossene einheimische Akteure.

Dass Bätzing seit ehedem unermüdlich empirische Tatsachen über den alpinen Zustand sprechen lässt, ist sein großes Verdienst. Diese alarmierende Faktenanhäufung sollte jedoch durch eine geeignete Theorie gemäßigt werden. Unbewusst liefert er mit seinem Entwicklungsphasenmodell des Alpentourismus eine Theorie: die Theorie der Pfadabhängigkeit. Wenn er periphere alpine Orte entlang des piemontesischen Wanderwegs „Grande Traversata delle Alpi/GTA“ mit einem nachhaltigen Tourismus wachschütteln will (und bereits aufgeweckt hat), dann entfacht er selbst die Pionierphase, in der, ihn zitierend, wenige Besucher „erstmals die Alpen als schöne Landschaft entdecken und beschreiben und so das Image vorbereiten, das anschließend große Besuchermassen in die Alpen zieht.“ Bätzings Ausloben ist ein „critical event“, das einen Entwicklungspfad generiert. Der Beitrag von Luisa Vogt im 3. Kapitel zeigt den jetzigen Entwicklungsstand der GTA auf. Sie befindet sich in den Anfängen der zweiten Phase. Schon wird eine Zunahme des (Berg-)Wander- beziehungsweise Trekkingtourismus gemeldet. Wird man später auch an eine Wachstumsgrenze wie in Tirol stoßen? Dort hat es einst auch so begonnen. Mit welchen Angeboten der Tourismus in Tirol wachsen soll, dies muss laut Arthur Schindelegger durch eine partizipative Raumplanung entschieden werden. Wie sie organisiert und institutionalisiert werden kann, dies dokumentieren Geli Salzmann und Sibylla Zech am Beispiel des Alpenrheintals (Land Vorarlberg). Unter dem Leitbild „vis!on rheintal“ haben lokale Politadministrationen, Privatwirtschaft und BürgerInnen wesentliche Leitplanken für die räumliche Entwicklung des Rheintals erstellt. Sie wurden vom Landtag und den 29 Gemeindevertretungen positiv entschieden, woraufhin sie von den jeweiligen Regierungsspitzen als Richtschnur ihres Handelns akzeptiert wurden – bis auf Weiteres, denn jede Festlegung ist Ergebnis eines zeitlich begrenzten Projekts. Die Zeiten ändern bisweilen vieles und daher ist man übereingekommen, später erneut so zu verfahren wie zuvor.

Davon kann die Internationale Alpenschutzkommission (CIPRA) bislang nur träumen. Zwar wurde eine Rahmenkonvention zum Alpenschutz unterzeichnet und es sind Protokolle und Deklarationen verfasst worden, doch Katharina Conradin und Christian Baumgartner bemängeln die nicht hinreichende Umsetzung von konkreten Projekten. Astrid Rössler und Renate Steinmann legen dar, dass die Novellierung des Salzburger Raumordnungsgesetzes sehr wohl Zielen der Alpenkonvention entspricht. Vielleicht kann ein professionelles Management, das unter der Ägide einer Private Public Partnership projektbezogen handelt, weiterhelfen? Für die UNESCO-Weltnaturerbe-Region Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch (SAJA) stellt Beat Ruppen fest, dass solch ein konfiguriertes Management angemessen und effektiv sei. Allein schon aufgrund der räumlichen Ausdehnung und der daraus resultierenden 23 Gemeinden und 20 Tourismusorganisationen hat das Welterbemanagement eine partizipative Entscheidungsstruktur, in die auch die einheimische Bevölkerung einbezogen wird. Das SAJA-Management verwaltet nicht nur, sondern es betreibt Hochgebirgs- und angewandte Forschung, unterhält ein Netzwerk mit anderen alpinen Welterbegebieten und Biosphärenreservaten und organisiert mit einem Studien- und Kongresszentrum Veranstaltungen. Insofern ist es für Engelbert Ruoss ein Benchmark für Großschutzgebiete. Er stellt einige nicht nur dar, sondern analysiert sie hinsichtlich der Strukturen ihrer Managementstrategien. Auf dieser Grundlage entwirft er ein Modell der Regionalentwicklung, das sowohl top down als auch bottom up und outside-in (externes Wissen, Projektfinanzierung, Investitionen) umfasst. Generell geht es dem Management von Großschutzgebieten insbesondere auch um Aufklärung der angereisten Besucher, das heißt der Bildung, dem Wissen und Lernen. Diese Aufgabe schreibt Bernd Euler-Rolle auch der Denkmalpflege zu. Sie sei auf historische Kulturlandschaften anzuwenden. Analog zum Naturschutz sind sie auch unter Schutz zu stellen.

Erhalt und Schutz der alpinen Natur- und Kulturwelt einerseits und der Lebenswelt der Einheimischen andererseits ist der rote Faden dieser Beiträge zur räumlichen Entwicklung der Alpen. In welchen Ordnungsrahmen die komplexen und daher kontingenten Sachverhalte und Interessen zur Geltung kommen sollen und/oder können, ist der gemeinsame Fokus, der demokratietheoretische und Governance-Fragen aufwirft. Eines ist überall die Ausgangsprämisse: So wie es ist, kann es nicht bleiben und daher muss eine neue Ordnung (Regeln und Prozeduren) her. Gerne hätte man erfahren, ob und wenn ja, wie sich nun die verschiedenen Akteure gegenüber einem status quo besserstellen und ihre Interessen gewahrt bleiben. Über ein Innehalten der tourismusräumlichen Entwicklung wird ebenso kein Wort verloren wie über Suffizienz. Es wird vielmehr dem Wachstum das Wort geredet: Der Erhalt und Schutz der alpinen Natur- und Kulturwelt stärkt und vermehrt die touristische Attraktivität des Alpenraumes. Damit schreiben die Autoren dieser Beiträge ungewollt an einem gemeinsamen Skript der fortschreitenden Touristifizierung. Dass nichts bleibt, wie es ist, dies lehrt im dritten Kapitel „Transformationen und Inwertsetzungen“ die Geschichte des eigenen Bauernhofes von Matthäus und Franz Rest in Dorfgastein. Ihr Beitrag ist eine Erzählung zum Wandel der bäuerlichen Welt. Indem sie das bäuerliche Leben ihrer Familie in einem historischen Meso- und Makrokontext verorten, können sie Bedingungen der Konstitution von vitalen Lebensräumen herausfiltern, in denen Familien wie die ihrige – pathetisch gesprochen – ihr Lebensglück entfaltet haben beziehungsweise zu entfalten versuchten. Hauptsächlich Almbauern und Almbäuerinnen wollten sie bleiben und daher passten sie sich dem jeweiligen En-vogue-Fortschritt an. Man begab sich auf einen Fortschrittspfad. Jede Veränderung (moderne Technik und Fremdenzimmervermietung) führte zeitweilig zu einem verbesserten Zustand. Heute befindet sich die Familie wieder am Ausgangspunkt. Gegen die gesellschaftliche, internationale und globale Fortschrittsdynamik könne man sich nicht mehr stemmen. Eine „neue Kleinbäuerlichkeit“, die einerseits das bewahrt, was man lokal besitzt und erzeugt sowie andererseits vorhandene Infrastrukturen nützt, sollte beziehungsweise könnte einen neuen Fortschrittspfad einschlagen: Eine Ausrichtung auf zahlungsbereite KonsumentInnen und Alpenreisende, die das nachfragen, was „vom Bauernhof“ herrührt. Mit solch einem Tourismus erhoffen sich die beiden Autoren Beständigkeit gegenüber den nach wie vor anhaltenden Umbrüchen. Man könnte dies auch als eine Reanimation durch den Tourismus bezeichnen.

Der Beitrag von Luisa Vogt lässt sich ebenfalls derart einordnen. Nach einer touristischen Krisenperiode der Grande Traversata delle Alpi sieht sie mit der bewusst ausgesuchten Zielgruppe der Trekkingreisenden die Wiederherstellung des einstigen natur-, sozial- und kulturangepassten Tourismus. So betrachtet, ermöglicht dieser Tourismus Resilienz. Regenerationsfähig sind, mit anderen Worten, die Weiler entlang der Traversata mittels des Tourismus. Und dies heißt nichts anderes, als dass der Erhalt der alpinen Natur und Kultur der Ökonomie unterordnet wird – der Tourismus gehört dem funktional ausdifferenzierten Wirtschaftssystem an. Muss denn erst der Tourismus kommen, um uns die Augen für die Alpen zu öffnen? Petrarca ist ohne touristische Anleitung auf den Mont Ventoux gewandert. Sein erfülltes Sehen und Glücklichsein hing nicht von touristischen Inwertsetzungen von Möglichkeiten ab. Es ist geradezu aristotelisch, wenn nahezu alles möglich Seiende zu wirklich Seiendem, sprich in touristischen Werken beziehungsweise Angeboten wirklich wird. Nicht nur der alpine Tourismus – er aber besonders angesichts der Winterlastigkeit – unterliegt diesem Seinsverständnis. Er übt einen Leistungsdruck aus und fordert zur permanenten Hervorbringung und Verwirklichung von Möglichkeiten. Dem Alpenraum werden viele Potentiale zugeschrieben – Potentiale in der kleinbäuerlichen Kultur, in der Kultur- und Naturlandschaft, in Regionalität, Lokalität, Authentizität und überall in der Nachhaltigkeit. Christina Pichler und Arnulf Hartl berichten über natürliche Heilressourcen, Patrick Kupper über Nationalparks, Helmut Eymannsberger und Klemens Kurtz über die Salzburger Festspiele und Thomas Antonietti über die Bräuche der Fastnachtsfiguren im Lötschental. In all diesen Dingen sind gewissermaßen verborgene Kräfte, die mit dem heilstiftenden Tourismus aktiviert beziehungsweise in Gang gebracht werden sollten.

Heil stiftet der Tourismus für die Wirtschaft und somit für die Beschäftigung. Dadurch wird die Politik zahlungsfähig für allerlei wohlfahrtsgenerierende Infrastrukturen. Christian Dirninger exemplifiziert dies anhand des Salzkammergutes. Zugleich zeigt er auf, mit welchen unterschiedlichen touristischen Inwertsetzungen sich das Salzkammergut ab Mitte des 19. Jahrhunderts attraktivierte und sich somit in eine Pfadabhängigkeit begab. Heute hängt diese Destination am Tropf des Tourismus. Empfanden Einheimische einst den Tourismus als eine feindliche Übernahme oder gar als Besatzungsmacht, so ist diese mentale Abwehrhaltung und Opferrolle seit den 1980er Jahren obsolet. Mit der Zeit werden die Menschen dort ebenso wie wir alle zu Gewohnheitsmenschen. Auch der Generationenwechsel könnte, so der Autor, im Spiel sein. Vor welchen Herausforderungen die heutige und allemal die künftige Generation im alpinen Tourismusgeschäft steht, das verdeutlicht Franz Hartl anhand einerseits der den Tourismus prägenden kleinen und mittleren Unternehmen (Hotellerie und Gastronomie) und andererseits der Seilbahnwirtschaft und den destinationalen Tourismusorganisationen. Wettbewerbsdruck, Klimawandel, Konzentration und Finanzierungsprobleme läuten eine neue Phase der Transformation ein. Ein Ausstieg aus dem Tourismusgeschäft ist schwerlich möglich – Investitionen verursachen einen Lock-in-Effekt. Ergo: the party must go on.

Eine wertvolle Unterstützung zum Verbleib leistet das touristische Destinationsmarketing. Leo Bauernberger und Gregor Matjan legen im vierten Kapitel „Emotionale/imaginäre Geographie – Raumwahrnehmungen“ dar, wie mit einem Crossmedia Tourismusmarketing versucht wird, offline und vor allem online potenzielle Gäste in das Salzburger Land und dort speziell zu den Angebotsbündeln beziehungsweise -gruppen „Almsommer“ und „Bauernherbst“ zu bewegen. Das gesamte digitale Arsenal wird zur Aufmerksamkeitslenkung auf diese beiden Gruppen hin eingesetzt. Sie verkörpern für die Autoren noch Natürlichkeit und Unberührtheit und damit einen Konterpart zur Touristifizierung von Räumen. Wie bitte?! Das ist eine pure Touristifizierung, zumal im „Almsommer“ und „Bauernherbst“ die Möglichkeit der Parzellierung in zum Beispiel Almabtrieb, Almenweg, Paragleiten, Küche, Bräuche oder Handwerk ausgemacht wird. Dass das destinationale Tourismusmarketing auf InfluencerInnen, StorytellerInnen, Testimonials und Tracking Tools zum Zweck der Aufklärung angehender BesucherInnen zugreift, wird quasi altruistisch legitimiert: Potenzielle Besucher könnten aufgrund der dermaßen vermittelten Informationen ihren temporären Aufenthalt individuell gestalten und ihre tieferliegenden Bedürfnisse befriedigen. Das unternehmerische Selbst findet demnach seine Fortsetzung im Urlaub! Mittels der digitalen Flut von Texten und vor allem von Bildern kann man sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von fernen Räumen und Orten machen und Gewissheit erlangen, dass es dort in der alpinen Ferne wirklich so ist, wie es etwa werblich und sozialmedial ausgelobt wird. Gleichwohl gilt: Im Gegensatz zu einer Hose oder einem PKW kann zum Beispiel ein Salzburgbesuch nicht vorab zu Hause getestet und geprüft werden. Die Reise ist vielmehr ein Erfahrungsgut. Erst im Dortsein ist eine Verifikation möglich. Wenn keine Reise ins Blaue ansteht, dann bleibt nichts anderes übrig als eine mediale Vermittlung des Reiseziels. Erich Marx dokumentiert, wie Salzburg in der Romantik durch Reisen von J. M. Sattler zum Reiseziel wurde: Sattler hat ein Salzburg-Panorama angefertigt, mit dem er Europa bereiste. Weil der Maler höchstpersönlich sein Panoramagemälde präsentierte, bekam sein Rundbild eine unmittelbare Verifikation. Heutzutage würden Touristen auf einer Anhöhe stehen und ein Selfie in die Instagram-Welt schicken – das Selfiestöckchen in der Hand und im Rücken das Salzburg-Panorama als Kulisse.

Sattler machte sich, so Marx, als erster Fremdenverkehrswerber für Salzburg verdient. Dieses Verdienst kommt seit den 1890er Jahren auch den Plakaten zu. Was in Plakaten abgebildet wird, spiegelt nach Wolfgang Kos den jeweiligen Zeitgeist beziehungsweise das „zeittypische Feeling“ wider. Das auf Fremdenverkehrsplakaten Abgebildete – etwa sportiv vergnügte Urlauber, Seilbahnen, Hotels mit Außenterrasse, Folklore, genügsame Einheimische, faszinierende Bergpanoramen – wurde zur Vorlage immer weiterer Alpenregionen und -orte. Marx bezeichnet diesen Prozess als eine „nationale Symbolbewirtschaftung“ des alpinen Kleinstaates. Ab 1945 setzte eine „Verkleinerung der Alpen“ insofern ein, als Plakate primär das Skivergnügen repräsentierten und so einen „Stimmungsraum“ als zu vermarktenden Pullfaktor schufen. Die Dolomitenregionen verdanken – dies weist Martin Kofler nach – ihre touristische Geburt und damit Attraktivität vornehmlich der Fotografie beziehungsweise den Lichtbildern, die durch Postkarten eine massenhafte Verbreitung fanden. „Ich war hier“ konnte der herbeigereiste Tourist mit und/oder ohne ein Kreuz den zuhause gebliebenen mitteilen. Michael J. Greger geht noch einen Schritt weiter, indem er der Versendung einer Ansichtskarte (beispielhaft aus dem Salzkammergut) die Funktionen des Grußes, der temporären Visitenkarte und der Wertschätzung der Adressaten zuschreibt. Greger sieht in den vielseitigen digitalen Möglichkeiten der Vermittlung von Ansichten eines Raumes eine scharfe Konkurrenz zur klassischen Ansichtskarte. Der Rezensent konnte beobachten, wie Touristen mit ihren Smartphones Ansichtskarten fotografierten und diese postwendend posteten. Welche Umbrüche und Veränderungen alpine Räume bis dato durchmachten, vermitteln in Museen präsentierte künstlerische Fotografien von Bergen. Insbesondere ihre chronologische Abfolge eröffnet – so Martin Hochleitner – neue Blicke auf Natur und Landschaft und zugleich sensibilisieren sie für ökologische, historische, politische, soziale und kulturelle Fragen; zu ergänzen ist: auch für ökonomische und Wahrnehmungsfragen. Kurt Luger und Manfred Schweigkofler richten diese Fragen an alpine Berge. Antworten darauf finden sich in der Konzeptionalisierung eines Museums für Bergfotografie auf dem Kronplatz im Südtiroler Pustertal wieder – einem Standort mit dem Welterbe Dolomiten vor der Tür. Mit der medial präsentierten und didaktisch aufbereiteten Bergwelt sollen Besucher indoor für die nicht erreichbare Outdoor-Welt der Dolomiten nicht nur entschädigt werden, sondern „vielleicht ein klareres Bild von der Größe einer Landschaft [bekommen], die zu Recht als Welterbe ausgezeichnet wurde“ (635). Rechnen sich die Investitionen in solch ein Museum? Ja, sagen die beiden Autoren. Das Pustertal würde ohnehin von Touristen stark nachgefragt, die ihre „Vorstellungen von der Sehnsuchtsdestination Dolomiten“ mitbrächten. Zudem könne das Museum vom Klimawandel profitieren: statt Skitourismus nun saisonunabhängig Welterbevermittlung. Österreich ist eben mehr als nur Wiener Schnitzel und Skipisten.

Wie uns die TV-Medien lehren, ist Österreich überdies ein in lokale Traditionen eingebettetes Land der volkstümlichen Musik. Thomas Nußbaumer kommt nicht umhin, ihr eine touristische und damit ökonomische Relevanz zu bescheinigen und begrüßt, dass ein Tourismusverband mit „alten“ und „neuen“ volkstümlichen Musikbündeln aufwartet. Dadurch entstehe ein mehrschichtiges Bild der „musikalischen Identität“ des Gastlandes. Die „neue“ Volksmusik (vgl. etwa Hubert von Goisern) verwünsche die „alte“ gar nicht, sie integriere sie und erhalte sie auf eine andere Weise.

Kann ein ökologischer Umbau traditionelle alpine Kulturlandschaften, also Althergebrachtes wie insbesondere die sie hervorbringende und erhaltende Land- und Waldwirtschaft, bewahren, fragen sich Dominik Siegrist, Christian Baumgartner und Harry Spiess unter Einbeziehung der Wirksamkeit des Tourismus. Um Antworten zu finden machten sich 1992 (TransALPedes-Projekt) und 2017 (whatsalp) jeweils Gruppen, zu denen auch zwei Autoren dieses Beitrages zählten, auf den alpinen themenorientierten Wanderweitweg von Wien nach Nizza. „Whatsalp“ wohl deshalb, weil eruiert werden sollte, was sich nach 25 Jahren um den Weg herum ökologisch und ökonomisch verändert hat. Bei den Themen Verkehr, Energie, Land- und Forstwirtschaft sowie Tourismus stellten sie Licht und Schatten fest: Eine auf Nachhaltigkeit angelegte Entwicklung ist ebenso unübersehbar wie negative Landschaftsveränderungen, die u. a. durch touristische Großprojekte und neue Alpensportarten verursacht worden sind. Sie entdeckten eine Reihe alternativer Tourismusprojekte. Orten und Gasthäusern schreiben sie eine Klientel zu, die den Massentourismus meidet und aufgrund von Bedürfnissen nach Entspannung in einer und dem Erleben von einer attraktiven, vielfältigen Natur- und Kulturlandschaft dort gelandet sei. Sie wird nicht exklusiv bleiben. Denn gelobt werden eine „qualitativ hochwertige Wander- und Reiseliteratur“ (654) und Destinationen mit ausgebauten Langsamverkehrsangeboten, von Wanderwegen über Winterwanderwege bis hin zu Routen für das Velofahren und Mountainbiken. Neues, auch technisch Neues soll also Altes zu bewahren helfen und nicht verdrängen. Zur Erinnerung: In den vorherigen Kapiteln ist allesamt von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der touristischen Entwicklung der Alpen die Rede; einer Entwicklung, die auf technologisch basierten Infrastrukturen sowie Planungs- und Managementtechniken beruhte und beruht. Zu Beginn wollte niemand Altes verdrängen. Doch, entsprechend der Bätzingschen Pionierphase des Alpentourismus, relativ wenige Besucher verbreiteten ein Image, das große Besuchergruppen in die Alpen zog und diese nach und nach verwandelte, wenn nicht gar zerstörte. Diesen negativen externen Effekt hat bekanntermaßen Hans Magnus Enzensberger bereits vor sechzig Jahren prognostiziert. Die neuen bzw. sich von gemeinen TouristInnen abgrenzenden alpinen WeitwanderInnen werden – dies bezeugen die Autoren aufgrund ihrer eigenen Selbsterfahrung – dann reflexiv, wenn sie im mentalen Gepäck als Thema die Geschichte und die erlebte Aktualität der Alpenlandschaften mittragen, um daraus „wichtige Schlussfolgerungen“ für die Zukunft abzuleiten (657). Wie sie sich offenbart, haben die Autoren qua eigenem Erleben und Wahrnehmen schon einmal vorab imaginiert: Über eine geistige und körperlich langsame Wanderbewegung wird der alpine Natur- und Kulturraum erschlossen und zu einem „prägenden Erlebnis“. Bernhard Tschofen konstatiert zu Recht, dass all dies ohnehin geschieht, dass also beim Bewegen nicht nur der Körper erfahren wird, sondern auch etwas (die alpine Landschaft) als etwas erlebt wird: atemberaubend, faszinierend, wunderschön, einmalig etc. Ohne pädagogisch-paternalistisch angeleitet zu werden, werden Tschofen zufolge jedwede alpinen TouristInnen von der je gegebenen Alpenrealität, in die eine unhintergehbare mediale, technologische, ökonomische und sozialkulturelle Geschichte eingeschrieben ist, affiziert. Ob und wenn ja inwieweit diese Geschichte im gesellschaftlichen Wissens- und damit Vorstellungsvorrat persistiert, ist für ihn eine noch nicht genügend erforschte kulturwissenschaftliche Frage. Empirisch kann man dem z. B. in den sozialen Medien auf die Spur kommen, in denen Tschofen einen Fundus für eine entsprechende Analyse sieht, die nicht zuletzt auch eine „sentiment analysis“ ist. Das Gestimmtsein dermaßen zu erfassen, läuft – dies ist anzumerken – zu guter Letzt auf eine nicht-repräsentationale Alpenwirklichkeit hinaus.

Tschofen trifft einen Punkt, der in diesem Kapitel zu kurz kommt: Was und wer bewegt Menschen heutzutage zeitweilig die Alpen aufzusuchen und von was werden sie dort wie bewegt. Diese Fragen bleiben bis auf den geschilderten touristischen Selbstversuch von Siegrist/Baumgartner/Spiess unbeantwortet. Es fehlen empirische Daten zu Erfahrungen bzw. Erlebnissen, die Touristen in/mit der alpinen Natur- und Kulturlandschaft, den Wirten und Gasthäusern gemacht haben. Sicherlich, die anderen Autoren könnten allesamt über ihre eigenen Erlebnisse berichten und unterschwellig geschieht dies auch. Sie schreiben den unterschiedlichen Alpenlandschaften die Eigenschaft der unablässigen Hervorbringung höchster Emotionen zu. Infolgedessen gehen sie davon aus, dass Alpentouristen von einem überzeitlichen und selbstverständlichen „Alpen-Sein“ angezogen werden und huldigen damit einem Seinsglauben, den sie auch bei TouristInnen vermuten. Die Funktion der Alpen als Tourismusraum wird daher von keinem Beitrag infrage gestellt.

Es ist der unschätzbare Wert dieses Sammelbandes, dass man auf eine Zeitreise mitgenommen wird. Sie dokumentiert zum einen die ungebrochene Attraktivität der Alpenbergwelt; zum anderen erfährt man, wie die Transformation des Alpenraumes verlaufen ist und sich dabei immer wieder andersartige Möglichkeitsräume für den Tourismus eröffneten und weiterhin eröffnen. Das medial vermittelte Image der Alpen musste sich dementsprechend anpassen. Der alpine touristische Möglichkeitsraum kennt heutzutage kaum Grenzen. In die Behälter Winter- und Sommertourismus, ganzjähriger bzw. saisonunabhängiger Tourismus und nachhaltiger Tourismus wird zum Bestehenden all dasjenige gefüllt, was außerhalb der Alpen auch „geht“ bzw. marktgängig ist und im Trend liegt. Ein augenfälliges Museum oben auf dem Berg? Wird gemacht! Vielleicht noch eine Wellnessoase? Kein Problem! Events allerorten und zu jeder Zeit? Ist schon da, alle möglichen Eventthemen sind noch nicht ausgeschöpft; da müssen wir kreativer und innovativer werden! Abgelegene Orte umweltverträglich („langsam“) zugänglich machen? Selbstverständlich! Solche und viele andere Möglichkeiten strukturieren Praktiken, die in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft – von Letzterer ist im Sammelband außer bei Rest/Rest expressiv verbis nichts zu hören bzw. zu lesen – vollzogen werden. Diese Praktiken befinden sich – und dies verdeutlich der Sammelband ausgezeichnet – in Wechselbeziehungen zu vorgängigen Strukturen, Infrastrukturen und Imaginationen. Transformieren sich Alpenräume unter dieser Erblast in Richtung Nachhaltigkeit? Schon, so ist die Quintessenz meiner Lektüre: Über das ökonomische Wachstum und damit verbunden über eine fortschreitenden Touristifizierung lässt sich Nachhaltigkeit realisieren. Bätzing sieht dies genau umgekehrt: Ökonomisches Wachstum ist schlechthin das Hindernis für Nachhaltigkeit. Insofern regt dieser Sammelband einen Diskurs an.